Horst Neisser

Centratur - zwei Bände in einer Edition


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geirrt hatte. Nicht die Sonne, die der Nacht weicht, war dargestellt, sondern der Zeitpunkt des Sonnenaufgangs. Auch Akandra reckte sich, gähnte und rieb sich die Augen. Helles Licht fiel durch die runden Fenster des Zimmers. In der Ecke standen eine Schüssel und ein Krug mit Wasser. Dort wuschen sie sich. Auf dem Tisch fanden sie eine Kanne mit dampfendem Tee, Brot, Butter und Früchten. Ausgehungert ließen sie sich das Frühstück schmecken. Als sie sich endlich satt zurücklehnten, öffnete sich die Tür, und zwei Frauen traten herein.

      „Mutter?" riefen die jungen Leute gleichzeitig.

      Die Frauen lächelten nur, nahmen sie an der Hand und führten sie zurück in die hohe Halle. Dort waren zwei bequeme Stühle für sie bereitgestellt. Wieder bildeten die Alten einen Halbkreis um ihre jungen Gäste. Die alten Frauen und Männer sprachen abwechselnd, aber wie mit einer Stimme.

      „Nun ist die Zeit für Fragen und die Zeit für Erklärungen. Stellt nicht zu viele Fragen, aber stellt die richtigen."

      Sofort fragte Akandra: „Wer seid Ihr? Ihr seht aus wie unsere Eltern, aber ihr seid es nicht."

      „Ich bin eure Eltern, und ich bin es nicht. Ich bin alle und keiner."

      „So nennt wenigstens Eure Namen!" forderte Marc.

      „Ich habe keine Namen mehr."

      „Hattet ihr einmal Namen?"

      „Alles wurde einmal benannt."

      „Wenn schon jeder einzelne von euch keinen Namen hat, wie heißt ihr alle zusammen?"

      „Ich bin der oder die Ältere."

      „Was ist eure Aufgabe?" wollte Akandra wissen.

      „Ich bin! Und ich wache!"

      „Seid ihr mächtig?"

      „Was ist das, Macht?"

      „Könnt ihr uns, die wir da oben leben, helfen?"

      „Ja und nein. Ihr seid hier, weil wir helfen und ihr werdet gehen, weil wir nicht helfen können."

      „Ihr sprecht in Rätseln“, rief Marc ärgerlich.

      „Ich sage die Wahrheit. Sie klingt immer rätselhaft. Klar erscheint meist nur die Dummheit, die Halbwahrheit oder die Lüge."

      „Ich verstehe nichts“, Marc klang ungehalten.

      „Ruhig, mein Junge! Es gibt keinen Grund für Ärger. Ich werde von der Vergangenheit erzählen, dann werdet ihr mehr verstehen.

      Ich bin schon sehr lange in der Welt und habe alles gesehen. Bevor ich kam, war alles Leben im Wasser. Später verließen die Geschöpfe die Ozeane. Die Pflanzen und Tiere trennten sich und wurden verschieden. Dann wurden aus kleinen Lebewesen große, und das Zeitalter der schrecklichen Echsen begann. Nichts war vor ihnen sicher. Manche waren groß wie Berge und fraßen ganze Landstriche kahl. Andere wiederum waren blutgierige Räuber, die alles zerfleischten, was sie zwischen ihre spitzen Zähne bekamen. Es schien, als würden diese Bestien auf immer die Welt beherrschen. Doch nichts ist ewig. Irgendwann überwand die Erde diese Tyrannei, und die Echsen starben aus. Nun war endlich Platz für neue Tiere. Land und Meer wurden überschwemmt von neuen Arten. Dies war der Zeitpunkt, zu dem auch ich geschaffen wurde.

      Zuerst war ich nur eine, dann wurde ich viele. Ich wanderte durch die Welt und befruchtete sie. Jahrhunderte war ich nur mit Zeugen beschäftigt. Überall sprossen Kinder von mir empor. Sie waren zuerst noch unvollkommen, hatten lange Arme, mit denen sie sich auf dem Boden abstützten. Auch ihr Gemüt war von schlichter Natur. Doch mit der Zeit wurden meine Kinder vollkommener und klüger. Sie lernten es, Werkzeuge zu schaffen, das Feuer zu zähmen, Häuser zu bauen und den Boden zu bestellen.

      Aber einige meiner Nachkommen verbündeten sich mit bösen Mächten, weil sie sich davon Vorteile erhofften. Ich war verzweifelt und versuchte, sie zu warnen, zurückzuhalten. Sie hörten nicht auf mich. Sie begannen, Kriege zu führen und ohne Not zu töten. Am Ende bedrohten sie sogar mich, ihre Eltern. Deshalb schuf ich mir dieses Refugium tief im Herzen der Erde.

      Damals gab es den Wilden Wald dort oben noch nicht. Nur ein paar Bäume wuchsen, die mein Sohn ROM pflegte. Das Tor oben stand zu dieser Zeit noch für jedermann offen, und die große Treppe war hell erleuchtet. Ihre Stufen waren zu dieser Zeit niemals leer. Ströme von Menschen, Achajern und anderen Geschöpfen wanderten die Treppe nach unten und nach oben. Sie, die zu mir kamen, hatten noch keine Angst vor dem Fall in die Tiefe. Diese Angst entstand erst, als ihr Geist sich verdunkelte, und sie deshalb an sich selbst zweifeln mussten. Damals herrschte Selbstvertrauen, und der Weg über die Treppe war ein Fest. Meine Kinder waren viele Tage und Wochen unterwegs, und wenn sie die Stufen hinauf- und hinunterstiegen, so sangen sie und waren fröhlich. Am Rand der Treppe, das konntet ihr nicht sehen, gibt es Möglichkeiten, um zu rasten. Dort konnte man sich erquicken und schlafen. Alle, die sich dem Bösen noch nicht verschrieben hatten, gingen im Lauf ihres Lebens mindestens einmal über die Treppe. Sie kamen zu mir, zu Mutter und Vater. Wenn man nämlich zur Erkenntnis über sich selbst gelangen will, muss man zu den Ursprüngen zurück. Ich habe mich über jedes Kind gefreut, das mich besucht hat. Sie bekamen von mir alles, was ich hatte, und sie brachten mir Geschenke, die ich noch heute hüte.

      Derweil wuchs der Wald unter der Fürsorge von ROM. Damals waren die Bäume noch nicht böse und verbittert. Sie ließen prächtige Wege für meine Besucher offen und nährten sie. Doch in den Jahrhunderten nahm die Macht des Bösen zu. Sie schlug immer mehr von meinen Kindern in ihren Bann. Dies ging langsam und schleichend vor sich. Doch damit die Geschöpfe der Welt der finsteren Macht völlig ausgeliefert waren, mussten sie ihre Herkunft vergessen. Erst wenn meine Nachkommen nichts mehr von mir wussten, hatten meine Gegner ihr Ziel erreicht. Schließlich war das Furchtbare vollbracht, meine Kinder hatten mich vergessen. Sie waren damit verloren und wussten es nicht.

      Die Besuche bei mir wurden immer seltener. Ich blieb allein zurück. Das Licht auf der großen Treppe erlosch. Zwischen dem Wilden Wald und den Menschen brach Feindschaft aus. Die Bäume sollten nun gegen deren Willen genutzt werden. Das bedeutete Rodung, Ausbeutung, Versklavung, und schließlich Vernichtung. Die Menschen gingen auch mit sich selbst nicht freundlich um und noch weniger mit den Bäumen. So wie der Mensch im anderen Menschen nur noch ein Ding sah, das ihm nützlich oder weniger nützlich sein konnte, so sah er in den Bäumen keine Lebewesen mehr, sondern nur noch Bau- oder Brennholz. ROM und sein Wald begannen sich zur Wehr zu setzen, und sie haben mit meiner Unterstützung den Kampf bis jetzt gewonnen. Seit damals schützt der Wilde Wald auch den Zugang zu mir. Nur sehr selten, alle paar Jahrhunderte einmal, lässt ROM jemand zu dem Tor vordringen. Ihr gehört zu den Wenigen, die der Wald seit langer Zeit akzeptiert hat.

      Aber wenn ihr glaubt, dass ich, seit ich in Vergessenheit geraten bin, geruht hätte, so irrt ihr euch. Viele meiner Teile sandte ich immer wieder in die Welt, in der Hoffnung etwas zu retten. Leider bewirkten sie nur wenig und starben. Dadurch wurde ich schwächer und nahm mehr und mehr ab. Zwar bin ich nach euren Maßstäben noch immer mächtig und kann so manches Geschick im Verborgenen lenken. Aber den eingeschlagenen Weg meiner Kinder kann ich nicht korrigieren. Ich kann ihnen nicht mehr helfen, sie nicht vor dem Bösen retten. Einer ist heute des anderen Feind. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie mich dieser Kampf, diese Bosheiten, diese Gemeinheiten unter meinen Kindern erbittern und quälen."

      „Ihr resigniert also? Ist das der Grund, warum ihr nicht eingreift, um das Böse auf Erden zu verhindert? Soll das etwa die Erklärung dafür sein, warum ihr zulasst, dass brave Erits abgeschlachtet werden?" Marc hatte mit scharfem Ton in der Stimme gefragt.

      Sofort fiel ihm Akandra ungehalten ins Wort: „Fängst du schon wieder an? Hat dir der Streit mit ROM nicht gereicht? Immer suchst du nach Mächten, die ihre schützende Hand über dich halten sollen. Und wenn sie nicht so wollen, wie du es erwartest, machst du ihnen Vorwürfe. Unsere Probleme müssen wir zu allererst selbst lösen. Wenn uns dabei jemand unterstützt, so ist dies hilfreich, aber wir können es nicht einklagen. Du bist wie ein Kind, das von seinen Eltern ständig fordert, ihm die Steine aus dem Weg zu räumen. Wir Erits müssen endlich erwachsen werden!"

      „Es gibt Probleme, die können wir nicht alleine bewältigen." Auch Marc war nun wütend.