Horst Neisser

Centratur - zwei Bände in einer Edition


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gewöhnten Augen reichte sie aus, um alles um sie herum wahrzunehmen. Hoch über sich erkannten sie die Decke und rechts und links, weit entfernt, die Seitentreppen. Von Stunde zu Stunde wurde das Licht heller und heller. Sie wandten sich einander zu. Zwei bleiche, hohlwangige Gestalten starrten sich an und erschraken über ihren Anblick. Die Stufen der Treppe glänzten so hell, als wären sie aus Marmor, und als das Licht greller wurde, spiegelte es sich auf ihnen und blendeten die Besucher. Das Licht strahlte aus zwei nebeneinanderstehenden Säulen.

      Endlich nach Tagen, Wochen oder Jahren erreichten die Erits die letzte Stufe der langen Treppe. Das Material, auf dem sie nun standen, war das gleiche, wie das der Stufen: weiß und glänzend und unglaublich hart. Zögernd gingen sie auf die Säulen zu. Das Licht, das ihnen entgegen quoll, war so hell, dass sie die Augen zusammenkneifen und mit den Händen schützen mussten. Quer vor den Säulen sahen sie einen roten Strich auf der Erde. Das Rot leuchtete, und der weiße Boden dahinter leuchtete auch. Vorsichtig überschritten Akandra und Marc die rote Linie und zuckten sofort entsetzt zurück. Eine furchtbare Stimme hatte in ihrem Kopf gedonnert: „Weicht zurück!"

      „Hast du das gehört?" stammelte das Mädchen.

      Der Junge nickte verschüchtert.

      „Was nun? Wir müssen weiter!"

      Sie nahm ihren Begleiter an der Hand und überschritt entschlossen erneut die rote Linie. Wieder donnerte die Stimme: „Weicht zurück!"

      Gleichzeitig krampften sich ihre beiden Körper unter einem heftigen Schmerz zusammen. Es war, als würden alle Nerven gleichzeitig geschunden. Marc heulte auf, riss sich los und rannte zurück zur Treppe. Akandra folgte ihm. Auf der untersten Stufe ließen sich beide gequält nieder, bis der Schmerz nachließ. Ihre Gesichter waren tränennass.

      „Dahin gehe ich nicht mehr“, stammelte Marc. „Das halte ich nicht noch einmal aus."

      Er begann auf mit Händen und Füßen langsam und wie verloren die Treppe hinauf zu kriechen. Akandra eilte ihm nach. Sie hielt ihn fest und umarmte ihn.

      „Lieber“, sagte sie, „wir müssen dort hindurch. Wir werden auch das durchstehen. Alle Schmerzen gehen einmal vorüber, und sei es durch den Tod."

      „Nein!" antwortete er und barg sein Gesicht an ihrer Brust. „Ich bin zu feige. Lieber will ich auf der Treppe sterben."

      „Lieber“, wiederholte sie, „du bist nicht feige. Der Schmerz ist wirklich fürchterlich. Aber gemeinsam können wir ihn ertragen. Wir haben keine andere Wahl."

      Marc nickte tapfer und folgte geduckt dem Mädchen, so als erwartete er jeden Augenblick neue Schläge. Langsam und furchtsam schritten sie auf die rote Linie zu. Akandra überquerte sie ohne Innehalten und schrie auf. Auch Marc hob ein Bein, blieb dann aber stehen. Seine Muskeln waren gelähmt, sein Körper unterwarf sich seinem Geist nicht mehr. Akandra blickte sich um und eilte zurück. Sie ergriff seine ausgestreckte Hand und zog ihn in das Leiden. Sofort peitschte der Schmerz auf ihn ein, und die Stimme brüllte in seinem Kopf: „Weicht zurück! Ihr seid im Licht, und das Licht wird euch verwandeln. Weicht zurück!"

      Schritt für Schritt, sich gegen ein unsichtbares Hindernis stemmend, quälten sie sich auf das Lichttor zu, bis sie zusammenbrachen. Akandra gab nicht auf und kroch weiter. Schon hatte sich halb zwischen den Säulen hindurch geschleppt, da bemerkte sie, dass ihr Begleiter draußen geblieben war. Halb von Sinnen kämpfte sie sich zu ihm zurück, fasste seine Hand und zog ihn, der sich ohnmächtig in Schmerzen wandte, mit sich. Er versuchte, sie zu unterstützen. Seine Füße glitten kraft- und haltlos über den glatten Boden. Zoll um Zoll näherten sie sich unter unsäglichen Anstrengungen und Leiden dem Ziel. Die Stimme war so unerträglich laut, dass ihnen die Augen aus den Höhlungen traten. Zu dem Schrei in ihrem Kopf und dem Schmerz gesellte sich nun auch noch das Trommeln, das sie schon kannten. Ein nicht enden wollender Paukenwirbel warf ihre Leiber in Zuckungen hin und her.

      Die Kräfte Akandras schienen unerschöpflich. Trotz aller Pein gab sie nicht auf. Sie schleppte sich und Marc durch das Tor. Schlagartig verstummten die Stimme und das Trommeln und das Licht wurde schwächer. Die Schmerzen verebbten. Sie blieben liegen, wo sie waren, und verfielen in einen erschöpften Dämmerzustand.

       Die Älteren

      Lange lagen sie so ohne Bewusstsein. Es schien, als wollte es ihnen fernbleiben, damit sie nicht an die überstandene Tortur erinnert würden. Endlich nahmen die durchgestandenen Qualen die Form eines bösen Traumes an, und sie konnten es wagen, die Augen zu öffnen und ihre Köpfe vorsichtig zu heben.

      „Ich glaube, wir haben es geschafft“, flüsterte Akandra.

      „Du hast es geschafft“, berichtigte sie Marc.

      „Wir sind beide hier, das allein zählt."

      Gedämpftes Licht, das den Augen wohltat, dessen Ursprung sie aber nicht erkennen konnten, erleuchtete einen kreisrunden Raum, aus dem sieben Türen abzweigten. Eine Flöte spielte eine einfache, aber wundersame Melodie. Sie war so schön, dass es den Erits bei ihrem Klang wohl wurde. Sie ließ die überstandenen Schmerzen und Leiden verheilen. Die Töne drangen aus der mittleren Tür. Ohne nachzudenken gingen sie darauf zu und öffneten sie.

      Ein Saal mit einem spitz zulaufenden Gewölbe tat sich auf. Aus hohen Säulen wuchsen schlanke Rippen. Sie trugen die Decke. Die Säulenkapitelle waren als Blumenornamente geformt. Durch spitzbogige Fenster an beiden Seiten der Halle flutete Licht. Dennoch brannten Kerzen auf eisernen Leuchtern, die im Kreis aufgestellt waren. Dort saßen sechs Leute ganz aufrecht auf Stühlen mit hohen Lehnen. Ruhig betrachteten sie die jungen Leute.

      „Mutter“, sagte Akandra erstaunt.

      „Mutter, du hier?" rief Marc.

      „Vater, wo kommst du her?" die junge Frau war ganz aufgeregt.

      Auch der junge Erit sah seinen Vater. Die beiden wollten auf die vertrauten Eltern zugehen, sich ihnen zu Füßen werfen, aber sie wurden von einer unsichtbaren Kraft zurückgehalten. Eine Stimme, die von allen sechs Personen gleichzeitig kam, sprach: „Willkommen im Herzen der Welt. Der Weg zu uns ist weit und er ist eine Prüfung. Nur wenigen ist es seit langer Zeit gelungen, zu uns vorzudringen. Ihr musstet sterben, um geboren zu werden."

      Marc fragte mit großem Ernst: „Weshalb ist uns gelungen, was so vielen misslang?"

      „Es war euer aufrechter Wunsch zu helfen, der euch die Treppe bestehen ließ."

      Nun konnte Akandra nicht mehr länger an sich halten. „Aber liebe, schöne Mutter, lieber Vater, wie kommt ihr hierher?"

      Eine der Frauen antwortete: „Ich bin nicht deine Mutter, und doch bin ich deine Mutter." Und einer der Männer antwortete: „Ich bin nicht dein Vater, und doch bin ich dein Vater."

      Verständnislos sahen die jungen Leute sich an.

      Da sprach der Mann, der ganz außen saß und bisher geschwiegen hatte: „Ich bin euer aller Vater und Mutter. Wisset, hier ist die Wiege und das Ende der Welt."

      Dann sprach die Frau, die bisher geschwiegen hatte und außen saß: „Weil wenig Zeit ist, und es so vieles zu bereden gilt, müssen wir uns Zeit lassen. Deshalb werdet ihr erst einmal schlafen und essen."

      Sie stand auf, schritt auf die Besucher zu und ergriff deren Hände. Gemeinsam durchmaßen sie die Halle in ihrer ganzen Länge und schritten durch eine niedere Tür. Dahinter verbarg sich ein kleines Zimmer.

      „Das ist ja beinahe wie in Gutruh“, rief Marc aus.

      Und Akandra sagte: „Nein, es erinnert mich an Waldlust!"

      „Ihr sollt euch wohl fühlen“, lächelte die Frau und verließ sie.

      Akandra und Marc sahen sich um. Da standen weiche Betten, so wie Erits sie gerne haben, eine Kommode, ein Schrank, Tisch und Stühle. An den Wänden hingen Bilder, die Bäume, Sträucher und eine wunderschöne untergehende Sonne zeigten. Müde ließen sie sich auf die Betten fallen und waren schon nach wenigen Sekunden eingeschlafen.

      Als Marc