Horst Neisser

Centratur - zwei Bände in einer Edition


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Die junge Frau sagte dies so bestimmt, dass alle sie verblüfft ansahen.

      Auch Marc sagte nichts mehr. Endlich meinte eine der Älteren: "Ich glaube, wir sollten später weiterreden. Ihr braucht jetzt viel Schlaf. Auch will ich euch Zeit zum Überlegen geben. Mit einer voreiligen Entscheidung ist weder mir noch euch gedient."

      Akandra wandte selbstbewusst ein: „Ich brauche keine weitere Zeit zum Überlegen."

      Doch ihre Gastgeber gingen nicht weiter darauf ein. Man erklärte den beiden Besuchern, dass sie den Abend alleine verbringen würden. Man wolle ihnen Ruhe gönnen und Zeit zum Nachdenken lassen. In einem kleinen Raum, der ganz mit dunklem Holz getäfelt war, verabschiedeten sich die Älteren. Ein massiver Tisch mit einer polierten Platte stand in der Mitte und um ihn vier Stühle. Das Abendessen wartete bereits. Es gab kräftiges Brot, Butter, Käse und Salz. Auch eine Kanne Bier stand auf dem Tisch und zwei Krüge. Schweigend und in Gedanken versunken kauten die beiden Erits das Brot und tranken das Bier. Hin und wieder versuchte Marc ein Gespräch, aber Akandra war einsilbig. Sie behandelte Marc mit Verachtung.

      Nach dem Essen waren sie noch nicht müde genug zum Schlafen. Sie waren zu aufgewühlt von dem Disput und all den Neuigkeiten, die sie erfahren hatten. Deshalb verließen sie das Zimmer und schlenderten durch die langen Gänge dieser Unterwelt. Irgendwann hielt der junge Mann die gereizte Spannung nicht mehr aus. Er fragte seine Begleiterin: "Was hast du denn?"

      Sie zischte ihn an: „Feigling! Wenn du keinen Mut hast, dann gehe ich eben allein. Aber dann stehe zu deiner Feigheit und suche nicht ständig nach faulen Ausreden."

      „Ich habe tatsächlich Angst. Und wenn du dich nicht fürchtest, so hast du die Gefahr, in die wir gehen sollen, nicht erkannt. Mut ist manchmal nur eine Form von Dummheit, und ich dachte bisher nicht, dass du zu dieser Art Helden gehörst. Du enttäuschst mich nicht weniger als ich dich."

      „Ach“, antwortete sie, „diese Taktik kenne ich inzwischen bei dir. Angriff, so meinst du, ist die beste Verteidigung. Aber mit deinem ewigen Gerede kannst du mir nicht imponieren."

      Eine Pause trat ein. Dann fuhr sie ruhiger fort: „Mit Gerede kann man die besten Pläne zerstören. Gedanken sind stets blass, und nur Taten sind das Leben. Mit Gedanken wurde die Welt nicht erschaffen und kein Acker gepflügt. Zögerliche Gedanken machen unsere besten Vorhaben und Unternehmungen von vornherein krank und schwach. Du hast doch gesehen, was die Orokòr angerichtet haben. Willst du denn keine Rache? Soll dies alles ungesühnt bleiben? Sollen diese Bestien denn weiter ungeschoren morden dürfen? Wenn es nötig ist, die Vespucci zu besiegen, um die Orokòr zu treffen, dann werden wir unsere Pflicht tun und uns zu diesem Volk auf den Weg machen. Die Vespucci sind einen Pakt mit dem Bösen eingegangen. Wir müssen die Welt von ihnen befreien!"

      „Aber selbst, wenn wir wider alle Vernunft Erfolg haben sollten und die Macht der Vespucci gebrochen wird, werden doch neue Völker kommen und versuchen, die Welt zu unterjochen. Dieser Kampf gegen das so genannte Böse ist aussichtslos. Immer wenn du gesiegt hast, kannst du ihn neu beginnen."

      „Willst du damit sagen, dass man das Übel nicht bekämpfen soll, nur, weil damit zu rechnen ist, dass neues Übel folgt? Du willst dein Haus nicht putzen, nur, weil es bald wieder schmutzig sein wird? Ich will, dass meine Kinder, wenn ich je welche haben werde, in Frieden leben können. Ich will, dass sie durch die Welt reisen können, ohne Flüchtlinge zu sein. Und ich will natürlich auch Frieden und Glück für das Heimland!"

      „Lass es gut sein“, sagte er resigniert. „Ich werde mit dir auf diese unsinnige Reise gehen, auch wenn ich von dem Sinn dieses Unternehmens nicht überzeugt bin. Ich weiß auch nicht, ob man uns hier unten nicht zu Werkzeugen für Interessen macht, die wir nicht überblicken können. Ich traue diesen Älteren nicht, obwohl sie mir nicht unsympathisch sind. Welche Ziele sie wirklich verfolgen, kann ich nicht erkennen. Ich würde leichteren Herzens gehen, wenn ich das herausgefunden hätte."

      „Du bist ein misstrauischer Spinner“, antwortete sie, aber ihre Stimme war nicht mehr so abweisend und hart wie zuvor.

      Am nächsten Morgen wurden sie abgeholt und in die große Halle geführt. Sie standen vor dem Kreis der alten Leute. Die Kerzen flackerten, und ihr Ruß stieg in die hohe Kuppel.

      „Nun, wozu habt ihr euch entschlossen?" fragten die Älteren mit großem Ernst.

      „Was sein muss, wird getan!" antwortete Akandra ohne zu zögern.

      Verwundert bemerkte Marc, dass von den alten Leuten keine Reaktion kam. Sie zeigten weder Verwunderung noch Erleichterung. Deshalb fragte er: „Wusstet ihr, dass wir gehen würden?"

      „Ja!"

      „Und wenn wir nicht gegangen wären?"

      „Dann wäret ihr eben nicht gegangen. Aber ihr geht doch! Was soll also die Frage?"

      Alle erhoben sich feierlich und nahmen die Besucher in ihre Mitte. In einem Nebenraum stand ein schwerer Eichentisch. Ihn bedeckte eine rote Brokatdecke. Die Gaben, die darauf lagen, wurden von den alten Leuten nun feierlich überreicht.

      Zuerst erhielten die Erits ein Paket mit Landkarten. Ihr Weg war auf den Pergamenten mit einem roten Strich eingezeichnet. Es waren kostbare Schriften. Jede einzelne von einem Künstler mit großer Sorgfalt und Genauigkeit gemalt und mit bunten Bildern geschmückt. Die Älteren warnten eindringlich davor, irgendjemandem jemals diese Karten zu zeigen. Ihre einzige Chance bestand in der Überraschung. Wenn ihr Weg ihren Feinden bekannt würde, könnten sie ihnen Hinterhalte stellen und fremde Völker gegen sie aufhetzen. Selbst der kurze Blick eines Fremden auf eine der Karten könnte ihre Mission zum Scheitern verurteilen.

      "Bedenkt stets, auch die Vespucci kennen die Prophezeiung, und sie nehmen sie ernst. Überall in der Welt sind ihre Schergen“, wiederholten die Älteren noch einmal ihre Warnung. "Sie überwachen alle Wege, und sie kontrollieren die meisten Völker der Erde. Ihr seid, wo immer ihr euch auch aufhalten mögt, in Gefahr."

      Auf diese Ermahnungen folgte die Übergabe der Waffen. Es waren Zauberwaffen, die in den Schmiedewerkstätten tief unten in den Bergen hergestellt und auf den Altären hoher Türme mit einem mächtigen Zauber versehen worden waren. Marc erhielt einen Hammer, der nach dem Wurf stets in die Hand des Werfers zurückkehrt. Er hatte die Wucht eines schweren Schmiedehammers und war doch federleicht. Seltsame Zeichen hatten die Schmiede in seinen schwarzen Kopf eingraviert. An seinem Stiel baumelte eine silberne Kette, mit der er am Gürtel festgemacht werden konnte.

      Auch ein Schwert bekam der Erit. Es durchschlug Stahl und Eisen ebenso wie Marmor und Stein, dennoch hatte es kaum Gewicht. Es war eine Waffe für Könige. Das mit Diamanten geschmückte Heft funkelte und glitzerte. Auch die goldene Scheide war mit Edelsteinen verziert.

      „Es heißt ‘Blut des Gerechten’“, erklärten die Älteren. „Es hat nur ruhmreichen Helden gedient und wurde bislang nie besiegt.“

      „Dann will ich es nicht haben“, erklärte Marc. „Ich würde nur Schande über diese Klinge bringen. Bürdet mir diese Last nicht auf!“

      „Es ist keine Last, sondern eine Hilfe. Du wirst an seinem Ruhme wachsen! Aber zunächst solltest du Griff und Scheide mit Lederbändern umwickeln, damit man nicht sofort sieht, was für einen Schatz du mit dir führst.“

      Akandra überreichten die Älteren einen Bogen, dessen Pfeile auf eine bestimmte Distanz sicher trafen und ein Messer, dessen Schneide nichts widerstehen und das glühend heiß werden konnte. Auch diese Klinge war mit sonderbaren Zauberzeichen bedeckt. Das Messer hieß ‘Blutzoll’.

      „Diese vier Gegenstände gehörten einst den Unsterblichen. Es gab eine Zeit, da wusste man überall auf der Erde von ihrer Existenz und rühmte die Kunstfertigkeit ihrer Schöpfer. So mancher hätte sein Leben dafür gegeben, sie einmal in der Hand zu halten. Sie spielen in Sagen eine große Rolle. Doch schon lange glaubt man sie verloren und hat sie vergessen. Ihr könnt euch denken, dass diese Gaben sehr wertvoll sind und auf keinen Fall in die Hand der Feinde fallen dürfen. Aber mit Hilfe dieser Waffen habt ihr eine Chance, euer Ziel zu erreichen."

      „Ich brauche keine Waffen“, sagte Marc trotzig. "Wenn ich niemandem