Horst Neisser

Centratur - zwei Bände in einer Edition


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Nacht von uns trennen. Dann habt Ihr vielleicht endlich Gelegenheit, wieder unter Menschen zu leben."

      Soweit wollte es die Frau doch nicht kommen lassen und lenkte ein: „Lassen wir den dummen Streit! Davon wird der Regen gewiss auch nicht aufhören. Verdammt, wenn das so weitergeht, bekomme ich noch eine Erkältung und verliere meine Stimme. Ja, ich verliere meine Stimme! Ihr wisst doch, meine Stimme ist das Wertvollste, was ich habe."

      „Da habt Ihr aber Glück, Gnädigste, dass ich zu Eurer Begleitung gehöre. Seid unbesorgt, ich werde Euch Eure Stimme wiedergeben, wenn ihr sie verliert." Ein junger Mann war unbemerkt aus dem Schatten des Waldes getreten. Er hatte schon eine Weile belustigt dem Disput zugehört. Trotz seiner weißen Haare war er sicher noch keine dreißig Jahre alt.

      Der Hagere war dankbar für die Unterstützung: „Es ist schon ein Segen, schöne Frau! Bei uns ist Meister Urial, ein Zauberer, der wird für Eure Gesundheit sorgen."

      „Ach, lasst mich in Ruhe. Von dem ganzen Geschwätz werde ich nicht satt und warm wird mir davon auch nicht."

      Die Frau, die den Streit vom Zaun gebrochen hatte, war groß und trug das dunkle Haar kurz. Sie hatte die Dreißig bereits weit hinter sich gelassen, sah jedoch noch immer gut aus. Sie gehörte zu den Frauen, nach denen sich jeder umdreht, und die sich dessen auch bewusst sind. Bis zu einem gewissen Alter erreichen sie alles, was sie wollen, mit einem Augenaufschlag. Wenn sie älter werden, brauchen sie sehr lange, um zu begreifen, dass im Spiel des Lebens Jüngere an ihre Stelle getreten sind, und Erfolge nun auf andere Art errungen werden müssen. Aber davon war Galowyn, so hieß die Sängerin, noch ein paar Jahre entfernt. Ihr Kleid war aus einem kostbaren Stoff gefertigt und hatte einen eigenwilligen Schnitt. Was kümmerte es seine Trägerin, dass es inzwischen fadenscheinig und ausgeblichen war. Die Zeiten würden sich auch wieder ändern.

      Die Nacht brach schnell herein, und im letzten Licht des Tages bereiteten sie sich ein Lager. Der Wagen wurde so weit wie möglich in den Wald geschoben, so dass er auf weichen, trockenen Nadeln stand. Vor den Wagen spannten sie eine Plane als Vordach. Dann krochen sie der Reihe nach ins Trockene, zogen die nassen Oberkleider aus und wickelten sich hungrig und zähneklappernd in ihre Decken. Sie stellten keine Wachen auf. Noch hielten sie Centratur für sicher.

      Alle schliefen bis weit in den nächsten Tag hinein. Als sie merkten, dass es noch immer regnete, hätten sie am liebsten noch länger geschlafen. Es war noch etwas trockenes Brot und gesalzener Fisch übrig. Sie verzehrten diese Reste lustlos als Frühstück. Dann wurde das magere Maultier vor den Wagen gespannt, die Bündel unter der Plane verstaut. Sie machten sich auf den Weg. Der junge Zauberer saß auf dem Kutschbock. Die Sängerin hatte sich ohne lange zu fragen neben ihn gesetzt. Die anderen mussten laufen, protestierten aber nicht.

      „Haben Gnädigste gut geruht?" begann der Weißhaarige ein Gespräch.

      „Ihr sollt mich nicht immer 'Gnädigste' nennen. Ich glaube, Ihr nehmt mich nicht ernst."

      „Das würde ich niemals wagen."

      „Was habt Ihr gestern Abend im Wald gesucht, Meister Urial?"

      Urial überhörte die Frage. Doch die Sängerin gehörte nicht zu den Leuten, die man einfach ignorieren kann.

      „Habt Ihr Geheimnisse vor uns?"

      Der Zauberer antwortete noch immer nicht.

      „Geheimnisse haben mich schon immer interessiert. Sie sind so herrlich aufregend."

      „Wollen Gnädigste nicht doch lieber laufen? Es wäre gut für den Kreislauf und die Figur. Ich darf erinnern, Sängerinnen müssen körperlich in Form bleiben."

      Der Hagere und die Dienerin liefen hinter dem Wagen und schwiegen. Die Frau mit dem Namen Smyrna war zwar klein und füllig, aber dennoch anziehend und reizvoll. Sie hatte ein nettes, freundliches Gesicht, blonde Haare und trug einen weiten, wollenen Umhang. Sie hatte Mühe mit dem großen Mann Schritt zu halten und bot mit ihrem hochroten Kopf einen seltsamen Kontrast zu dem schlanken Mann.

      „Was wisst Ihr von Meister Urial?" fragte sie endlich, als der Wagen vor ihnen etwas langsamer fuhr.

      „Nicht viel! Ich habe ihn unterwegs getroffen."

      „Kann man ihm trauen?"

      „Vielleicht, ich weiß es nicht. Wem kann man heutzutage schon trauen. Ich traue ja nicht einmal mir selbst."

      „Wo kommt er her?"

      „Aus dem hohen Norden. Ich glaube aus Nowogoro. Ihr könnt ihn selber fragen."

      „Ich wage es nicht. Er ist zwar freundlich und hilfsbereit, aber er macht mir Angst. Ich weiß nicht, was ich von ihm halten soll. Ihr seid länger mit ihm zusammen. Erzählt mir einfach, was Ihr wisst."

      „Getroffen habe ich ihn in Weiler. Ich kam aus den Galatzbergen und habe im ‘Blauen Krug’ Rast gemacht."

      „Was hattet Ihr in den Galatzbergen zu suchen?"

      „Das Fragen ist eine Leidenschaft von Euch. Ihr stellt die Fragen schneller, als man sie beantworten kann."

      „Ich interessiere mich eben für Leute und will wissen, was um mich herum vorgeht." Die junge Frau war bemüht, das Misstrauen, das ihre Neugierde hervorgerufen haben könnte, zu zerstreuen.

      „Ihr habt schon Recht, wenn Ihr Euch dafür interessiert, wer mit Euch reist. Die Zeiten sind gefährlich, und Vorsicht ist ein Zeichen von Klugheit. Ich habe nichts zu verbergen, deshalb will ich Euch gerne antworten. Nun, ich war in den Galatzbergen, um nach Gold zu graben."

      „Und, habt Ihr etwas gefunden, Meister Fallsta?" Kaum hatte sie die vorlaute Frage ausgesprochen, da hätte sie sich die Zunge abbeißen mögen.

      Aber der dürre Mann lächelte.

      „Ja“, sagte er, „ich habe Gold gefunden. Und um gleich Eurer nächsten Frage zuvorzukommen, ich trage es nicht bei mir."

      „Das hätte ich Euch nicht gefragt."

      „Aber doch schrecklich gern gewusst."

      „Wo habt Ihr Urial also getroffen?" Die Frau versuchte abzulenken.

      „Im 'Blauen Krug'. Das ist wohl die berühmteste Gaststätte im nördlichen Centratur. Früher gehörte sie einem Erit mit Namen Ledi. Aber der ist schon lange tot. Er soll ein exzellentes Bier gebraut und vorzüglich gekocht haben. Davon ist nicht viel geblieben. Das Bier ist ein dünnes Gebräu und das Essen ein Fraß, den man nur hinunterwürgt, wenn man wirklich Hunger hat. Dennoch ist das Haus immer voll. Es gehört irgendwie dazu, dass man als Reisender im 'Krug' einkehrt. Deshalb trifft man dort auch interessante Leute. Man kann sich nach Wegen erkundigen und bekommt so manchen Hinweis und Warnung. Das macht die schlechte Verpflegung bei weitem wieder wett."

      „Und wie habt Ihr Urial kennen gelernt?"

      „Ich hatte mir ein Fieber geholt. Mir ging es verdammt schlecht. Urial sah mich elend in der Ecke sitzen und kam zu mir. Er fragte mich, was mit mir los sei. Dann ging er wortlos zu seinem Wagen und holte Kräuter. Vom Schankbuben ließ er sich heißes Wasser bringen und brühte mir einen Tee auf, den er mir vorsichtig einflößte. Danach ging er seiner Wege und ließ mich in Ruhe. Aber schon nach wenigen Stunden begann ich zu schwitzen, was das Zeug hielt. Ich war tropfnass. Dabei sank das Fieber. Am nächsten Morgen war ich gesund. Als ich meinen Retter suchte, fand ich ihn in seinem Wagen. Er mischte irgendwelche Kräuter.

      Als ich kam, blickte er kurz auf und sagte: 'Es geht Euch besser!’

      Dies war keine Frage, sondern eine Feststellung. Er hatte es nicht anders erwartet. Ich wollte ihm danken und hätte ihm sogar die Hände geküsst. Aber davon wollte er nichts hören. Wir kamen ins Gespräch, dabei stellten wir fest, dass wir die gleiche Reiseroute hatten. Beide wollten wir über den Wolfsweg nach Süden. So zogen wir ein paar Tage später gemeinsam los. Das ist alles! Vor Rudia sind wir auf Euch getroffen, und nun laufen wir gemeinsam auf der Alten