Walter Kranz

Bora oder Brüche zwischen zwei Schnitten


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ihren Fuß bereits auf die zweite Treppe. Während sie hinaufgehen, stellt die Sekretärin sich Bernard vor. Ungezwungen. Unprotokollarisch:

      „Nennen Sie mich Elisabeth“, sagt sie. Ihren Nachnamen verschweigt sie. - Noch!

      Bernard bemerkt, dass die Teppiche auf dem Boden gar nicht teuer und exklusiv sind. Man hört halt so viel davon!

      Auch Elisabeths Büro ist schlicht gehalten. Mit demselben Teppich wie der Gang ausgelegt: graublauer Nadelfilz. Die Wände sind ab halber Höhe gläsern. War vermutlich früher einmal ein Großraumbüro. Eine Weltkarte, auf der Fähnchen in verschiedenen Farben das Globalisierungsbestreben manifestieren, verhindert den Blick in das Nachbarbüro, woher Schreibmaschinengeklapper und eine lispelnde Mädchenstimme erkennbar sind.

      „Setzen Sie sich“, sagt Elisabeth und Bernard gehorcht.

      „Der Herr Direktor ist leider schon wieder unterwegs. Er musste zu einem wichtigen Arbeitsessen mit der Delegation für den Globalisierungsgipfel. Aber er hat angerufen und gesagt, dass er sich freut, Sie baldmöglichst zu begrüßen. Seine Biografie, seine Memoiren seien ihm wichtig. Sehr wichtig.“

      Aus einem der Stahlschränke kramt Elisabeth einen Akt hervor, den sie Bernard hinlegt und dabei bedeutungsvoll mit dem Kopf nickt. Bernard wird schon wieder bang.

      „Das sind seine Personalien. Seine Aufzeichnungen. Seine Notizen. Er hat mich gebeten, sie Ihnen auszuhändigen, damit Sie sich ein grobes Raster zurechtlegen können bis er kommt.“

      Bernard öffnet den Akt und schlägt den Deckel um. Aber er seine Gedanken schweifen ab. Bernard ist gleich konzentrationslos wie zu Hause, als der Rasenmäher seine Gedanken störte. Bernard überlegt, wie er in kurzer Zeit die ihm fremde Personalie studieren, wie er sich ein Bild machen, ein Raster zurechtlegen soll.

      Elisabeth muss Bernards Gedanken lesen können. Jedenfalls sagt sie: „Es gäbe da noch ein anderes Informationssystem, aber ohne Erlaubnis des Herrn Direktors darf da niemand ran. Wir werden warten müssen bis er kommt.“

      Bernard schöpft Hoffnung. Wenn es je etwas gegeben hat, das ihm Mut machte, dann war es die Aussicht auf einfachem Weg ans Ziel zu kommen. Auf geraden Weg. Auf direktem Weg.

      Anstatt sich die Mühe zu machen und in den Papieren zu wühlen und zu grübeln schielt Bernard nach Elisabeth. Ihr modisches Kleid scheint mit der Weltkarte abgestimmt zu sein. Die halblangen Haare trägt sie offen, nur mit einem, zum Blau der Jacke passenden Band leicht nach hinten gezwungen. Man kann nicht sagen, dass sie schmal oder schmächtig sei. Nein, kann man nicht sagen. Sie ist wohlproportioniert. Aber auf keinen Fall dick. Auch nicht dicklich.

      Das Telefon surrt. Elisabeth hebt ab, wartet einen Augenblick, neigt ihren Kopf zur Seite, so dass ihr braunes Haar nach vorne fällt, greift nach einem Zettel, biegt dann mit schlanker Hand ab, fährt zum Telefon und drückt einen der vielen Knöpfe, deren Handhabung Bernard ein Tohuwabohu ist. Plötzlich weicht die Röte aus ihren Wangen. Blaue Äderchen werden sichtbar. Heben sich auf weißer Haut deutlich ab. Bernhard sieht ihre Stirn Schweißperlen gebären.

      „Er wird nicht kommen“, sagt Elisabeth, nachdem sie den Hörer aufgelegt hat.

      „Wird lange Zeit nicht kommen.“ Das zweite Mal sagt sie es tonlos und abgehackt.

      „Hat einen Unfall gehabt. - Kommen Sie. Kommen Sie.“

      Weil Bernard nicht reagiert, fasst Elisabeth seinen Unterarm und zieht ihn mit sich: „Kommen Sie schnell. Wir müssen sofort hin.“

      Sie zieht Bernard wie ein kleines Kind hinter sich her. Vorbei an den ockerfarbenen Bildern. Vorbei an dem Portier, der ihnen etwas Unverständliches nachruft. Aber Elisabeth hört nicht hin, hört einfach nicht hin, will nur noch weg vom Betrieb, hin zur Unfallstelle.

      Weil Elisabeth aufgeregt ist, schlägt Bernard vor, dass er fahre. Elisabeth winkt ab, kaum sichtbar, aber sie winkt ab, setzt sich hinter das Lenkrad ihres Autos, bittet Bernard sich anzuschnallen und fährt dann los. Bernard spürt, die Fahrerin möchte am Ziel sein, bevor sie gestartet ist.

      Elisabeths Fahrweise wirkt verkrampft. Bernard hört nicht gerade das Knirschen, aber er spürt, dass sie die Zähne aufeinander beißt, wenn ihr rechter Fuß aufs Gaspedal drückt.

      Elisabeth fährt riskant. Bernard ist sich nicht sicher, dass es ihr bewusst ist. Sie überholt einen Lastwagen und bremst ihn brüsk ab, um nicht auf den davor fahrenden Personenwagen zu knallen. Nach links ausweichen wäre nicht möglich. Auch dort wäre eine Kollision unvermeidlich.

      Elisabeth murmelt während des Überholmanövers: „Hat einen Unfall gehabt, Paul. - Und Andreas ist gefahren. - Das wird Schwierigkeiten geben.“

      „Ist Paul Ihr Direktor, dessen Biografie ich verfassen soll?“

      Elisabeth nickt.

      „Und Andreas? Wer ist Andreas?“

      „Sein Chauffeur!“

      Blaulicht und Martinshorn heulen ihnen entgegen. Elisabeth tritt brüsk aufs Bremspedal. Das Auto kommt quer zur Fahrbahn zum Stehen und lässt dem Krankenwagen fast keine Fahrt.

      „Das wird er sein. Da drinnen werden sie liegen, “ murmelt Elisabeth.

      Sie lenkt ihren Wagen an den Straßenrand.

      „Fahren Sie weiter“, sagt sie und deutet mit dem Zeigefinger auf das Lenkrad. Es ist ausgeschlossen eine Türe zu öffnen. Rechts eine Bruchsteinmauer und links vorfahrende Autos. Eines nach dem andern. Elisabeth und Bernard wechseln die Sitzplätze im Wageninnern. Während Elisabeth über Bernard kriecht, fühlt er ihre Rundungen. Riecht er ihr unaufdringliches Parfum. Wehen ihre Haare in sein Gesicht. Es ist eng in dem Wagen, aber sie schaffen es, die Plätze zu tauschen.

      Vorne ist eine Menschenansammlung zu erkennen. Leute lungern herum oder hängen wie Trauben an der rechtsseitigen Böschung. So, als würden Schausteller sich dahinter produzieren. Wäre da nicht die polizeiliche Unfallsicherung, eine nicht zu übersehende, signalrote Unfallvorschau, man könnte tatsächlich vermuten, dass sich hinter dem Menschenauflauf Komödianten darböten.

      Es stehen viele Autos am Straßenrand, darum können Elisabeth und Bernard nur weit weg vom Geschehen anhalten. Ein Polizist winkt und deutet, sie sollen weiterfahren. Nach seinen heftigen Bewegungen zu urteilen, ist er ärgerlich. Elisabeth sieht nicht hin. Sieht einfach nicht hin.

      Sie nimmt Bernard bei der Hand und zieht ihn weiter. Ein anderer Polizist hält sie auf. Sagt, sie sollen wieder gehen. Zurück. Da gäbe es nichts zu gaffen. Auch da hört Elisabeth nicht hin. Sie geht mit Bernard um den Polizisten herum auf das Wrack des Direktionswagens zu. Bernard spürt wie ihre Hand zu zittern beginnt. Auch ihr Griff wird fester. Er merkt, dass sie Halt sucht.

      Elisabeth zieht Bernard langsam, immer einen halben Schritt vor ihm, auf die zerbrochene, zerstückelte Windschutzscheibe zu. Mit der Hand fährt sie über die Metallteile des Wagens und versucht angestrengt, im Wageninnern etwas oder jemand zu erkennen.

      Ein verbogenes Lenkrad. Ein aufgesprungenes Handschuhfach. Ein Scheibenwischer auf dem Armaturenumbau. Eine Uhr hängt am violetten Draht auf die Kupplung und baumelt leise hin und her. Dazwischen Glas. Halbauseinandergefaltete Straßenkarten. Löchrige Handschuhe. Bunte Rachenbonbons verstreuten sich über das ganze heillose kaputte Durcheinander.

      Elisabeth drückt Bernards Handgelenk noch fester.

      „Da klebt Blut. Sehen Sie, da klebt Blut. Ach Gott, ich kann kein Blut sehen. Konnte es nie. Schon als Kind nicht. Mein Gott, da klebt da Blut?“

      Elisabeth richtet sich auf und erbleicht. Ihr Mund setzt zu einem Schrei an, der aber nicht heraus will und in den Ansätzen erstarrt. Sie steht da. Die Beine gespreizt. Die Arme gespreizt. Die Finger gespreizt. Den Mund gespreizt. Selbst einige Haare spreizen sich. Alles ist gespreizt und erstarrt. Auch der Schrei will nicht heraus aus ihr. Dieser Schrei, der entkrampfen wollte, verkrampft sich selbst. Er wird zum Kloß, der für einen Menschenhals zu dick ist und nicht durch den Schlund will. Ihr bleiches Gesicht wird rot, dann blau. Wahrscheinlich vergisst sie bald das Atmen. Einer der Umstehenden beobachtet es und ruft