Walter Kranz

Bora oder Brüche zwischen zwei Schnitten


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      Elisabeth wird von dem Arzt zum polizeilichen Vernehmungswagen geführt. Es ist ein sonderbares Zusehen wie Elisabeth an der Doktorhand zum Wagen geht. Breitbeinig. Im Spreizschritt. Sich ruckartig bewegend. Nach Art von Marionetten oder Robotern. Hätte sie nicht dieses modischfarbene Kleid an, sondern einen silbern glänzenden Overall, man könnte meinen, Außerirdische seien an dieser Stelle gelandet und wüssten nicht, wie man sich auf Erden bewegt.

      Derjenige, der vorhin nach dem Arzt gerufen hat, ist auch Polizist. Polizist in Zivil. Bernard muss ihm glauben, da er sich als solcher ausweist. Er muss ihm glauben, obwohl Bernard sich nicht vorstellen kann, was der zivile Fahnder auf der Unfallstelle soll.

      Der Polizist fragt Bernard wer die Frau sei und was sie auf der Unfallstelle wolle. Bernard gibt Auskunft so gut er kann. Dann fragt der Polizist: „Und Sie? Gehören Sie zu ihr?“

      Bernard winkt ab: „Nein! Wir gehören nicht zusammen. Nicht so, was man landläufig darunter versteht.“

      „Was soll das? Gehören Sie zu ihr oder nicht? Ja oder Nein?“

      „Das kann man nicht mit Ja oder Nein beantworten. Da gibt es nur ein sowohl als auch. Sie verstehen?“

      Bernard merkt, dass der Polizist nicht versteht. Dass es für ihn nur die Kategorie Ja oder Nein, Schwarz oder Weiß gibt. Jede für sich. Niemals in Kombination. Keine Grautöne.

      „Ihren Namen?“ fragt der Polizist und zückt sein Notizblöcklein, um Bernard wie einen Verbrecher oder Verkehrssünder in seine Brustdatei aufzunehmen. Zunächst gedenktt Bernard sich zu verweigern. Da er aber keine Zeit vergeuden will, gibt er die gewünschte Auskunft und ist erstaunt, dass er danach in Ruhe gelassen wird.

      Im Unfallauto entdeckt Bernard eine Taschenagenda, die von der Polizei noch nicht beschlagnahmt worden ist. Bernard öffnet das kleine Büchlein, in der Hoffnung, irgendetwas zu finden. Was, ist eigentlich egal. Nur etwas. Das kleine lederige Buch gehört nicht Paul Schweyer, sondern offensichtlich dessen Frau oder Tochter. Eigentlich, denkt Bernard, hätte ich es wissen müssen, dass diese Art von Taschenagenden von Frauen benützt wird. Oder von Mädchen. Nicht aber von Männern. Das hätte ich eigentlich wissen müssen.

      Bernard blättert Seite für Seite um. Er sucht nach Hinweisen. Doch die Blätter nach der ersten Seite, auf welcher die Eigentümerin eingetragen ist, sind keusch. Unbeschrieben. Vermutlich deswegen von der Polizei nicht beschlagnahmt.

      Bernard schließt die Agenda und streichelt das weiche Leder. Es scheint echtes Leder zu sein. Jedenfalls riecht Bernard Ledergeruch. Jawohl, frischen Ledergeruch. Obwohl man sagt, es gebe entsprechenden Spray. Dann öffnet er wieder die erste Seite und vergewissert sich. Dort steht: Angelika Schweyer, Froschgrabenstrasse 5.

      Bernard stellt weiters fest, dass Flüssigkeit über den Boden des Unfallwagens kriecht und sich langsam durch Schmutz und Bonbons ihren Weg bahnt. Wenn das Benzin ist, besteht Brandgefahr. Bernard wundert sich, dass der zivile Polizist raucht

      Als Elisabeth das Polizeifahrzeug verlässt, scheint sie sich erholt zu haben.

      „Kommen Sie“, sagt sie und nimmt Bernard wieder am Handgelenk, „gehen wir, hier haben wir nichts mehr zu suchen.“

      Ohne ein Wort des Dankes an den Arzt zieht Elisabeth Bernard hinter sich her zu ihrem Auto.

      „Wir müssen zum Krankenhaus“, sagt sie und reicht ihm mit auffordernder Geste die Wagenschlüssel.

      Der Menschenauflauf ist kleiner geworden. Der Abtransport der Verunfallten lässt die Sensationshungrigen weitergehen. Am Straßenrand steht eine kleine Gruppe von Menschen. Aus deren Gestikulieren Bernard unschwer erkennen kann, dass sie den Verlauf des Unfalls kommentieren.

      „Wer ist Angelika Schweyer“, fragt Bernard unvermittelt.

      Elisabeth schweigt.

      „Wer ist Angelika Schweyer“, lässt Bernard nicht locker.

      „Sie ist seine Frau“, sagt Elisabeth. „Eigentlich habe ich ihr meine Anstellung als Sekretärin zu verdanken, obwohl sie Paul keine Sekretärin gönnt. Obwohl sie Pauls Sekretärinnen hasst. Jawohl hasst. Richtiggehend hasst. Mit jeder Faser ihres Körpers. Mit jedem Hauch ihres Daseins hasst sie seine Sekretärinnen. Natürlich auch mich.“

      „Sagen Sie mir, wer Angelika Schweyer ist, wie sie ist, warum sie Sie hasst,“ sagt Bernard auf der Fahrt zum Krankenhaus.

      Elisabeth lehnt sich zurück und atmet tief ein und aus. Ihre Brust hebt und senkt sich in langsamem, ausgeglichenem Rhythmus. Sie scheint zu überlegen, zu kämpfen. Dann redet sie doch:

      „Frau Schweyer ist eifersüchtig. Sehr eifersüchtig. In einer schlimmen Art eifersüchtig. Ich habe es erfahren, als sie mich anrief und mich beschimpfte. So wie sie hat mich noch niemand beschimpft. Nein. Noch niemand.

      Es war, nachdem Paul mich als Sekretärin angestellt hatte. Wenige Tage danach kam ihr Anruf. Sie schrie wie hysterisch ins Telefon. Ich hörte ihre kurzen und heftigen Atemstöße, die sie ausstieß, wenn sie in ihrem Schreien innehielt. Ich solle ihren Mann in Ruhe lassen, schrie sie, und dann: Hure. Jawohl. Dreimal hintereinander. In äußerst giftigem Ton: „Hure, Hure, Hure.“

      Zuerst dachte ich gar nichts. Dann wollte ich den Hörer auflegen, erinnerte mich aber daran, dass sie Pauls Frau, meines Chefs Frau ist und dass sie mich ihm empfohlen hatte. Ich behielt den Hörer in der Hand. Noch immer atmete sie streng und schwer und stoßartig. Noch immer überschlug sich ihre Stimme, als sie mir drohte, mich weiter beschimpfte, mir wieder drohte und dann grußlos die Verbindung unterbrach.

      Ich war zunächst konsterniert, wusste nicht, was ich tun sollte. Ich verstand die Welt nicht mehr und schon gar nicht diese Frau. Warum sagte sie Hure zu mir? Warum? Hätte sie irgendein anderes Schimpfwort gebraucht, es wäre mir leichter gefallen, ihre Schimpftirade zu verdauen. Aber dieses Wort! Es hat so einen verrufenen Klang. Tönt härter, als wenn sie Luder gesagt hätte.

      Zum ersten Mal seit langer Zeit weinte ich, weil mich jemand beschimpfte. Ich saß auf dem Sofa und hielt den Hörer, aus dem ein abgehackter Summton kreischte, in der Hand und ich wünschte mir, mit Paul darüber sprechen zu können.“

      Elisabeth hält inne und schaut auf die öde Fahrbahn, die schnurgerade vor ihnen liegt.

      „Wir müssen zum Krankenhaus“, sagt sie, „nicht zum Betrieb.“

      Bernard schrickt auf. Er wäre zum Betrieb gefahren, anstatt zum Krankenhaus. Bernard nickt und schummelt: „Ich weiß.“

      Dann redet Elisabeth weiter.

      „Bei der ersten Gelegenheit sprach ich mit Paul über das Telefongespräch. Er hörte mir zu und lachte. Dann meinte er, ich solle das nicht so tragisch nehmen. Das mache sie immer so. Paul konnte nicht begreifen, was es heißt, wenn eine Frau Hure geschimpft wird. Kann das überhaupt ein Mann begreifen? - Paul, obwohl er intelligent ist und Erfolg hat und weltgewandt ist und in bester Gesellschaft verkehrt, benahm sich nicht anders, als andere Männer. Auch er war unfähig, eine Frau zu begreifen. Auch er lachte bloß, als ich mit ihm über das Problem sprach. Er lachte vielleicht ironischer und zynischer als manch andere Männer es in vergleichbaren Situationen zu tun pflegen.“

      Elisabeth gestikuliert heftig mit den Händen.

      „Sie müssen links einspuren“, ruft sie, weil Bernard keine Anstalten macht, zum Krankenhaus zu fahren.

      „Ich weiß“, knurrt Bernard, obwohl er das Krankenhaus schon wieder vergessen hat.

      Entgegen Bernards Erwartung sagt Elisabeth bloß noch: „Hure, hat sie zu mir gesagt. Verstehen Sie? Hure.“

      Beim Krankenhaus begreift Bernard, dass Elisabeth nicht mehr weitersprechen will, weil das, was sie zu sagen hätte, wirklich niemand etwas angeht. Nicht diese Kranken-schwester. Nicht jenen Arzt.

      Elisabeth tastet nach Bernards Hand, hält ihn aber nicht mehr am Handgelenk, sondern legt ihre Hand in seine Hand. Er spürt ihre feuchte Innenhand und merkt, dass Elisabeth Angst hat. Hand in Hand gehen sie wie zwei Verliebte durch das schwere Krankenhausportal.