Walter Kranz

Bora oder Brüche zwischen zwei Schnitten


Скачать книгу

      Bernard schaut Elisabeth an und bildet sich ein, er sehe, wie sich in ihren Augen gleichzeitig und gleichförmig Tränen bilden, die auf ihre Brüste tropfen und dass die Wiederholung auf ihren Brüsten dunkle, nasse Flecken hinterlasse.

      „Ich muss weiter,“ sagt Elisabeth. „Werden Sie mich morgen anrufen? Oder besser, kommen Sie zu mir ins Büro.“

      Bernard begleitet Elisabeth nach unten, sieht ihr nach, wie sie zum Auto geht und denkt nichts dabei. Überhaupt nichts. Nicht einmal, dass sie schön oder hübsch oder nett sei. Nicht einmal, dass er sie besser nicht fahren lassen sollte.

      Elisabeth fährt weg. In die Abenddämmerung hinein. Für den Augenblick herrscht Ruhe.

      Aus bekanntem Lärm schließt Bernard, dass der Rasenmäher wieder funktioniert. Der Mähende bemerkt Bernard, kommt auf ihn zu und strahlt über das ganze Gesicht.

      „Sehen Sie“, sagt er, „ich habe ihn repariert. Es war nicht der Rost! Das Kabel war geknickt, das Material ermüdete und brach. Jetzt geht er wieder. Gott sei Dank. Sehen Sie diesen Schnitt? Wie ebenmäßig. Wie gemalt. Wollen sie ihn nicht noch einmal befühlen?“

      Bernard nickt, betastet aber nichts.

      Er macht kehrt und geht davon. Bernard will nichts mehr hören. Nichts mehr fühlen. Nichts mehr riechen. Nichts mehr sehen. Er will nur noch schreiben. Von Andreas. Von Paul und Angelika Schweyer. Von Elisabeth. Von …

      Bernard schläft unruhig. Unruhig wie die Nacht. Der Wind spielt mit den Blumenstängeln und schlägt sie gegen die Fallrohre der Dachrinne. Manchmal quietschen die Balken auf der Pfette. Nach kurzen Phasen unruhigen Schlafes wacht Bernard jeweils auf.

      Er denkt an die Unfallstelle. Wie die letzten Spuren vom Wind oder vom Regen weggetragen werden. Wie sich das eingedickte Blut mit Regenwasser vermengt. Wie das durchmischte Regenwasser dem Abwasser zu gurgelt. Er denkt an Elisabeth und ihren Spreizschritt. An den Aufenthalt im Krankenhaus. An Elisabeths Besuch hier bei ihm. An das Gefühl, das ihn dabei überkam. Er denkt auch an den Mäher, der es schaffte. Der den Bruch reparieren konnte. Der sich darüber freute und seine Freude mit Bernard teilen wollte.

      Weil Bernard kurz und unruhig schläft, ist er am Morgen müde. Er hat Mühe, die Morgenpost zu lesen. Zwischen für ihn Unwichtigem findet er den Bericht über den Unfall. Bernard kann ihm keine Neuigkeiten entnehmen. Um die Unglücksursache zu erfahren, wird ein Gang zur Polizei unvermeidbar sein. Zunächst will er aber zu Angelika Schweyer.

      Der Weg zu Angelika Schweyer führt Bernard an der Unfallstelle vorbei. Wind und Regen haben nicht alle Spuren verwischen können. Zum Beispiel die abgeschabte, weggeschlagene Baumrinde liegt immer noch da. Zusammen mit Scherben von orangem und durchsichtigem Glas. Auch einige Hustenbonbons sind noch als solche zu erkennen. Das Gras ist immer noch zertreten. Zeugt von den Schaulustigen, die jetzt an den Arbeitsplätzen oder wo immer sie sonst sein mögen, etwas zu erzählen haben.

      Auf dem Weg zur Froschgrabenstraße 5 überlegt Bernard, wie er das Gespräch mit Frau Schweyer beginnen soll. Er denkt, er werde sich an die Taschenagenda halten, die auf deren Namen lautet und die er gestern eingesteckt hat. Ja, er wird ihr die Agenda zurückbringen, wird ihr sagen, dass es ihm leid tue, das mit Ihrem Mann, dass er eigentlich über ihn schreiben müsste, aber...

      Bernard drückt den Knopf. Anstelle des erwarteten scheppernden Läutens setzt er einen dezenten Gong in Gang. Bernard erwartet eine Art Butler oder ein Hausangestellter oder eine Hausangestellte, liegt aber mit seiner Erwartung wieder einmal falsch.

      Das junge Frau, die ihm öffnet, ist ihm früher einmal begegnet. Sie lächelt. Ein wenig müde zwar, aber genau so, wie Bernard es in Erinnerung hat.

      „Ist hier die Froschgrabenstraße 5“, fragt er.

      Auf dem Schild in Augenhöhe ist deutlich zu lesen: Froschgrabenstraße 5!

      „Ja“, lächelt sie.

      Bernard: „Kann ich Frau Angelika Schweyer sprechen?“

      „Meine Mutter“, sagt sie „es geht ihr nicht gut. - Mein Vater ...“.

      „Ich weiß“, sagt Bernard, „aber vielleicht kann ich Frau Schweyer doch einen Augenblick sprechen.“

      „Ja, vielleicht. Kommen Sie herein und setzen Sie sich.“

      Die junge Frau geht in derselben Haltung davon, wie Bernard sie in Erinnerung hat.

      Manchmal ist es angenehm in Erinnerungen zu tauchen. Darin zu wühlen, um in trüber Umgebung nach Deutlichkeit zu suchen.

      Vor einiger Zeit begegnete Bernard dieser jungen Dame auf einer Ferieninsel, wohin er sich geflüchtet hatte, um Abstand zu gewinnen. Um auszuruhen. Um sich zu erholen. Um sich zu Regenieren.

      Inmitten der Sonnenanbeterinnen und Meerbadenden fiel sie in ihrem schwarzweißkarierten Einteiler seinen Augen sofort auf. Sie war nicht alt. Gottbewahre. Nein, Bora war jung.

      Bora? Bernard nannte sie damals so, weil er ihren Namen nicht kannte und weil das Hotel, in dem er wohnte so hieß. Das Hotel hatte er gewählt, weil er davon träumte, einmal auf Bora Bora zu urlauben: Nun trug wenigstens das Hotel den ersehnten Namen.

      In ihrem schwarzweißkarierten Badeanzug, den keine Träger nach oben zu strammen brauchten und eine einwandfreie Figur verhieß, saß Bora zwischen den Schenkeln einer Urlaubsfreundin und ließ sich flache Zöpfe in das braune Haar flechten.

      Boras Stirnfransen klebten bis auf die Höhe der Augenbrauen an der Stirn. Am Kinn lief das Wasser tropfenweise zusammen. Die Tropfen schoben sich über das zarte Gesicht, das zur Vorlage einer Madonnastatue dienen hätte können. Sie krochen ganz gemächlich von Stirn, Ohr und Augenhöhle über die eher blassen Wangen. Schossen dann an der ebenmäßig feingliedrigen Nase herunter. Sammelten sich in den Mundwinkeln. Rollten dann weiter zum Kinn, wo sie Bora mit violettem Badetuch abwischte, während ihre Freundin immer noch an Zöpfen flocht.

      Ihre in tiefen Augenhöhlen sitzenden braunen Augen durchwanderten langsam den überschaubaren Sandstrand. Während Bernard noch dabei war, sich mit dem Wasser an Boras Kinn zu beschäftigen, spürte er, wie Boras Augen an ihm halt machten.

      Bernard zwang seine Augen zunächst an Boras Zehen. Ließ sie dann weiter nach oben tasten. Erreichte über Füße, Beine, Becken, Bauch ihre Brüste. Verweilte da ein wenig. Schöpfte dabei Mut. Ließ den Blick langsam über die Schultern und den Hals hinauf wandern. Machte wieder Rast an einem Wassertropfen, der an ihrem Kinn klebte. Strich dann über ihre Lippen. Die Nase hinauf. Wagte sich schließlich zu ihren Augen vor.

      Bora wich nicht aus. Sie hielt der Begegnung stand. Bernards Blick plumpste in den ihren und fand lange Zeit keinen Grund. Bernard dachte, er müsste in Boras Tränenwasser ertrinken.

      Nach einer sekundenlangen Ewigkeit begann Bernards Blick mit Boras Blick zu ringen. Jeder Blick versuchte dem andern auszuweichen. Dann doch zurückzukehren. Dann zu ertappen, wie erneut versuchte wurde, sich in die Tiefe des Blickes zu stürzen.

      Nach wiederholten Anläufen gelang es ihnen, zwischen den Beinen einer gebräunten Brünetten, mit blauweiß gestreiftem Bikini, die Blicke wieder zu vereinigen.

      Das Weiß in Boras Augen blitze auf. Leichte Röte breitete sich von den Augen über die Wangen aus. Ein Lächeln, in den Mundwinkeln begonnen und dann weiter fortgesetzt, so dass ihre Zähne sich entblöccten, verklärte Boras Gesicht.

      Noch fehlten Bernard die Grübchen. Aber gerade als er ihr Fehlen bemerkte, spitzten sich Boras Wangen und die Grübchen stellten sich vor. Sie lachten, nicht spitzbübisch, auch nicht frivol, sondern ganz dezent aus Boras Gesicht.

      Die Zopfflechterin hatte ihr Werk inzwischen vollendet. Bernard stellte fest, dass sie gute Arbeit geleistet hatte. Auch die Zopfflechterin war jung. Vielleicht etwas jünger als Bora. Wenigstens schätzte Bernard sie so.

      Bernard hatte das Gefühl, dass die Zopfflechterin das Augenduell zwischen Bora und ihm beobachtet hatte. Jedenfalls versuchte sie das gleiche Spiel. Aber es blieb oberflächlich. Wahrscheinlich, weil Bernards Augen immer wieder weg