Christoph Hochberger

DER KELTISCHE FLUCH


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sich an.

      Das war doch Helwed!

      Toromic sah auf Tarcic nieder. Mit wenigen Schritten war er am Lager seines Bruders. „Berichtet mir“, sagte er, ohne aufzuschauen.

      „Nachdem wir ihn hierher gebracht hatten, wurde er auf einmal wild und begann zu toben, so dass wir unsere Not hatten, ihn zu bändigen. Dann war er eine ganze Weile lang ruhig, doch auf einmal erwachte er wieder und begann abermals zu wüten“, fasste Turumir die Ereignisse zusammen.

      „Böse Geister sind in ihn gefahren“, hörte man leise einen Krieger sagen.

      Toromics Kiefer mahlten. „Hat er etwas gesagt?“

      Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis Turumir antwortete:

      „Er sagte so etwas wie: Es wird kommen.

      Borix runzelte die Stirn und stemmte die Arme in die Seiten.

      So kannte er Toromic nicht. Der Häuptling hatte den Kopf gesenkt und reagierte nicht auf Turumirs Antwort. War ihm das Verhalten seines Freundes bisher lediglich seltsam vorgekommen, so war er sich mittlerweile sicher, dass Toromic etwas verbarg. Er schien zu wissen, was hier vorging, zumindest ahnte er es. Und was sollte das alte Kräuterweib hier? Sie hielt sich doch normalerweise von den übrigen Dorfbewohnern fern.

      Der Häuptling wandte sich Tarcic zu und musterte das Gesicht seines Bruders. Tiefe Sorgenfalten lagen auf seiner Stirn.

      „Habt ihr ihm zu trinken gegeben?“ fragte er ohne aufzublicken. „Seine Lippen sind ganz trocken.“

      „Ich versuchte es, doch er nahm nichts an“, antwortete Turumir.

      „Gebt mir das Wasser“, befahl Toromic.

      Cassatr reichte ihm die Schale. Toromic schob seinen Arm unter Kopf und Schulter seines Bruders, hob ihn leicht an und führte die Schale an seinen Mund. Als die ersten Tropfen Tarcics Lippen benäßten, zuckte er kurz, und die Männer verspannten sich unbewusst, um beim kleinsten Anzeichen einer weiteren Raserei sofort eingreifen zu können. Doch ihre Sorge war unbegründet. Nach wenigen Augenblicken entspannte sich Tarcic, und er begann, unter allgemeinem Erstaunen, mit tiefen, regelmäßigen Schlucken zu trinken. Dabei öffnete er jedoch weder die Augen, noch gab er mit sonst einem Zeichen zu erkennen, dass er das Bewusstsein wiedererlangt hatte.

      Toromic versuchte mit ruhiger, beherrschter Stimme, Kontakt mit seinem Bruder aufzunehmen: „Tarcic, kannst du mich hören? Ich bin es, Toromic, dein Bruder. Wenn du mich hören kannst, dann antworte jetzt, oder gib mir ein Zeichen, dass du mich verstehst.“

      Tarcic reagierte nicht.

      Toromic versuchte es noch einmal. „Tarcic, kannst du mich hören?“

      Wieder war der flache Atem seines Bruders die einzige Antwort.

      Er blickte auf. „Versuche du es, Turumir. Vielleicht erkennt er deine Stimme.“

      Turumir ließ sich an der Bettstatt nieder.

      „Tarcic, Gefährte vieler Schlachten, heiliger Mann des Clans, hörst du mich?“

      Tarcic lag regungslos.

      Turumirs Miene verzog sich schmerzvoll. Mit belegter Stimme sagte er: „Wenn du mich hören kannst, so sage den Dämonen, die dich festhalten, dass die Krieger der Selgovater nicht bereit sind, sich einen der ihren entführen zu lassen. Wir sind zwar nicht fähig, sie mit der blanken Waffe zu bekämpfen, doch es gibt andere, mächtige, heilige Männer, die nicht zögern werden, dich zu befreien. Kein Selgovater wird so gehen!“

      Toromics Stimme ertönte: „Bis auf Carduc und Cassatr könnt ihr euch nun alle zurückziehen.“

      Er sah die beiden an.

      „Ihr bewacht die Hütte. Im Morgengrauen sollen euch Temdin und sein Bruder Dolur ablösen.“

      Während die übrigen Krieger die Hütte verließen, wandte er sich an Borix: „Gehe ins Versammlungshaus. Ich bin sicher, dass sich die Edlen und Krieger noch dort befinden, denn sie werden über die Ereignisse beraten. Wähle zehn der besten Reiter des Clans aus und beordere sie ans Tor. Keiner der Edlen oder Unterführer ist befugt, deinen Weisungen zu widersprechen, denn du handelst in meinem Namen.“

      Borix war von der schnellen Wandlung seines Freundes überrascht. Eben noch hatte Toromic völlig verunsichert gewirkt, und plötzlich erteilte er mit gewohnter Entschlossenheit Befehle.

      „Ich muss mit dir sprechen, mein Ri“, forderte Borix.

      Toromic und die übrigen Anwesenden sahen ihn überrascht an.

      Toromics Miene verfinsterte sich. „Nicht jetzt. Gib erst meinen Befehl weiter und komme dann zu meinem Heim. Dort wollen wir reden.“

      Borix zögerte kurz, dann wandte er sich zum Gehen.

      Als sich die Schritte der Männer entfernt hatten, sah Toromic zu Helwed, die verloren neben dem Eingang stand.

      „Nun, Helwed, überlasse ich ihn dir. Ich kann nichts weiter für ihn tun und die übrigen Männer auch nicht. Versuche ihn zu wecken und berichte mir im Morgengrauen von deinen Fortschritten. Wenn du etwas brauchst, sage es Carduc und Cassatr. Ich muss mich nun ausruhen.“

      Er sah ihr lange in die Augen. „Wache gut über ihn.“

      Helwed nickte untertänig.

      Novoronix

      Toromic wandte sich ab und verließ die Hütte. Sein Kopf fühlte sich schwer an und war taub vor Sorgen und bleierner Müdigkeit. Windböen zerrten an Umhang und Gesicht. Die Kälte erschien ihm angenehm, nach diesen Stunden der Beschwörung und schrecklicher Angst.

      Er blickte in den Nachthimmel.

      Mond und Sterne waren hinter düsteren Wolkenmassen verborgen, die träge am Firmament entlangzogen und alles, was in ihre Nähe kam, zu verschlucken schienen.

      Borix hatte etwas gemerkt. Und wie er seinen Freund kannte, würde dieser so lange in ihn dringen, bis er das Geheimnis preisgab. Toromic fluchte vor sich hin, dann raffte er seinen Umhang zusammen und machte sich auf den Heimweg.

      Als Borix und Turumir kurz darauf im Versammlungshaus eintrafen, waren die Krieger in heftige Wortgefechte verwickelt. Nur wenige waren nach Hause gegangen.

      Gerade rief Matoluric, ein alter Unterführer: „Dieser Meinung bin ich nicht. Im Gegenteil. Alles, was er jetzt braucht, ist unsere volle Unterstützung!“

      „Ich sage nicht, dass wir ihn nicht unterstützen sollen. Ich sage nur, dass wir aufpassen müssen, ihn nicht auch noch zu verlieren. Da so etwas aber schnell geschehen kann, sollten wir uns eine Rückendeckung verschaffen, indem wir - nur für den Fall - einen Nachfolger wählen.“

      Die unangenehm hohe Stimme des Sprechers verstummte, als er und die übrigen Anwesenden Borix und Turumir wahrnahmen.

      Der Mann, der gerade die Wahl eines Nachfolgers vorgeschlagen hatte, war der Edle Novoronix. Der geiergesichtige, schwächliche Edeling war einer der wohlhabendsten Männer des Clans und vereinte, nach Toromic, die größte Anzahl von Kriegern in seinem Gefolge. Aus seiner Familie waren vor langer Zeit einige Häuptlinge hervorgegangen.

      Jeder im Clan wusste, dass er nach dem Tod des Toluric sofort die Macht an sich gerissen hätte, wären Toromic und Tarcic nicht schon damals ein solch starkes Bruderpaar gewesen. Sie hatten beide das entsprechende Alter besessen, die Erbfolge anzutreten, doch Tarcic hatte dem Älteren den Titel friedlich überlassen und damit die Grundlage für eine geregelte Regentschaft seines Bruders geschaffen.

      Gemeinsam hatten sie daraufhin die Geschicke der Selgovater gelenkt. Doch seit Tarcic zum Seher geworden war, hatte er jeden Anspruch auf weltliche Titel verloren, denn man konnte nur eines sein, Mittler zur Welt der Ahnen oder aber Kämpfer in dieser Welt.

      Seitdem gab es nur noch einen Mann, der Novoronix den Weg auf den Thron versperren konnte: Toromic.

      Borix