Susanne B. Kock

Wilhelmina


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      3.

      „Und hätten wir der Liebe nicht”, Pastor Neumanns tiefer Bariton drang problemlos von der Kanzel bis in die letzte Reihe der deutschen Kirche vor, die, ungewöhnlich für einen Dienstagvormittag, brechend voll war. Außer der nächsten Familie in den beiden vorderen Reihen, kannte Marthe fast niemanden aus der großen Schar der Trauernden, in der augenscheinlich alle Alters- und Sozialklassen vertreten waren. Leicht eingetrocknete ältere Damen mit lila Dauerwelle eingehüllt in perfektes Make-up und elegante Pelzmäntel begleitet von befrackten Herren mit kräftigem Bauchansatz und dünnem Haarschopf, durch den leberfleckige Kopfhaut schimmerte. Solide, leicht übergewichtige Mittvierzigerinnen in praktischen Windjacken über Röcken, deren elastischer Bund maximale Bewegungsfreiheit garantierte und mit kräftigem Schuhwerk mit geländegängiger Profilsohle. Männer in unspektakulärem Bürooutfit, das sich oft nur in der Wahl der Schlipsfarbe von dem des Banknachbarn unterschied. Zu Marthes großem Erstaunen war auch eine Gruppe Teenager in abenteuerlichen Gewändern, farbenfrohen Frisuren und alternativem Make-up erschienen, die wahrscheinlich aus irgendeiner der zahlreichen sozialen Organisationen stammte, in der ihre Tante sich mit Spenden oder persönlich engagiert hatte. Der Gottesdienst hatte gerade erst begonnen, aber Marthe putzte sich schon zum dritten Mal diskret die Nase. Kirchliche Amtshandlungen, egal ob Hochzeit, Taufe oder Beerdigung übten stets einen unfehlbaren Effekt auf ihre Tränendrüse aus. Ihr Schniefen hatte nur wenig mit Trauer um ihre verstorbene Tante zu tun, sondern kam als spontane physische Reaktion so wie beim Löffeln von heißer Suppe. Auch wenn Marthe sich das nie eingestanden hätte. Eigentlich fühlte sie sich wohl, ja fast zufrieden und abgeklärt hier in der festlich geschmückten warmen Kirche mit dem überwältigenden Blumenduft, den die im Mittelgang arrangierten Sträuße und Kränze aussandten. Endlich mal wieder ein guter Anlass, um in Ruhe ein bisschen zu heulen. Das hatte sie zuletzt vor ein paar Monaten bei irgendeinem schmalzigen Liebesfilm getan, an dessen Titel sie sich nicht mehr erinnern konnte. Durch die klaren hohen Fenster des Kirchenschiffes konnte sie die vorbeiziehenden dicken, grauen Wolken am zerfetzten Novemberhimmel und das Kommen und Gehen der Graupelschauer verfolgen, die ab und an wie Kieselsteine gegen das Glas prasselten. Während draußen der erste Wintersturm über die Stadt fegte und Regen, Blätter, Plastiktüten und gelegentlich lose Dachpfannen durch die Luft jagte, herrschte im von riesigen Messingkronleuchtern erhellten Kirchenschiff Andacht und Frieden. Der vor dem Altar aufgebahrte Sarg, der unter einem dichten Teppich aus roten und weißen Blumen fast verschwand, wurde beidseitig von jeweils drei Logenschwestern als Ehrenwache flankiert. Marthe schätze die beiden ältesten unter ihnen auf Ende siebzig und bewunderte ihre Standhaftigkeit. Sie mussten ihre Tante wirklich sehr gemocht haben, wenn sie das hier so steifbeining über sich ergehen ließen. Und Tante Wilhelm musste ihrerseits Marthe sehr gemocht haben, sonst hätte sie ihr wohl kaum das Haus hinterlassen, an dem sie selbst so gehangen hatte. Alle waren in irgendeiner Weise testamentarisch bedacht worden, ihre Geschwister, ihre Mutter, die Familie ihres verstorbenen Mannes, Organisationen und Institutionen. Alle hatten eine Scheibe vom Kuchen, der sich als sehr viel größer als vermutet erwiesen hatte, abbekommen. Tante Wilhelm war mehr als nur wohlhabend, Tante Wilhelm war reich gewesen. Sogar Theresa Twiete, die sich aufgrund des äußerst gespannten Verhältnisses zur Schwägerin keinen Illusionen über eine eventuelle Erbschaft hingegeben hatte, konnte sich eines positiv überraschten „na ja, zwar 35 Jahre zu spät, aber immerhin", nicht enthalten, als sie blitzschnell ihren eigenen Erbanteil in harte D-Mark umrechnete.

      Solange Marthe sich erinnern konnte, hatte man bei ihr zuhause von Tante Wilhelms Wohlstand gesprochen. Zu einer Zeit Anfang der 50er Jahre, als die meisten Deutschen nur sehr langsam mit dem, was die Nachwelt gemeinhin als Wirtschaftswunder bezeichnete in Berührung kamen und ein großer Teil der arbeitsfähigen Bevölkerung wirtschaftlich nur bescheidene Fortschritte machte, Wohnraum noch rationiert war und Autofahren für den Durchschnittsdeutschen, wenn überhaupt, im Taxi stattfand, sprach man fast andächtig über Tante Wilhelms großes Haus in Kopenhagen, ihre Haushälterin, teuren Autos und Auslandsreisen. Aus ihren Kinderjahren erinnerte Marthe sich an die absolut nicht für Kinderohren bestimmten und daher umso interessanteren abendlichen Gespräche und Auseinandersetzungen zwischen ihren Eltern. An Theresa Twietes Vorwürfe, weil Heinrich Twiete sich weigerte, seine Schwester um Geld anzupumpen. Stattdessen lieber teure Kredite aufnahm, die die empfindliche Balance von Einnahmen und Ausgaben im Twieteschen Haushalt nachhaltig störten. „Ich bin erwachsen, bin mein eigener Herr und habe nicht vor, mich an den Rockzipfel meiner großen Schwester zu hängen”, pflegte ihr Vater in diesen immer nach den gleichen Muster ablaufenden Gesprächen in erkämpft ruhigem Ton zu antworten, woraufhin ihre Mutter stets mit verächtlichen verbalen Hieben konterte. Sein wahrlich nicht imponierendes Einkommen, seine Mittelmäßigkeit und seinen fehlenden Ehrgeiz beklagte. Marthe erinnerte sich eigentlich mehr an den abfälligen Ton als an den Inhalt dessen, was Theresa ihrem Gatten in diesen abendlichen Auseinandersetzungen mit einer gewissen Regelmäßigkeit vorzuwerfen pflegte. Fast alle Diskussionen endeten mit der mütterlichen Standardanklage, dass ihr Vater nicht in der Lage sei, seine Familie anständig zu versorgen. Auf jeden Fall nicht ausreichend, um ihr - Theresa Twiete - ein Leben auf dem Niveau zu bieten, das ihr zustand. Dass es eigentlich nur ihrer Sparsamkeit und Opferbereitschaft zu verdanken war, dass man nicht am Hungertuche nagte. Im Laufe der Zeit lernte Marthe, die verschiedenen zum Kampf eingesetzten Elemente zu erkennen und zu unterscheiden. Sie konnte anhand der mütterlichen Stimmlage beurteilen, in welcher Phase sich die elterlichen Streitgespräche gerade befanden und kannte die Patt-Situationen, die stets in einem mehrtägigen Schweigen auf beiden Seiten resultierten. Irgendwann hatte Marthe aufgehört, sich Sorgen über eine eventuelle Scheidung ihrer Eltern zu machen und stattdessen beschlossen, Auseinandersetzungen und bittere Vorwürfe dieser Art als natürlichen Teil des elterlichen Ehealltags zu akzeptieren. Einer Sache war sie sich damals ganz sicher: Sie würde niemals heiraten, das gab nichts als Ärger. Nein, lieber wollte sie für sich alleine in einer der schönen hellen Neubauwohnungen mit modernen Möbeln leben, so wie ihre Lieblingstante Uschi, die jüngste Schwester ihrer Mutter. Die arbeitete in einem Anwaltsbüro, lachte viel, ging tanzen, schminkte sich, hatte eine elegante Garderobe und war mindesten einmal in der Woche beim Friseur. Wenn Marthe sie besuchte und manchmal an einem Wochenende bei ihr übernachten durfte, gab es exotische Gerichte wie Spaghetti mit geriebenem Parmesankäse, dessen Geruch Marthe immer ein bisschen an Erbrochenes erinnerte und sie durfte alle Tante Uschis Lippenstifte ausprobieren. Tante Uschi hatte viele Freundinnen und Bekannte und einen festen Freund, der auch oft bei ihr war, wenn Marthe sie besuchte. Er war viel älter als ihr Vater, arbeitete bei der Volkszeitung und brachte stets Blumen, Bücher, Schallplatten oder eine Schachtel Pralinen mit, wenn er sie besuchte. Tante Uschi und Onkel Joachim konnten stundenlang heftig über Politik, Zeitungsartikel oder neue Bücher streiten, ohne sich dabei jemals so in die Haare zu geraten wie Marthes Eltern. Marthe liebte diesen Onkel Joachim, weil er sie im Gegensatz zu den meisten anderen Erwachsenen einschließlich ihrer eigenen Eltern ernst nahm. Und im Gegensatz zu den meisten anderen Erwachsenen offen seine eigenen Unzulänglichkeiten und Fehler einräumte. Manchmal lud er Uschi und Marthe sonntags zum Essen in ein Restaurant in der Stadt ein oder in ein Cafe, wo Marthe die teuerste Torte bestellen durfte und Kakao mit Sahnehaube. Wenn Tante Uschi ihn bei solchen Gelegenheiten manchmal ein glückliches „Achim, du verwöhnst uns aber wieder nach Strich und Faden”, zuflüsterte, bekam er oft diesen merkwürdigen Blick, tätschelte ihre Hand und murmelte irgendetwas, was sich wieKarpfen anhörte und sich bei späterem Nachfragen als carpe diem erwies. An einem solchen Wochenende beschloss Marthe, dass ihr Freund einmal so sein sollte wie Onkel Joachim und ihre Beziehung auf keinen Fall so wie die ihrer Eltern.

      Marthe hatte keine Vorstellung davon, was ihr das gewaltige Erbstück bei einem schnellen Verkauf einbringen konnte. In ihren Augen handelte es sich um ein malerisch mit Wein und Efeu überwuchertes Märchenschloss in einem herrlichen, verwunschenen Park, eine pompöse Patriziervilla in einem exklusiven Viertel, die in Hamburg ein Vermögen einbringen würde. Entsprechend hoch waren ihre Erwartungen. Vielleicht war sie schon Millionärin. Sie schloss überwältigt die Augen und stellte sich vor, wie viele Jahre sie bei Medinex würde arbeiten müssen, um eine Million netto zu verdienen, wurde aber rasch in die Realität zurückgerufen, als die Trauergemeinde sich unter Räuspern und Füssescharren erhob. Die Orgel setzte brausend ein und Marthe lief es kalt den Rücken hinunter, als der geschmückte Sarg mit den sterblichen