Susanne B. Kock

Wilhelmina


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erforderte. Marthe sandte einen dankbaren Gruß an Frau Meyer-Wüns, ihre alte Volksschullehrerin, die mit Argusaugen darüber gewacht hatte, dass ihre Schüler das verhasste hellblaue Brauseübungsheft mit säuberlichen Sütterlinbuchstaben füllten. „Ihr werdet es mir noch einmal danken, Kinder”, war ihre Standardantwort auf das vereinzelte Murren und Aufbegehren derjenigen Schüler gewesen, die bereits beim Erlernen des lateinischen Alphabets an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit gestoßen waren und diese altmodische Krakeleien aus ganzem Herzen verabscheuten. Auf sechs soliden, cremefarbenen Bögen Büttenpapier mit Wasserzeichen und geprägtem Briefkopf erklärte Wilhelmina Rastrup ihrer Nichte in steiler, formvollendeter Schrift die Dispositionen, die sie in ihrem Testament vorgenommen hatte. „Auf gut Deutsch, weil ich mir nicht sicher bin, dass dieser Winkeladvokat es richtig wiedergeben kann, wenn ich erst mal unter der Erde bin.“ Auch das war typisch für ihre Tante, ein gesundes und mit zunehmendem Alter wachsendes Misstrauen gegenüber Anwälten, Steuerberatern und anderen, die in ihren Augen primär davon lebten, dass der Alltag für den Normalverbraucher so kompliziert geworden war, dass man ihn ohne fachmännische Hilfe dieser Art nicht mehr bewältigen konnte. „Vielen Dank Tantchen, besser hättest du diese Erbschaft überhaupt nicht timen können." Marthe hob ihre leere Kaffeetasse und prostete in Richtung Kaminsims, auf dem zwischen dem Wirrwarr von Kinderporträts in Sepiabraun bis Kodakcolor in einsamer Majestät das Hochzeitsbild von Wilhelmina und Laurids Rastrup herausragte.

      Ein schönes Paar, dachte Marthe. Wilhelmina musste auf dem Bild Anfang dreißig, Laurids um die vierzig gewesen sein. Mit seinem jungenhaften Blick, dem leicht ironischen Lächeln und dem Grübchen am Kinn, erinnerte er Marthe an einen sehr schlanken Cary Grant und ihre Tante mit dezentem Make-up und elegant gestylter Frisur hätte ohne Probleme auf der Vorderseite einer Modezeitschrift posieren können. „Match made in heaven, ich hoffe ihr trefft euch da wieder.“ Marthe stemmte sich aus Sessel hoch und ging in die Küche, um Kaffeewasser aufzusetzen. Sie musste sich eine richtige Kaffeemaschine besorgen, der Kaffee aus dieser gläsernen Stempelkanne war immer lauwarm, wenn sie endlich zum Trinken kam. Während sie darauf wartete, dass das Wasser kochte, zündetet sie sich eine Zigarette an und sah in den Garten, in dem sich die kahlen Obstbäume filigran vom grauen Himmel abhoben. Zwei Amseln pickten in friedlichem Einvernehmen an einer Apfelmumie, Blaumeisen hingen am Kopf einer Sonnenblume, pickten die letzten fetten Kerne zwischen den leeren braunen Hülsen heraus und fraßen sich Winterspeck an. Kater Gustav, zerrauft wie immer und leicht hinkend, trottete über den Rasen und steuerte zielsicher auf die Katzenluke in der Küchentür zu. Es war so still, dass sie das Läuten der Kirchenglocken hörte, die den Feierabend ankündigten. Welch ein paradiesischer Frieden! Kein brummender Verkehr, kein hysterisches Hupen, kein klingelndes Telefon, nicht einmal ein Radio - einfach nur Ruhe. Dazu der ungewohnte Luxus, verschwenderisch mit dem Platz umgehen zu können. Laut Plan waren hier 380 m2 Wohnfläche - zuzüglich Schrankzimmer, Keller und Boden. Und dann war da natürlich der Garten. 2500 Quadratmeter gärtnergepflegtes Grün, wo man selbst um diese Jahreszeit noch die Blütenpracht erahnen konnte, die hier im Sommer herrschen musste. Eigentlich keine schlechte Alternative zu ihren zentral gelegen 80 Quadratmetern im dritten Stock mit Bushaltestelle in 50 Meter Abstand.

      Nach der ersten Nacht alleine im Haus, in dem sie sich verloren und einsam gefühlt hatte, nicht hatte einschlafen können, weil alle Sinne angestrengt auf die fremden Geräusche, das Knirken von Dielenbrettern und das Blubbern der Luftblasen in den Heizungsrohren konzentriert waren, hatte sie ernsthaft überlegt, zurück ins Hotel zu ziehen. Zurück in anonyme, überschaubare Räume, unter Menschen, einem Frühstücksbüffet, wo der Kaffee am gedeckten Tisch serviert wurde. Doch bereits am Nachmittag, als die Sonne sich durch die graue Wolkendecke kämpfte und Licht durch die hohen Fenster strömte, das sich in den geschliffenen Scheiben der Flügeltüren, den Kristallspiegeln und dem großen Kronleuchter in allen Regenbogenfarben brach, begann sie entgegen aller Vernunft und Absicht das Haus in Besitz zu nehmen. Nach dem Frühstück machte sie es sich mit einem Buch in einem der geräumigen Korbsessel in der von Makler Sørensen verschmähten Glasveranda gemütlich und genoss dort Wärme und Nichtstun. Sie hatte ein paar Stücke von Tante Wilhelms schlimmstem Kitsch „alles königliches Porzellan Kind, unter Sammlern ein Vermögen wert“, in den Keller gestellt, ein paar Möbel verrückt, die zahlreichen Vasen mit Blumen vom Straßenhändler gefüllt, der seine bunte Pracht erstaunlich billig anbot und ihr sogar noch einen besonderen Rabatt gewährt hatte. „Frauen sollten ihre Blumen nicht selber kaufen! Sie sollen sie von ihrem Liebsten geschenkt bekommen“, hatte er beim Überreichen des Straußes proklamiert. Seit sie herausgefunden hatte, auf welche Weise sich der Abzug im Kamin ohne Kraftanstrengung öffnen ließ, hatte sie sich mit einem offenem Kaminfeuer verwöhnt, was für Marthe, die normalerweise über fünf gelblich gestrichenen Standardheizkörper verfügte, den Inbegriff von Luxus darstellte. Selbst der betagte Kühlschrank und die geräumige Speisekammer enthielten mehr kulinarische Attraktionen als in ihrer Hamburger Wohnung. Wenn sie sich abends mit einer Tasse Kaffee im riesigen Badezimmer in der alten Emaillebadewanne räkelte, las und rauchte, stellte sie sich vor, dass das hier der Beginn eines neuen und glücklicheren Lebens gemeinsam mit Stefan werden könnte. Wenn er wollte. Auf der anderen Seite: Was sollte sie hier mit einer fremden Sprache, ohne Job, ohne Freunde, in einem Riesenhaus alleine mit einem alten, fusselnden Kater. Würde Stefan sein warmes Nest in Blankenese verlassen und mit ihr gemeinsam hier ein neues Leben anfangen? Es war das erste, was ihr eingefallen war, als sie ihr Erbe mit all seinen schnörkeligen Details gründlich inspizierte. Das hier würde selbst ihrem anspruchsvollen Geliebten als passender Wohnsitz genehm sein. In gründlich renoviertem Zustand natürlich. In den letzten Tagen war ihr aufgegangen, wie vieles in ihrem Leben sie von Stefans Entscheidung abhängig gemacht hatte. Recht besehen ihre gesamte Zukunft. Ihre ewigen Vorbehalte beim Akzeptieren von Einladungen bei Freunden, um nicht eines der seltenen gemeinsamen Wochenenden mit ihm zu riskieren, das abendliche Warten auf eventuelle Gute-Nacht-Anrufe, das Glücksgefühl, wenn er sonnabendmorgens zu ihr kam und die Traurigkeit wegen der bevorstehenden Trennung, die sich schon beim späten sonntäglichen Frühstück einstellte. Eigentlich bestand ihre derzeitige Lebensplanung hauptsächlich darin, Rücksicht auf sein Leben und seinen Kalender zu nehmen. Pläne, über die sie nie offen sprachen, sondern die sie sich aus seinen Bemerkungen, seinem Verhalten, seinen Antworten selbst zusammenreimte.

      Das Schlimmste an diesem Verhältnis war die für Marthe ungewohnte Defensive, das ewige Sich-Verteidigen vor ihren Freunden. Auch wenn nur wenige es so offenherzig sagten wie Margrit, dann waren sich alle einig, dass dieser Stefan nie seine reiche Frau und sein etabliertes Familienleben in Blankenese aufgeben würde und dass Marthe gut daran täte, sich so schnell wie möglich aus dieser Beziehung zurückzuziehen. „Du bist noch einigermaßen frisch, siehst gut aus, bist intelligent, such Dir einen, der mehr als nur Bettakrobatik jagt. Wenn du noch ein paar Jahre wartest, sind nur noch die Gebrauchten und Angedetschten übrig und du wirst ja auch nicht jünger", pflegte Margrit mahnend zu sagen, wenn das Thema auf Zukunft und Träume kam. Margit musste es wissen, hatte sie sich doch rechtzeitig einen intelligenten und begabten Mann an der Uni besorgt, der mit der gleichen Selbstverständlichkeit mit der Margit nach dem Examen ins Berufsleben einstieg seinen Anteil an Kindern und Haushalt übernahm. Ewald verdiente anständig als Forscher in der Medizinalindustrie, er liebte seine Frau und seine Kinder, wollte sogar noch mehr, was er auch laut sagte, reparierte Autos und Waschmaschinen, las Bücher und den Kulturteil der Zeitung, tapezierte die schrägsten Dachkammern mit Mustertapeten und ging lieber ins Kino als vor dem Fernseher einzuschlafen. Marthe war manchmal richtig neidisch auf Margit. Nicht auf deren heile Welt, sondern auf das Selbstverständnis, mit der sie diese heile Welt mit dem perfekten Mann, den wohlgeratenen Kindern und dem passenden Job einfach für sich als richtig und verdient beanspruchte. Das war das Leben, was sie leben wollte, sie hatte es sich erarbeitet, kein Grund irgendjemandem außer sich selbst dafür dankbar zu sein oder sich durch Zweifel am eigenen Wert zu zermürben. Wenn man so einen Mann und so ein Leben wie Margrit hatte, dann war es einfach, anderen Vorträge zu halten.

      Marthe stöhnte leise und dachte zum x-ten Mal über die Sackgassensituation ihres eigenen Lebens nach. Über ihre Unfähigkeit etwas Entscheidendes in die richtige Richtung zu unternehmen, sei es in Beziehung auf Job, Finanzen oder Privatleben. Sie zündete sich eine Zigarette an und beschloss jetzt - jetzt sofort - etwas zu ändern. Sie würde Stefan anrufen und die seit langen ausstehende Entscheidung provozieren. Er hatte über ein Jahr lang Zeit