Susanne B. Kock

Wilhelmina


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auf die kleinen Lücken und Freiräume in seinem ausgerichtet hatte. Damit musste jetzt Schluss sein.

      Marthe erhob sich resolut, suchte in ihrem Kalender nach seiner Privatnummer, die sie nur für den alleräußersten Notfall, der nie eintreten würde, notiert hatte. Zweimal legte sie den Hörer blitzschnell wieder auf, nachdem sie die lange Nummer schon eingetastet hatte. Sie zündete sich eine frische Zigarette an, tastete erneut und lauschte auf das Freizeichen, das mit einer Sekunde Verspätung zu hören war. Ihr Magen rebellierte und sie konnte merken, dass ihre Hände schweißnass wurden. „Hier ist Anna, wer ist da?" Eine dünne Kleinmädchenstimme, im Hintergrund das Klirren von Gläsern, Lachen, Frauenstimmen. „Anna, wer ist dran?" Marthe legte schnell die Hand auf die Gabel. „Tschuldigung, falsch verbunden”, murmelte sie in die tote Leitung und legte den Hörer auf. Nein, so ging das nicht. Nicht am Telefon, sie musste ihn sehen, ihm gegenübersitzen, seine unmittelbare Reaktion merken. Aber zumindest ein Datum musste sie mit ihm abmachen. Zögernd griff sie erneut nach dem Hörer und fuhr erschreckt zusammen, als das Telefon im selben Augenblick schrill zu läuten begann.

      „Guten Abend Frau Twiete, ich hoffe, dass ich nicht störe, mein Name ist Mads Grønholt von der Kanzlei Berg, Madsen & Grønholt. Ich weiß nicht, ob Sie sich an mich, erinnern wir haben uns auf der Beerdigung ihrer Tante begrüßt, hhmm, wir, … unsere Kanzlei hat Ihrer Tante juristischen Beistand geleistet.” Marthe musste ein Lachen unterdrücken. Offenkundig einer von Tante Wilhelms geschmähten Winkeladvokaten, der Beute roch. Sie ließ die Gesichter der dunkelgekleideten Herren Revue passieren. Zu viele neue Namen, zu viele geschüttelte Hände, wahrscheinlich einer der distinguierten Grauchen um die 70, obwohl sich die Stimme jünger und eigentlich noch ziemlich agil anhörte. „Nein, es tut mir leid, aber ich kann mich wirklich nicht an Sie erinnern, es waren so viele Menschen in der Kirche …”

      Er unterbrach sie und ersparte ihr eine langatmige Entschuldigung. „Ach, Sie brauchen sich wirklich nicht zu entschuldigen“, sie registrierte sein leises, warmes Lachen. „Wenn es die nahe Familie trifft, hat man ja reichlich mit seinen eigenen Gedanken zu tun." Marthe bemerkte sein sehr gepflegtes, nahezu akzentfreies Deutsch, in dem nur die s-Laute seine skandinavische Herkunft verrieten. „Ich will Sie auch gar nicht weiter aufhalten, Sie haben bestimmt alle Hände voll zu tun mit dem Haus, ähm, der Hinterlassenschaft, ich, also ich wollte Ihnen nur unsere, also meine Hilfe anbieten.“ Er machte eine kleine Pause. „Ganz unverbindlich natürlich.”

      „Och, ich habe eigentlich gar nicht so viel zu tun." Das war ihr einfach so rausgerutscht, kam aber von Herzen. „Oder besser gesagt, all das was getan werden muss, kann ich nicht selber machen”, erklärte sie lachend. „Vielleicht kann ich Ihnen ja etwas behilflich sein, wir haben hier doch zumindest unsere Verbindungen und Sie als Ausländerin”, er ließ den Rest des Satzes in der Luft hängen.

      Fünf Minuten später hatte Marthe eine Verabredung zur frokost mit Mads Grønholt für den kommenden Donnerstag. Im Langeliniepavillon, „weil der ja gleich um die Ecke liegt und es dann nicht so schrecklich formell ist, wie in der Kanzlei.“ Es gab anscheinend eine ganze Menge Leute, die so grosse Stücke auf Ihre Tante gehalten hatten, dass sie jetzt sogar ihrer Nichte helfen wollten. Marthe war dankbar. Sie konnte angesichts ihrer baufälligen Erbschaft jede Hilfe gebrauchen. Auf dem Weg in die Küche dachte sie noch einmal kurz daran, Stefan anzurufen. „Ach was, jetzt habe ich schon fast ein Jahr gewartet, dann kann das auch noch bis morgen warten“, murmelte sie schulterzuckend, riss die Rolle mit den Schokoladenkeksen auf und schenkte sich den letzten lauwarmen Kaffee ein.

      Der Langeliniepavillon war an diesem trüben Novembertag nur schwach besucht. Marthe war zehn Minuten zu früh gekommen, sie konnte sich nur schwer an die Tatsache gewöhnen, dass man beim Durchqueren von Kopenhagen im Auto weder größere Staus noch Parkplatzprobleme einkalkulieren musste. Außer ihrem Alfa standen nur drei Wagen auf dem Parkplatz direkt vor dem Restaurant. Das Gebäude war einer der typischen, kantig-schmucklosen Kästen, mit denen man in den bauboomenden 60er Jahren die Städte verunziert hatte. Mit seinen riesigen Panoramafenstern musste es auf jedenfall konzipiert worden sein, bevor Energiesparen zum Volkssport wurde. Sie trat in die Lobby und war nach dem spartanischen Äußeren angenehm überrascht über die, wenn auch leicht verschlissene, Pracht im Inneren. Ein Wappen und unzählige Pokale in divergierender Geschmacklosigkeit lieferten umgehend die Erklärung. Hier beherbergte man den königlichen Yachtklub. Ein freundlicher Kellner geleitete sie zu einem reservierten Fenstertisch, fragte, ob sie etwas zu trinken wünsche und entfernte sich lautlos und lächelnd mit ihrem Mantel. Sie sah sich neugierig um und registrierte, dass abgesehen von ihrem eigenen nur zwei weitere Tische in dem großen Raum besetzt waren. Alles war sehr still und außer der leise geführten Unterhaltung der beiden alten Damen drei Fenster weiter, unterbrach nur ab- und an ein Klingen von Besteck oder Gläsern die Stille, wenn sich der Kellner an den bereits einwandfrei geputzten Kristallgläsern oder dem wie mit dem Lineal ausgerichteten Tischbesteck zu schaffen machte.

      Selbst der Hafen mit den Werftanlagen schien wie ausgestorben. Kein Wind regte sich, das bleigraue Wasser schwappte träge gegen die Promenade und nicht einmal die Möwen ließen sich von ihren Ruheplätzen auf den algenbewachsenen Findlingen fortlocken. Marthe zündete sich eine Zigarette an, inhalierte genussvoll und blies den Rauch langsam in Ringen wieder aus dem Mund, während sie ihren Blick über die nassglänzende Promenade schweifen ließ.

      Eine Schar Kindergartenkinder, vermummt in kreischbunte wind- und wasserabweisenden Overalls zog unter der resoluten Führung ihrer Erzieherinnen in formlosen, vernünftigen Jacken und dem unentbehrlichen Fjellräven Rucksack schnatternd und lachend in Richtung Kleine Meerjungfrau. Marthe musste an Stefans Tochter und den Anruf des gestrigen Abends denken. Es war feige von ihr gewesen, einfach aufzulegen. Sie würde es heute Nachmittag noch einmal bei Stefan im Büro versuchen und diesmal würde sie ihn zu einer Aussprache zwingen. Die unerwartete Erbschaft und die damit verbundenen finanzielle Freiheit stellten ihr plötzlich Möglichkeiten in Aussicht, die sie vorher nicht hatte oder nicht gesehen hatte. Die einsamen Abende in Tante Wilhelms Haus hatten ihr Zeit zum Nachdenken gegeben. Kein Fernsehen, keine Medinex, kein Dr. Hamann, keine nörgelnden Kunden, keine Freunde, Kinoausflüge oder Kneipenbesuche, nicht einmal die Zeitung, die jeden Morgen mit einem satten Laut auf die Fliesen der Diele klatschte, konnte sie lesen. Ein paar Ausfahrten auf dem alten Fahrrad in die nächste Umgebung, Einkaufen im lokalen Supermarkt. Das waren die sozialen Höhepunkte ihres Lebens. Vielleicht sollte sie sich zu einem dänischen Sprachkurs anmelden. Mit den Ergebnissen der paar Monate, die sie damals als reine Beschäftigungstherapie nach Manfreds Landesflucht an der Volkshochschule gemacht hatte, konnte sie nicht mal morgens Brötchen kaufen. Niemand verstand ihre mühsam artikulierten Sprachbrocken. Die meisten schlugen sofort ins Englische um, selbst die massive Bäckerdame, die in ihrem rot-weißen Kittel genauso appetitlich aussah wie ihre duftende Brötchenauswahl, hörte sich an als wäre sie gerade einer amerikanischen Fernsehserie entsprungen.

      Marthe fühlte sich wie in einem behaglichen Vakuum, konnte sich nicht erinnern, sich trotz der eher bescheidenen kilometermäßigen Entfernung jemals so weit weg von Zuhause und lästigen Zeitzwängen gefühlt zu haben und musste sich eingestehen, dass sie diesen Zustand genoss. Endlich einmal nach Herzenslust herumtrödeln. Niemandem Rechenschaft darüber ablegen zu müssen, was man mal wieder auf morgen verschoben hatte. Wenn Stefan jetzt nicht … Marthe wurde aus der Ausmalung ihrer Drohung, was passieren würde, wenn er jetzt nicht wollte, herausgerissen. „Ich hoffe ich habe Sie nicht zu lange warten lassen, aber wie das mit Klienten manchmal so ist, da wollte es einer ganz genau wissen." Marthe fuhr zusammen, fühlte sich wie bei verbotenen Gedanken ertappt und blickte in ein unerwartet jugendliches Gesicht mit geröteten Wangen und in ein Paar fröhliche blaue Augen hinter stahlgerahmten Brillengläsern, die sie schnell, aber dennoch gründlich musterten.

      „Aber ich bitte Sie“, antwortete sie hastig. „Nett, dass Sie sich überhaupt die Zeit genommen haben.” Marthe war aufrichtig erfreut. Wenn man sich innerlich auf einen leicht angeknitterten Sechziger in Anzug und Weste mit goldener Uhrkette vorbereitet und sich dann unverhofft mit einem wohlkonservierten Mittvierziger in Rollkragenpulli und Wildlederjacke konfrontiert sieht, dann ist das an einem grauen Donnerstag schon Anlass genug zur Freude. „Als ich hörte, dass Sie Besuch von unserem tüchtigen Herrn Sørensen gehabt hatten, musste ich einfach etwas unternehmen." Er lachte und zeigte