Dr. Phil. Monika Eichenauer

Zulassung zur Abschaffung - Die heillose Kultur - Band 2


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der Psychotherapeuten zahlenmäßig und hinsichtlich ihres politischen Handlungsspielraumes klein gehalten wird. Viele Jahre funktionierte das ja sehr gut. Aber jetzt nicht mehr: In Deutschland ist zu viel des Guten, besser des Schlechten, durchregiert worden. Zu viele Menschen brauchen ganz offensichtlich dringend psychische Unterstützung. Und wer, wenn nicht die Psychologischen und medizinischen Psychotherapeuten, weiß genauer, was an der menschlichen „Basis“ vor sich geht? Wer kennt denn das Leben von Patienten bis ins intimste Detail sowie die Konfliktwelt und die Symptome? Die Perspektive des Psychotherapeuten offenbart die Verbindungen zwischen wirtschaftlicher Basis, politischen Veränderungen und individuellem Leben. Das dafür notwendige tiefe Vertrauen seitens der Patienten bringen diese den übrigen Ärzten nicht im erforderlichen Maße entgegen, wie sich an der ersten quartalsmäßig einzureichenden Berichtspflicht der Psychotherapeutenschaft gegenüber Ärzten zeigt: Die Patienten wollen nicht, dass Ärzte oder vor allen Dingen Hausärzte vierteljährlich einen Bericht über ihre Psychotherapie bekommen! Warum sollten sie auch? Die Ärzte sprechen doch auch sonst nicht mit ihren Patienten. Verwunderlich bis ärgerlich ist auch die Vermessenheit der Ärzteschaft gegenüber dem Fachbereich Psychotherapie. Glaubt sie doch tatsächlich, beurteilen zu können, was einem Patienten fehle, und in der Lage zu sein, entlang ihres (fast) blanken Nichtwissens Konsiliarberichte auszufüllen, die im Rahmen des Psychotherapieantrags bei den Krankenkassen eingereicht werden müssen. Schikane? Hybris? Oberflächlich politisch verbrämte, den ausgemergelten „Gott in Weiß“ herbeirufende und mittels standesärztlich deklarierter Plausibilität stets erfolgreiche Machtpolitik, die sich immer in barer Münze auszahlt(e)? Die Quittung wird nun unter anderem durch eine Untersuchung der Bertelsmann Stiftung präsentiert: „Burnout, Depressionen oder Ängste: psychische Probleme bleiben bei Hausärzten einer Umfrage der Bertelsmann Stiftung zufolge oft unentdeckt. Das liege einerseits daran, dass vielen Patienten der Mut zur Offenheit fehle. Zum anderen fragten aber auch Hausärzte nicht ausreichend nach.“ (Ruhr Nachrichten, 4. Mai 2009, Titelblatt: Psychische Probleme unentdeckt.)

      Natürlich bekommen auch Ärzte aufgrund von Symptom, Unfall und Gebrechen mit, was ihren Patienten fehlt, aber eben nicht so, wie Psychologische Psychotherapie: Sie spüren, dass da noch etwas anderes ist, auch wenn sie es nicht benennen oder nur Mutmaßungen anstellen können. Aber neben dem Fachwissen der Psychotherapeuten fehlt ihnen zusätzlich die Zeit für nähere Nachfragen und Informationssammlung durch den Patienten: Und die ist nicht mal eben so nebenbei und ohne fachliches Wissen gemacht – sonst wären sie in der Tat Götter in Weiß. Denn: Psychologische Psychotherapeuten und auch medizinische Psychotherapeuten haben lange dafür studiert, Unterschiede wahrnehmen zu können und dementsprechend bezüglich der von Menschen und Patienten geäußerten Symptome zu differenzieren. Allein dass diese Tatsache des Studiums und der Ausbildung von Fachärzten für Psychotherapie hervorheben muss, ist ein Hinweis auf allgemeine Ignoranz in der Kultur.

      Nun wurde in den letzten vier Jahren eine umfangreiche Studie der Universität Freiburg und dem „Ärztlichen Zentrum für Qualität in der Medizin“ (ÄZQ) zur Grundlage eines neuen Leitlinienprojektes, dass die „Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde“ (DGPPN) ins Leben gerufen habe, weil die Behandlung von Depressiven zwar besser geworden sei, aber noch nicht „optimal abgestuft und abgestimmt zwischen haus-, fachärztlicher und psychotherapeutischer Behandlung“ sei hinsichtlich Diagnostik und Therapie, wie Prof. med. Mathias Berger von der DGPPN im Deutschen Ärzteblatt zitiert wird. (PP, Heft 1, Januar 2010, S. 7) Diese Leitlinie wurde für die Hausärzte erarbeitet und sieht „bei leichten depressiven Episoden eine aktiv-abwartende Begleitung vor.“ Arzt und Patient sollen 14 Tage abwarten, wie sich die Symptome entwickeln – erst dann soll mit einer entsprechenden Therapie begonnen werden – „es sei denn der Patient wünscht eine frühere Behandlung. Dass Arzt und Patienten zusammen entscheiden sollen, zieht sich als roter Faden durch die gesamte Leitlinie“, betont Berger. Und weiter: „Bei leichten bis mittelschweren Erkrankungen ist eine Psychotherapie vorgesehen. Sie wird in diesen Fällen der Gabe von Antidepressiva gleichgestellt. Die Leitlinie empfiehlt, bei akuten mittelschweren Depressionen dem Patienten Antidepressiva anzubieten. Leidet ein Patient unter akuten schweren Depressionen, Dysthymie, Double Depression und chronischen Krankheitsbildern, ist eine Kombinationstherapie von Antidepressivum und Psychotherapie indiziert.“ (Dr.rer.nat. Marc Meißner, 2010, S. 7)

      Mit dieser Leitlinie werden Patienten im ersten Schritt wissenschaftlich begründet in die Hausarztpraxen geleitet, statt zum Psychologischen Psychotherapeuten – auch wenn Patienten weiterhin selbstverständlich im ersten Schritt in Psychologischen Psychotherapiepraxen konsultieren können. Wissenschaft eignet sich besonders gut um neuen Boden zu generieren: Diese Leitlinie ist denn auch für Ärzte erstellt und zeigt auf, wie das Erstzugangsrecht von Patienten geschickt in medizinische Arztpraxen umgeleitet wird. „Dieter Best, Vorsitzender der Deutschen Psychotherapeutenvereinigung, begrüßte diese stärkere Gewichtung der Psychotherapie: ‚Bei allen Schweregraden und allen Formen der Depression ist nach der neuen Leitlinie eine Psychotherapie angezeigt’, erklärt er. ‚Das ist neu.’“ (ebda, S. 7)

      Die Behandlung von Depressionen, soll hier noch einmal ausdrücklich betont werden, lag in jeder Form bisher im Bereich der Psychologischen Psychotherapie – diese Leitlinie ist keine Erweiterung und Anerkennung Psychologischer Psychotherapie, sondern eine Kompetenzerweiterung eines jeden Hausarztes in Deutschland, der nun nicht einmal mehr eine Zusatzbezeichnung für Psychotherapie nachweisen muss! So heißt es denn auch weiter in dem Artikel: „Zeigt die Therapie des Hausarztes nach sechs Wochen keine Wirkung, sollte der Patient überwiesen werden.“ (Ebda.) Der Hausarzt kann in der Leitlinie S-3 nachsehen, wann eine Therapie geändert werden muss. Dafür gibt es red flags (zu Deutsch: rote Flaggen!), also „Indikatoren, anhand derer der behandelnde Arzt erkennen kann, wann die Therapie geändert oder der Patient überwiesen werden sollte.“ (Ebda.) Red flags ersetzen die Rote Karte, die die Psychologische Psychotherapeutenschaft (PP) zu diesem Thema im Vorfeld hätte zeigen müssen! Die Psychotherapeutenkammer fährt einen Anpassungskurs an medizinisch-ärztliche Interessen, die der PP den Boden für Eigenständigkeit und letztlich Ausweitung ihres offiziellen Berufsfeldes nehmen und Abrechnungsziffern für eine psychotherapeutische Grundversorgung erst gar nicht in Erwägung ziehen. Die Ausschließlichkeit von Verhaltenstherapie ist in der Leitlinie S-3 zu Ungunsten aller anderen Psychotherapieverfahren beschrieben, wobei mir nicht bekannt war (und vermutlich nur Ärzten bekannt war oder ist!!!), dass es medizinisch-ärztliche Leitlinien gibt/gab, die AUSSCHLIEßLICH zur Behandlung von Depressionen Verhaltenstherapie verordnen! Gut zu wissen, dass ärztliche Leitlinien unser Berufsfeld methodisch lenken, ohne dass wir Kenntnis davon haben!

      Andererseits muss im Sinne von Patienten zur Leitlinie S-3 unter Aussparung des politischen Fokus – in dem Mediziner Psychologischen Psychotherapeuten den Boden ihres Berufs- und Kompetenzbereiches schmälern wollen – gesagt werden, dass möglicherweise Patienten, die im ersten Schritt zu ihrem Hausarzt gehen, dann vielleicht doch eine Empfehlung für Psychotherapie von ihm (wenn auch möglicherweise erst nach 6 Wochen) bekommen statt Nicht-Behandlung oder ausschließlich medikamentöse Behandlung. Allerdings ist die Leitlinie S-3 nur eine Empfehlung, an die Hausärzte sich halten können oder auch nicht. Denn: Wer überprüft es denn, ob die Hausärzte sich diesbezüglich fachkundig machen? In jedem Falle werden Ärzte für diese „aktiv-abwartende Begleitung“ Abrechnungsziffern bekommen. Und sie müss(t)en dann mit ihren Patienten sprechen und ihnen zuhören – und es bleibt zu hoffen, dass sie dafür eine Zusatzqualifikation erworben haben. (Siehe im vorliegenden Band „Unheiliges ärztliches Ansinnen: Psychosomatische Medizin kontra Psychologische Psychotherapie, S. 247 und in Band 3 „Die Partizipative Entscheidungsfindung.“ S. 447)

      Ohne klare Wert-Leitlinie wird diese gegenwärtige Kultur (und Gesellschaft) nicht wieder auferstehen; denn wir brauchen gesunde, freundliche und fröhliche Menschen, die alle auf gleiche Rechte und Pflichten blicken und in Freiheit leben können. Unter einem für alle verbindlichen moralischen und ethischen Himmel, der jedem Menschen in dieser Gesellschaft die individuell notwendigen Behandlungs- und Unterstützungsmöglichkeiten gewährt. Dazu ist der Konsens über den Wert des Lebens und des Menschen an erste Stelle über alle anderen Werte einer gesellschaftlichen Werteordnung zu stellen: An erster Stelle der Wertehierarchie einer Kultur