Eric Gutzler

Der Anschlag auf London am 11. Sept. 2101 nebst seiner Geschichte


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weitere Merkwürdigkeit, niemand scheint mehr an dem Verbleib von Shahade interessiert zu sein. Doch über Shahade will ich jetzt nicht spekulieren, sondern auf die Amiramis zurückkommen. Sie verschwand nämlich wieder von der Bildfläche. Abends lag sie im Hafen, am nächsten Morgen war sie weg. Auch wenn sie während der Nacht losgefahren ist, hätten wir sie am nächsten Tag wiederfinden müssen.“

      „In der Inselwelt der Philippinen kann man ein Schiff leicht verstecken. Vielleicht ist sie nur um die Ecke gefahren, während ihr sie im Umkreis von mehreren hundert Kilometern gesucht habt“, warf eine der Frauen ein.

      „Nein, nein. Wie haben die Rumpfmaße anhand der Fotos überprüft und im Suchsystem korrigiert. Außerdem hat die Jacht eine Besonderheit. Wie Sie sehen können“, er klickte ein neues Foto auf, „fährt sie nicht mit einem üblichen dreieckigen Bermudasegel, sondern benutzt ein viereckiges Gaffelsegel. Sie verschwand aus Manila und war nicht aufzufinden. Zwei Monate später haben wir sie im Golf von Kutch gesehen, danach erst wieder in Mahajanga. Trotz des Einsatzes von Satelliten, Flugrobotern und fliegenden Drohnen – ihr glaubt nicht, welchen Aufwand ich für die Genehmigung brauchte – gelingt es der Amiramis immer wieder, für Monate abzutauchen. Ich weiß nicht, wie sie es anstellt. Irgendwelche Ideen?“

      Als niemand etwas sagte, unterbrach Killoren das schweigsame Nachdenken: „Bevor wir Löcher in die Wände starren, solltest du etwas zu den anderen Frauen der Besatzung sagen. Vielleicht liegt die Lösung in der Vergangenheit einer der Frauen.“

      „Etwas mehr als über die Schiffseignerin wissen wir über eine andere Frau, eine Medea Phasias“, räumte Radjabow ein und zeigte ein Foto, „unter diesem Namen ist sie Bürgerin der Europäischen Gemeinschaft. Sie benutzt aber auch einen Pass der Republik Kurdistan, in dem der Name Idya Äetos eingetragen ist. Nach den Angaben ihres europäischen Passes ist sie vierunddreißig Jahre alt und hat Athen zum Wohnort. Sie wurde als Mikrochirurgin ausgebildet und hat danach drei Jahre am Bellerive-Zentrum in Genf gearbeitet, bevor sie die Stelle aufgab und ein Segelschiff kaufte, von dem wir leider keine Abbildung auftreiben konnten. Sie besitzt ihr Schiff jetzt seit fünf Jahren. Wo das Schiff zur Zeit ankert und woher sie das Geld hatte, um es zu kaufen, konnten wir nicht herausfinden. Vermutlich hat sie mehrere illegale, nicht registrierte Operationen durchgeführt. Sie soll als Mikrochirurgin sehr gut sein. Gewährsleute sagten mir, sie sei wahrscheinlich sogar die beste, deren Leistungen man auf dem freien Markt, also außerhalb der fünf großen Zentren für Mikrochirurgie, kaufen könne. Auf ihrem Athener Konto liegen zweihunderttausend Geldeinheiten in Neuen Euro. Einzahlungen aus zweifelhaften Quellen konnten nicht festgestellt werden. Ich vermute, dass sie zusätzliche Konten auf den Namen Äetos hat, aber entdecken konnten wir sie nicht. Von ihrem Athener Konto bezahlt sie die Abgaben für ihre Wohnung in Griechenland, die sie aber unseres Wissens seit vier Jahren nicht mehr betreten hat.“

      „Dass sie in Athen nicht leben will, kann man ihr bei den Temperaturen im Sommer nicht verdenken“, sagte ein Mann mit europäischen Gesichtszügen halblaut zu seinem Nachbarn; laut aber fragte er: „Hat sie einen Lebensgefährten? Geschwister? Eltern? Wo leben sie?“

      „Ihre Mutter hieß wie sie Medea Phasias. Über den Vater, über Geschwister, über einen Lebensgefährten ist uns nichts bekannt. Wir hatten bisher keinen Grund, sie in eine höhere Informationsbedarfsklasse einzustufen und zu überprüfen.“

      „Ist sie eine Agentin? Ist vielleicht Prasutag eine Agentin?“

      „Dazu haben wir keine Informationen. Für uns arbeiten sie nicht!“

      „Wann hat sie segeln gelernt?“

      „Wahrscheinlich schon als Kind. Sie ist in der griechischen Inselwelt aufgewachsen.“

      „Warum ist sie Mitglied einer Crew“, warf der Mexikaner ein, „obwohl sie ein eigenes Schiff besitzt? Schon merkwürdig.“

      „Gute Frage, auf die wir auch keine Antwort haben.“

      „Was wissen wir noch?“ sagte Killoren, um die Diskussion voranzutreiben.

      „Am meisten wissen wir über eine Nora Ronit Dahl. Sie stammt aus Israel. Nach dem zweiten Jom-Kippur-Krieg wanderten ihre Eltern nach Südafrika aus. Ihre Tochter schickten sie in ein Internat nach England. Ihre Berufslaufbahn begann sie bei der Polizei in London, wo sie Täterprofile sowie Gutachten über die Wahrscheinlichkeit der Rückfälligkeit von Strafgefangenen erstellte. Dank einer außergewöhnlichen Fähigkeit, sich in andere Menschen hineinzuversetzen, Gesichtszüge zu lesen und feinste Veränderungen wie die unwillkürliche Erweiterung der Pupille oder die Veränderung der Blickrichtung wahrzunehmen, erkannte sie sofort, ob ein Lächeln echt oder falsch war, ob eine befragte Person bei einer Antwort log oder etwas zu verbergen hatte. Bei einigen spektakulären Verbrechen hatte sie detaillierte Verhaltensprofile erstellt und die Wahrscheinlichkeiten der zu erwartenden Handlungen von Tätern zutreffend eingeschätzt. Später machte sie in der Soca, der Serious Organized Crime Agency, Karriere, bis es zu einem Zwischenfall kam und sie den Dienst quittierte.“

      Fragende Gesichter.

      „Nun, wir haben hier in unserer Runde einen Kollegen aus England, Steve Colrev, und wir wollen seine Gefühle nicht verletzen. Es handelte sich um den Ausbruch des F17G3-Virus. Bei der Untersuchung stieß Dahl auf Spuren, die die Regierung nicht aufgedeckt haben wollte. Steve, möchten Sie etwas dazu sagen?“

      „Es gibt eine offizielle Stellungnahme des Innenministers dazu. Bitte verlangen Sie nicht von mir, dass ich eine abweichende Meinung äußere.“

      „Eins ist sicher, Frau Dahl liebt den Premierminister nicht. In einem Interview sagte sie, Teimur Huxley steuere England in die Diktatur. Weitere Details über Dahl finden Sie im Ordner Amiramis im Speicher T.“

      „Sicher ist aber auch“, fügte Colrev hinzu, „dass sie den Großraum London aus dem Effeff kennt.“

      „Jetzt zur vierten Frau auf dem Schiff. Sie ist das größte Rätsel. Hier ist ein Foto.“ Auf dem Schirm erschien das Gesicht einer jungen Frau mit kurzen blonden Haaren. „Vor sechs Jahren tauchte eine Sonja Miller aus dem Nichts in Portugal auf. Wie bei Bodishia wissen wir nicht, wo sie ihre Kindheit und Jugend verbracht hat, wir haben auch keine Informationen über die Art ihrer Ausbildung und über ihre Eltern. Sie meldete sich mit einem australischen Pass bei einem Golfturnier im Süden Portugals an, überraschte schon im ersten Durchgang mit langen Drives von über zweihundertfünfzig Metern, spielte jedes Loch unter Par und gewann die vier Runden mit zweihundertachtundzwanzig Schlägen. Das waren neunzehn Schläge unter dem Platzrekord. Als sie den Scheck für den Sieg erhalten hatte, fuhr sie sofort mit unbekanntem Ziel weg. In dem Jahr hat sie vier weitere Turniere gespielt, jedes gewonnen und jedes Mal die Zahl ihrer Schläge reduziert. Das fünfte Turnier gewann sie mit vierundfünfzig Schlägen pro Durchgang. So etwas hat es noch nie gegeben. Das Besondere bei diesem Turnier war dabei das Wetter. Es regnete in Strömen, und ein peitschender Wind wechselte böenartig seine Richtungen. Ich spiele auch ein wenig Golf und weiß, dass jeder Golfer dieses Wetter hasst, weil der Wind einen aus dem Rhythmus bringt. Diese Frau dagegen scheint das Wetter erst in Hochform gebracht zu haben. Ganz ungewöhnlich! Nach jedem Turnier reiste sie ab, sobald sie den Scheck kassiert hatte. Nach dem fünften Turnier und einem Preisgeld von über fünf Millionen Geldeinheiten in Neuen Euro verschwand sie über zwei Jahre vollständig von der Bildfläche und geriet erst durch einen Zufall in die Akten der Polizei. Ohne diesen Zufall wären wir nie auf sie aufmerksam geworden. Bei einem Überfall auf eine Bank in Annemasse …“

      „Annemasse bei Genf?“

      „Richtig. Bei dem Banküberfall war sie eine der Kunden in der Schalterhalle. Vier bewaffnete Bankräuber hatten die Halle gestürmt und die Menschen aufgefordert, sich auf den Boden zu legen. Und jetzt kommt das Merkwürdige. Die Einzelbildaufzeichnung der Videoüberwachung zeigt, dass Miller sich nicht auf den Boden legte, sondern stehenblieb. Während zwei der Gangster die Menge in Schach halten, richten die beiden anderen ihre Maschinenpistolen auf Miller. In einem Bild ist zu erkennen, dass sie zu den Männern spricht. Einer scheint danach geschossen zu haben. Im nächsten Bild ist die Frau nicht mehr zu sehen, sie ist verschwunden. Sie liegt aber nicht verletzt oder tot am Boden, stattdessen liegen die Bankräuber auf dem Boden, als seien sie niedergeschlagen