Eric Gutzler

Der Anschlag auf London am 11. Sept. 2101 nebst seiner Geschichte


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ist es ja. Wir waren uns nach amerikanischen Hinweisen nicht mehr sicher, für wen Shahade wirklich arbeitete, und wollten ihn unserer Zentrale überstellen.“ Nach diesen Worten drückte er auf das vor ihm in der Tischplatte eingelassene Sensorfeld, und auf dem Großbildschirm erschien eine Satelliten-Aufnahme des Kaps Lopatka und der benachbarten Insel.

      „Zum Verständnis der Entfernungen sei gesagt, dass der Abstand der Südspitze der Halbinsel zu der vorgelagerten Insel zehn Kilometer beträgt. Der See, den Sie auf dem Foto erkennen können, liegt etwa siebzig Kilometer nördlich der Spitze, und die Entfernung vom östlichen Ufer des Sees zum Meer beträgt fünfzehn Kilometer. In den Wäldern an dem See hat sich Shahade zwei Tage aufgehalten und auf die Ankunft unseres Schiffes gewartet. Vereinbart war, dass er um Mitternacht am östlichen Meeresufer von unserem Schiff aufgenommen werden sollte – aber er ist nie erschienen, und sein Ortungssignal erlosch etwa eine Stunde vor dem geplanten Treffen.“

      Radjabow machte eine kurze Pause und blickte seine Zuhörer an: „Wir haben alle Möglichkeiten durchgespielt. Wäre er von einem Bären angefallen und getötet worden – der See ist fischreich und ein Bärentreffpunkt –, hätte das Ortungssignal nicht erlöschen dürfen. Auch eine Gefangennahme durch russische Agenten schließen wir aus. Shahade war zu vorsichtig, um sich überraschen zu lassen. Außerdem wäre später irgendwann irgendetwas über einen eingekerkerten oder hingerichteten Spion durchgesickert. Wir vermuten daher, dass er sich den Sender mit einem Messer aus der Haut geschnitten und anschließend zerstört hat. Also: Wo ist er geblieben? Wohin ist er gegangen? Der gesunde Menschenverstand lässt nur den Schluss zu, dass er mit einem Schiff entkommen ist, einem anderen Schiff. Wir haben daher die Satellitenfotos überprüft und ausgewertet. Sehen Sie …“

      Auf dem Bildschirm erschien eine Aufnahme in einem anderen, verkleinerten Maßstab.

      „Dieses Foto wurde am Spätnachmittag vor Einbruch der Dämmerung gemacht. Unser Schiff können Sie am rechten Rand erkennen, es befand sich zu dem Zeitpunkt einhundertfünfzig Kilometer östlich der Küste in einer Warteposition, die es um 19.00 Ortszeit verließ. Außerdem sieht man in dem erfassten Ausschnitt noch drei weitere Schiffe, die den in Frage kommenden Küstenstreifen vor Mitternacht hätten erreichen können. Wenigstens“, er machte eine kurze Pause, „glaubten wir das lange. So lange, bis wir diese Schiffe identifiziert und ihre weitere Reise überprüft hatten. Es stellte sich heraus, dass sie mit der Flucht Shahades nichts zu tun haben konnten. Wir haben die Schiffseigner, die Kapitäne und die Mannschaften unauffällig, aber sorgfältig überprüft. Eine Dokumentation dazu ist im Archiv vorhanden. Als wir an dem toten Punkt angelangt waren, sind wir zu diesem Foto zurückgekehrt und haben es vergrößert.“

      Auf dem Bildschirm erschien ein Ausschnitt, der zeigte, dass sich der vorgelagerten kleinen Insel eine größere anschloss: „Sehen Sie diesen hellen Punkt an der Nordostküste der großen Insel? Er fällt zunächst kaum auf, deswegen haben wir ihn zunächst auch übersehen. Leider hatten wir nur Satellitenaufnahmen mit einer Standardauflösung von einem Meter abgerufen und gespeichert. Daher mussten wir diese Aufnahme bei der Vergrößerung elektronisch bearbeiten.“

      Ein neuer Ausschnitt erschien auf dem Bildschirm. „Was sehen Sie? Der Punkt ist jetzt länglich, hat Schiffsform, stellt sich bei weiterer Vergrößerung als eine Segeljacht heraus, die offensichtlich vor der Küste ankert. Die Entfernung zu dem Treffpunkt betrug einhundertzwanzig Kilometer. Der Segler hätte – wir haben Strömung, Windrichtung und Windstärke überprüft – den Küstenstreifen durchaus zwei Stunden vor Mitternacht erreichen können.“

      Radjabow drückte auf das Sensorfeld. Das nächste Bild zeigte einen Ausschnitt des pazifischen Ozeans und des ochotskischen Meeres, in dem das Kap Lopatka nur noch ein kleiner Punkt war. „Sie werden jetzt fragen, wo sich diese Jacht am nächsten Tag befand, welche Richtung sie eingeschlagen hat, wohin sie gesegelt ist. Das haben wir uns auch gefragt und diese Aufnahme, die vom nächsten Morgen stammt und einen Ausschnitt von zweitausend mal zweitausend Kilometern umfasst, durchsucht.“

      „Sie machen mich neugierig“, warf einer der Zuhörer ein, der Tojo Higuchi hieß und aus Osaka stammte, „wie weit ist die Jacht gekommen? Vierhundert Kilometer? Wo haben Sie sie gefunden?“

      „Wir haben sie nicht gefunden. Sie war verschwunden. Sie hat sich wie Kaimoa Shahade der Überwachung entzogen, in Luft aufgelöst.“

      Nachdem die Zuhörer ihre Ungläubigkeit, Verwunderung und Einwendungen vorgebracht hatten, fuhr Radjabow fort: „Wir waren genauso ungläubig und perplex, haben die Maße des Schiffes ausgemessen, die Daten in ein Suchprogramm eingegeben und trotzdem nichts gefunden. Daraufhin haben wir alle verfügbaren Satellitenaufnahmen der vorausgegangen Tage durchkämmt, um wenigstens die Route und den Ausgangshafen der Jacht zu finden. Mit der Methode sind wir glücklicherweise fündig geworden, die Jacht ist die Kurilen entlanggesegelt und kam aus dem Hafen von Hakodate, wo sie mehrere Tage gelegen hatte. Die Daten der Hafenaufsicht haben uns schließlich weitergebracht. Die Jacht heißt Amiramis, fährt unter der Flagge Singapurs und gehört einer Frau. Bevor ich mich jetzt weiter mit dieser Frau beschäftige, möchte ich Ihnen einige Satellitenaufnahmen zeigen, die vor fünf Tagen gemacht worden sind.“

      Er drückte auf die Sensorplatte, zeigte nacheinander sechs Aufnahmen und kehrte dann zur ersten zurück: „Auf dem Foto sieht man zwei Schiffe, die Jacht ist die Amiramis, das andere Schiff, das neben der Segeljacht liegt, ein bewaffnetes Tragflächenboot der ISF. Deutlich ist zu erkennen, dass sich Polizei- oder Zollbeamte an Deck der Jacht befinden.“

      Er klickte weiter: „Auf dem zweiten Foto sieht man, dass die Jacht abgeschleppt wird. Warum das Polizeischiff die Jacht in Schlepp genommen hat, braucht uns zunächst nicht zu interessieren. Achten Sie vielmehr auf die eingeblendete Zeit: Dieses Foto wurde um 12.14 Ortszeit gespeichert. Das dritte Foto wurde zehn Minuten später aufgenommen. Sie können erkennen, dass sich der Abstand zwischen dem Polizeischiff und der Amiramis verändert hat, er ist größer geworden. Wie war das möglich? Jemand muss in der Zwischenzeit die Leine gekappt haben. Auf dem vierten Bild, das um 12.26 gespeichert wurde, sieht man eine Explosion auf dem Polizeischiff. Auf dem fünften Bild ist der „Stolz des Islam“ am Sinken, das Segelschiff hat die Richtung geändert und bereits das Vorsegel gehisst. Auf Deck sind zwei Personen auszumachen. Das sechste Bild schließlich zeigt nur noch ein Schiff: die Jacht Amiramis unter vollen Segeln. Die Fragen, die sich mir stellen, sind offensichtlich: Wie ist es der Besatzung des Segelschiffs gelungen, das Schlepptau zu kappen, und wie ist es zu der Explosion auf dem Tragflächenboot gekommen? Hat jemand von Ihnen dazu eine Idee oder eine Meinung?“

      „Was wissen wir über das Schiff? Haben wir andere Fotos von der Amiramis? Fotos, die sie in einem Hafenbecken zeigen; Fotos, auf denen man die Aufbauten sehen?“ fragte einer.

      „Hat irgend jemand das Schiff in Wirklichkeit gesehen?“ warf ein anderer Mann ein.

      „Was wissen wir über die Mannschaft? Wo ist das Schiff jetzt?“ fragte eine Frau.

      „Was sieht man auf dem ersten Foto neben dem Schiff im Wasser?“ fragte Miliano Alvares, ein Mann mit mexikanischen Gesichtszügen.

      „Die beiden Punkte? Sind Fische, Tümmler wahrscheinlich.“

      „So kommen wir nicht weiter“, fuhr eine Frau gebieterisch dazwischen, „ihr gackert wie Hühner auf einem Hühnerhof oder wie Anfänger auf der Polizeischule. Ich verstehe auch Levon nicht, dass er diese wirre Diskussion nicht besser steuert.“

      Betroffen hielten die anderen inne und wandten ihren Blick der Frau zu, die sie zurechtgestaucht hatte. Sie trug kurzgeschnittene dunkelblonde Haare, war Mitte Dreißig, sprach mit amerikanischem Akzent und hieß Kelly Killoren.

      „Die Explosion kann zufällig ausgelöst worden sein. Aber so wie ich Levon seit langem kenne, vermutet er wahrscheinlich, dass die Besatzung der Jacht dafür verantwortlich war. Nicht wahr?“

      Radjabow nickte.

      „So wie ich Levon kenne“, fuhr sie fort, „hat er uns aber auch nicht alle Informationen gegeben, über die er verfügt. Er spielt gerne Gottvater, der die Fäden in der Hand hält und die Lösung kennt. Bevor wir weiter spekulieren, sollte er uns sagen, was er weiß.“