Eric Gutzler

Der Anschlag auf London am 11. Sept. 2101 nebst seiner Geschichte


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Baumrinde bereiten, Fallen aufstellen oder versuchen, Tiere mit Pfeil und Bogen zu erlegen. Trotz dieser Einschränkungen fieberten die Kinder den beiden Tagen im Freien entgegen, weil diese Tage die einzige Unterbrechung der sonstigen Monotonie des Tagesablaufs und der strengen Kontrolle, der sie in der Schule unterworfen waren, bildeten.

      An diesen Tagen im Wald konnten die Kinder jedoch nicht nach Lust und Laune herumstreifen, sondern sie erhielten Aufgaben, die sie entweder in Gruppen, paarweise oder allein lösen mussten. Manchmal wurden die Gruppen und Paare von den Führern eingeteilt, manchmal durften die Kinder ihre Gruppen selbst zusammenstellen. Die Führer beobachteten genau, welche Kinder einander wählten, sich zu Gruppen zusammenschlossen oder Paare bildeten, und stellten daher mitunter Gruppen zusammen, in denen Spannungen entstehen mussten, die die Durchführung der Aufgaben erschwerten und anderen Gruppen Vorteile verschafften. So wurde über jedes Kind ein Dossier angelegt, in dem über die Jahre festgehalten wurde, ob es einen durchsetzungsstarken Willen besaß oder ein Mitläufer oder ein Außenseiter war.

      Die Spiele waren zunächst Versteck- und Suchspiele oder Schnitzeljagden, manchmal waren es Kampfspiele. Die Sieger erhielten keinen besonderen Preis, aber die Verlierer mussten den Siegern in den folgenden acht Tagen Dienste erweisen, die Betten machen, die Wäsche waschen, die Waschräume putzen und das Geschirr nach den Mahlzeiten abtragen. Im Lauf der Jahre wurden die Kampfspiele gewalttätiger. Die Parteien, die sich bekriegten, erhielten die Erlaubnis, Gefangene zu machen, die Gefangenen zu fesseln und im Wald liegen zu lassen. Als Solveig dreizehn war, wurden Gewehre ausgegeben, mit denen Hartgummikugeln verschossen werden konnten. Wurde ein Kind getroffen, galt es als tot und musste ausscheiden. Da die Kinder Bekleidung trugen, die mit kleinen Sendern ausgerüstet waren, wurden die Führer über jeden Treffer informiert.

      Das Gebäude, in dem Solveig mit den anderen Kindern lebte, bestand aus vier Flügeln, die um ein größeres Haus gruppiert waren. In dem zentralen Gebäude befanden sich auf verschiedenen Stockwerken der Speisesaal mit der Küche, die Turnhalle und die Schwimmhalle. Ganz oben lagen die Räume der Erwachsenen, zu denen die Kinder keinen freien Zutritt hatten. Die Kinder hatten ihre Schlafsäle und Aufenthaltsräume in einem der Flügel. Die anderen drei Flügel standen in den ersten beiden Jahren leer. Während einer Fragestunde mit dem Direktor und den Lehrern stellte Solveig die Frage, wozu die anderen Häuser daseien.

      „Ich habe eine Frage“, sagte Solveig.

      Fragen durften nur in der Fragestunde und in der Anwesenheit aller Kinder gestellt werden.

      „Welche Frage hast du, F 217?“ antwortete der Direktor.

      „Wozu sind die leeren Räume da?“

      Der Direktor blickte die anwesenden Lehrer an und zögerte einen Augenblick mit der Antwort: „Ihr seid die ersten. Eigentlich sollte hier schon ein weiterer Jahrgang aufgezogen werden, aber es gab einige … Schwierigkeiten. Im nächsten Jahr kommt eine neue Gruppe, die zieht in den zweiten Flügel, jedes Jahr kommt eine weitere Gruppe, in drei Jahren werden alle Räume bewohnt sein.“

      Solveig meldete sich. Der Direktor sah sie an: „Hast du noch eine Frage, F 217?“

      „Ja, ich habe noch eine Frage. Was geschieht mit uns im vierten Jahr?“

      Der Direktor machte sich eine Notiz, dann blickte er auf: „In drei Jahren bauen wir ein neues Gebäude für vier weitere Jahrgänge. Ihr bleibt in eurem Gebäude wohnen.“

      Neben dem Direktor und den Lehrern gab es noch eine Gruppe Erwachsener. Ihre Bezeichnung begann mit dem Buchstaben S. Die meisten S-Personen waren Frauen, die die Mahlzeiten zubereiteten oder bei Verletzungen und Erkrankungen Dienste verrichteten. Die S-Frauen waren bei den Kindern sehr beliebt, zum einen, weil das Essen im Gegensatz zur Monotonie des Tagesablaufs sehr abwechslungsreich und schmackhaft war, zum anderen, weil die S-Frauen sehr sanft und umgänglich waren und für viele Kinder zu einer Art Mutterersatz wurden. Auch Solveig hatte mit einer der S-Frauen Freundschaft geschlossen. S 483 war Anfang zwanzig, hatte dunkle Haare und eine sehr blasse Hautfarbe. Der enge Kontakt zwischen ihr und Solveig war entstanden, als das kleine Mädchen nach zwei regnerischen Waldtagen hohes Fieber bekommen hatte, aus dem sich eine Lungenentzündung entwickelte. Solveig wurde in die Krankenstation verlegt, wo sie eine Woche bleiben musste und von S 483 gepflegt wurde.

      Nachdem Solveig Zutrauen zu ihrer Pflegerin gefasst hatte, fragte sie sie am Ende der Woche, ob sie ein Geheimnis wahren könne. Als S 483 ihr versprach, jedes Geheimnis, das man ihr anvertraue, für sich zu behalten, erklärte Solveig, dass sie einen richtigen Namen habe und sich daran erinnere, Solveig Solness zu heißen. Die Pflegerin sah sie kurz prüfend an und antwortete, sie habe davon gehört, dass einige Kinder des ersten Jahrgangs von draußen stammten. Sie erwartete jetzt, dass F 217 die Frage stellen würde, warum sie und die anderen Kinder in dem Camp seien. Doch stattdessen sagte Solveig: „Hast du auch einen richtigen Namen?“

      „Nein“, sagte S 483 mit leiser Stimme, „ich habe keine Eltern und habe daher auch keinen Namen erhalten.“

      „Wie bist du ohne Eltern auf die Welt gekommen?“

      „Ich bin das, was man einen Klon nennt, ich bin künstlich entstanden.“

      „Bist du ein Roboter?“

      „Nein, ich bin aus Fleisch und Blut wie du. Ich wurde erschaffen, um mein Leben als Organspender zu verbringen. Eines Tages werde ich eine Niere, ein Auge oder eine Hand spenden. Später werde ich meine Lunge oder mein Herz spenden. Danach werde ich sterben.“

      „Wem wirst du deine Organe geben? Den Lehrern oder den Kindern?“

      „Das ist nicht vorgesehen. Ich werde sie Menschen geben, die draußen leben – außerhalb dieser ... Anlage.“

      Zu diesem Zeitpunkt hatte Solveig bereits die Mauer gesehen und wusste, dass sie das Internat ohne Hilfe nicht würde verlassen können.

      Einige der S-Personen waren Männer, teilweise waren sie Aufsichtspersonen, teilweise Ärzte. Im ersten Jahr lebten vier Ärzte in dem Internat. Mit jedem neuen Jahrgang von Kindern wuchs auch die Zahl der Ärzte. Alle drei Monate wurden die Kinder von einem Arzt untersucht. Der Arzt prüfte nicht nur den allgemeinen Gesundheitszustand, sondern auch in unregelmäßigen Abständen und nach einem für die Kinder undurchschaubaren Plan Leistungsfähigkeiten, zum Beispiel die Reaktionszeit und das Erinnerungsvermögen oder Problemlösefähigkeiten und das Entscheidungsverhalten in Spielsituationen wie dem Gefangenendilemma. Manchmal wurden die Kinder nach einer Untersuchung in Narkose versetzt, und danach wurden operative Eingriffe vorgenommen, von denen sie nichts mitbekamen und über die sie nicht unterrichtet wurden.

      Die Ärzte waren zu den Kindern stets freundlich und zogen die Untersuchungen als ein Spiel auf, um das Vertrauen der Kinder zu gewinnen. Manche Kinder lehnten sich im Lauf der Zeit so sehr an ihren Arzt an, dass sie ihm ihre geheimsten Gedanken und Wünsche offenbarten. Solveig fasste jedoch nie zu einem der Ärzte das Vertrauen, das sie S 483 gegenüber hegte, und benutzte nie einen der Ärzte als Beichtvater. Selbst, wenn sie einmal sehr verzweifelt war und ihrer Not Worte geben wollte, verschloss sie sich, indem sie die Erinnerung an ihre Eltern zurückrief. In diese Gedankenwelt ließ sie keinen Erwachsenen eindringen. Saß sie dann dem Arzt gegenüber, überlegte sie, ob er draußen ein Mensch mit einem Namen und Eltern gewesen war oder wie die Organspenderinnen geklont war. Sie hat es nie herausgefunden.

      Solveig war acht, als sie an einem der Waldtage die Mauer entdeckte. Die Führer hatten am Vortag erst nach einem fast vierstündigen Marsch einen Platz zum Übernachten festgelegt und den Kindern nach dem Aufbau der Zelte leichte Einzelaufgaben gegeben. Schon während des Marsches war den Kindern bei ihren Führern, deren Verhalten sie gut kannten, eine gewisse Gleichgültigkeit und Lustlosigkeit aufgefallen. Es war offenkundig, dass sie mit einem Problem beschäftigt waren und darüber miteinander ohne Zuhörer reden wollten. Als am nächsten Morgen die Einteilung in Gruppen für einen Wettkampf unterblieb und die Kinder ohne Aufgaben in den Vormittag entlassen wurden, überkam Solveig die Idee, ihre Eltern zu suchen und zu fliehen. So sonderte sie sich ab und ging in den Wald hinein. Es war ein milder Herbsttag – die Bäume hatten schon zum Teil ihre Blätter verloren –, und sich am Stand der Sonne orientierend schlug Solveig eine Richtung ein, mit der sie