Eric Gutzler

Der Anschlag auf London am 11. Sept. 2101 nebst seiner Geschichte


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beibehalten wollte. Einen Augenblick lang war das kleine Mädchen versucht, dem plätschernden Bach zu folgen, doch dann besann sie sich und watete durch das Wasser. In gerader Richtung ging sie weiter, Buschwerk und lichter Wald wechselten sich ab, bis zwischen den Bäumen in einiger Entfernung ein hoher Berg zu sehen war. Mit einem Mal war der Wald zu Ende, und vor ihren Augen lag eine steinige Ebene, hinter der sich der Berg erhob. Seine Flanke hügelte sich jedoch nicht sanft in die Höhe, die Flanke des Berges war von Menschenhand bearbeitet und abgegraben worden. Lotrecht und glatt erhob sich grauer Fels vielleicht fünfzig Meter oder mehr, bevor der natürlich entstandene Berghang einsetzte. Solveig blickte nach rechts und links, ohne ein Ende der Felswand erkennen zu können. Nach kurzem Zögern wandte sie sich nach links und folgte dem Waldrand. Nachdem sie etwa eine halbe Stunde gegangen war, verlor die Felswand an Höhe und wurde schließlich von einer hohen Mauer abgelöst, die sich bis zum Horizont erstreckte. Auf der Mauerkrone waren in Abständen kleine Rohre, die an einem Ende eine Glasscheibe besaßen, montiert. Solveig wusste nicht, dass es sich dabei um Überwachungskameras handelte, aber sie erkannte, dass sie die Mauer nicht würde übersteigen können. Enttäuscht und erschöpft setzte sie sich unter einen Baum und begann zu weinen.

      Als ihre Tränen versiegt waren und sie wieder einen klaren Gedanken fassen konnte, bemerkte sie, dass die Sonne inzwischen sehr hoch stand und dass es fast Mittag sein musste. Vermutlich würden die Führer inzwischen nach ihr suchen. Was würden sie tun, wenn sie sie in der Nähe der Mauer fänden? Vermutlich bestrafen, schoss es ihr durch den Kopf. Daher stand Solveig auf und schlug den Rückweg ein. Zuerst wollte sie, um sich nicht zu verlaufen, am Waldrand bis zu der Stelle gehen, wo sie zum ersten Mal den Berg gesehen hatte. Dann aber dachte sie, es sei klüger, sich möglichst schnell von der Mauer zu entfernen; sie wandte sich nach rechts und drang in den Wald ein. Schließlich erreichte sie den Bach. Als sie ihn überquert hatte, hörte sie Geräusche und Stimmen, die nach ihr riefen. Solveig beantwortete die Rufe und stieß nach kurzer Zeit auf einen der Anführer, der mit einer Gruppe von Kindern nach ihr gesucht hatte.

      Mehr mit Besorgnis als mit Zorn in der Stimme fragte der Anführer, wo sie gewesen sei.

      „Ich habe mich verlaufen“, antwortete Solveig, „und bin froh, dass ihr mich gefunden habt.“

      „Wie weit bist zu gegangen?“

      „Ich bin auf einen Bach gestoßen und folgte seinem Lauf talabwärts, dann machte ich Rast und bin wohl eingeschlafen.“

      Zu ihrer Überraschung stellte der Anführer keine weiteren Fragen, zu ihrer Überraschung wurde sie nicht bestraft. Einige Zeit später jedoch sagte der Direktor am Ende einer Fragestunde: „Während eurer Tage im Wald werdet ihr irgendwann entdecken, dass eure Welt von einer Mauer umgeben ist und dass ihr diese Mauer nicht übersteigen könnt. Die Mauer ist zu eurem Schutz da. Sie beschützt euch vor dem Draußen. Hat einer von euch die Mauer schon gesehen?“

      Niemand meldete sich.

      „F 217. Hast du die Mauer schon entdeckt?“

      „Nein, Herr Direktor, ich habe keine Mauer entdeckt.“

      Der Direktor sah ihr in die Augen, bis sie den Blick senkte. Er machte sich eine Notiz und sagte dann zu allen: „Menschen sind neugierig. Je klüger Menschen sind, desto neugieriger sind sie. Sie wollen Rätsel lösen, Grenzen überschreiten und ins Unbekannte vorstoßen. Für euch ist das Draußen jenseits unserer Welt das Unbekannte. Ihr werdet später erfahren, was es mit dem Unbekannten auf sich hat. Aber vorerst müsst ihr auf dieses Wissen verzichten und daran denken, dass ihr hier geschützt seid. Wenn ihr“, schloss der Direktor die Fragestunde ab, „einmal auf die Mauer stoßt, die noch keiner von euch gesehen hat, nähert euch ihr nicht weiter als hundert Schritt. Merkt euch: Haltet mindestens einhundert Schritt Abstand.“

      Danach war die Fragestunde beendet, und der Direktor erwähnte die Mauer in den folgenden Jahren nicht mehr.

      Im Lauf der Jahre stieß Solveig in jeder Himmelsrichtung irgendwann einmal auf die Mauer, und als sie zehn Jahre alt war, wusste sie, dass das Camp tatsächlich vollständig von einer Mauer oder von unüberwindbaren natürlichen Hindernissen eingeschlossen war. Sie wusste, dass die grauen Röhren Überwachungskameras waren und dass die Aufnahmen der Kameras in eine Überwachungszentrale gesendet und dort gespeichert wurden. Außerdem wusste sie, dass es zwei Tunnel gab. Einmal war sie zu der Stelle zurückgekehrt, an der sie zum ersten Mal den Berg gesehen hatte. Dort schlug sie den Weg nach rechts ein. Nachdem sie etwa zwei Stunden am Waldrand entlang beständig bergauf gegangen war, vernahm sie ein Geräusch von rauschendem Wasser, das immer lauter wurde, je weiter sie kam. Schließlich sah sie einen Wasserfall. Aus einer Höhe von vielleicht einhundert Metern schoss das Wasser aus dem Berg hervor und stürzte sich in die Tiefe. Am Fuß des Wasserfalls hatte sich ein kleiner See gebildet, aus dem ein Fluss entsprang, der im oberen Teil ziemlich reißend war und mit seinen Strudeln und Wirbeln eine Überquerung unmöglich machte. Jetzt wusste Solveig, aus welcher Quelle sich der große See speiste, der fast am entgegengesetzten Ende des Camps lag. Der große See hatte einen Abfluss, dessen Wasser in einer Felshöhle verschwand.

      Nachdem die Kinder zum ersten Mal die Waldtage an dem See verbracht hatten, erschien am nächsten Tag der Direktor im Unterricht und hielt eine kurze Ansprache: „Ich bin nur gekommen, um eine Warnung auszusprechen. Vermutlich überlegt ihr jetzt, wo ihr den Abfluss des Sees gesehen habt, ob man schwimmend das Internat verlassen kann. Das ist unmöglich. Bei dem Versuch würdet ihr sterben. Der Tunnel hat eine Länge von zwei Kilometern, bevor er ans Tageslicht kommt. Ein Schwimmer müsste also die Fähigkeit haben, die Strecke, ohne Luft zu holen, bewältigen zu können. Schon das ist einem Menschen nicht gegeben. Gelänge es aber einem, so käme er am Ende des Tunnels an ein Stahlgitter. Dort würde er, da er das Gitter nicht öffnen kann, elendiglich zugrunde gehen. Gelänge es aber einem, das Gitter zu öffnen, so würde er vom Schwall des Wassers in die Tiefe gerissen, denn das Wasser stürzt dort zweihundert Meter tief ins Meer. Würde aber einer den Sturz überleben, käme er doch elendiglich zu Tode, denn weit und breit gibt es keinen Strand, wo er an Land gehen könnte und Nahrung fände. Er würde auch verdursten, denn ihr müsst ihr wissen, dass das Wasser des Meeres salzig ist. Man kann es nicht trinken.“

      Wenn Solveig später an das Camp dachte, schätzte sie, dass die Mauer ein nahezu quadratisches Gelände umschloss und dass die Entfernung von dem Wasserfall am Berg bis zu dem Ausgang des Sees etwa fünfzig Kilometer betrug. Was sie zu dem Zeitpunkt, als die Jacht Amiramis vom „Stolz des Islam“, dem vorgeblichen Polizeischiff der ISF, abgeschleppt wurde, immer noch nicht wusste, war, wo das Camp lag und ob es noch existierte.

      Kapitel 4: Im Auge von London

       World News, 12. Sept. 2100: Der Jahrestag der Zerstörung der Zwillingstürme des Welthandelszentrums in Manhattan war einer der ruhigsten Tages dieses Jahres. Abgesehen von einem Feuergefecht in den Ruinen von Dubai gab es an den bekannten Brennpunkten der Gewalt keine Selbstmordattentate, keine Angriffe mit Viren oder schmutzigen Bomben. Die Sprecher der Sicherheitsorgane sehen darin einen Erfolg ihrer verstärkten Überwachungsmaßnahmen.

      Die Schlange, die sich am Vormittag vor dem Riesenrad am Ufer der Themse gebildet hatte und unter wolkenlosem Himmel auf die Öffnung des Zugangs wartete, war noch nicht sehr groß und bestand hauptsächlich aus zwei Schulklassen, als sich nach und nach acht Männer anstellten. Sie waren europäisch gekleidet und glatt rasiert. Für den Beamten, der ab und zu einen Blick auf die Monitore der Kameras warf, die den Platz vor dem Riesenrad überwachten, waren sie unauffällige Erwachsene, wie man sie in London an jeder Ecke traf; vielleicht waren sie Besucher aus einer anderen englischen Stadt oder aus dem europäischen Ausland, einige hätten auch aus dem Mittelmeerraum oder aus Vorderasien stammen können. Sie redeten sich mit geläufigen Vornamen wie Harry oder Andrew an, während sie in Zweiergruppen geduldig in der Schlange warteten und einigen Müttern mit Kindern den Vortritt ließen, um eine Kabine für sich zu haben. Sobald sie in der Kabine des Riesenrads Platz genommen hatten, wechselten sie vom Englischen ins Arabische und sprachen sich mit anderen Namen an.

      Der