Er ließ mich los und seine Hände machten sich an dem Knoten an meinem Hinterkopf zu schaffen. Wenig später verschwand das Tuch vor meine Augen und ich sah zum ersten Mal in das Gesicht des Mannes, der eines Tages meine Welt, nein, mein gesamtes Universum beherrschen sollte. Er hatte schwarze Haare, die ihm bis in den Nacken gingen. Sein Gesicht war kantig, mit scharfen Gesichtszügen und einem dominanten Kinn. Die große Nase hatte er sich offensichtlich schon mehr als einmal gebrochen. Mehrere kleine Narben um den Mund und die Augen herum hatte er sich wahrscheinlich in irgendwelchen Schlägereien geholt. Dunkelbraune Augen musterten mich ausgiebig. Sein Gesicht zeigte keine erkennbare Regung. Er wirkte irgendwie kalt und brutal, wenngleich er ein attraktiver Mann war, der sicherlich keine Probleme damit haben dürfte, Frauen zu finden, die freiwillig sein Bett teilten. Warum hatte er mich dann entführt?
„Ich löse jetzt deine Fesseln“, erklärte er ruhig. „Du wirst ein braves Mädchen sein, und mir keinen Ärger machen. Hast du mich verstanden?“
Ich starrte ihn an. Ich überlegte fieberhaft, was ich tun konnte, um ihn dazu zu bringen, mich freizulassen. Wenn ich mich fügsam zeigte, würde er vielleicht unvorsichtig werden und ich konnte vielleicht eine Gelegenheit zur Flucht finden. Tatsache war, dass ich kräftemäßig ohnehin nichts gegen ihn würde ausrichten können. Selbst jetzt, wo er saß, konnte ich sehen, dass er groß war. Und er war breit gebaut. Seine schwarze Lederjacke spannte sich über massige Schultern. Eingeschüchtert nickte ich und er machte sich daran, meine Fesseln zu lösen. Er fasste meine Arme und zog sie vor meinen Körper, um sich meine Handgelenke zu betrachten. Sie waren gerötet, wo die Fesseln eben noch gesessen hatten.
„Ich werde dir eine Creme geben“, sagte er nur und ließ von meinen Händen ab, um mein Gesicht zu umfassen und mich zu zwingen, ihn anzusehen.
„Ich werde dir ein paar Tage Zeit geben, dich einzuleben“, sagte er. „Danach beginnen wir mit deiner Erziehung.“
Ich starrte ihn mit vor Angst wild klopfendem Herzen an.
„Erziehung?“, fragte ich entsetzt. „Was ... was meinen Sie damit?“
Er lächelte leicht und einer seiner Daumen strich über meine Lippen. Sein intensiver Blick ließ mir einen Schauer über den Rücken laufen, der nicht von Angst allein erzeugt wurde.
„Das wirst du dann erfahren, wenn es soweit ist, kleine Eve!“
„Bitte“, versuchte ich es erneut. „Lassen Sie mich frei. Bitte!“
„Ich werde für dich sorgen, Eve. Ich werde dich beschützen. Niemand wird dich mir wegnehmen!“
„Sie ... Sie sind krank!“, schluchzte ich aufgebracht.
Er studierte mich mit einem seltsamen Blick, dann lächelte er.
„Ich weiß, dass das für dich so aussehen mag“, sagte er und fasste mich unter dem Kinn. „Es mag nicht die gängigste Methode sein, eine Frau für sich zu gewinnen indem man sie einfach entführt. Das gebe ich zu. Doch es gab keine andere Möglichkeit. Wenn ich dich angesprochen hätte, hättest du mir nie eine Chance gegeben. Ich wollte eigentlich noch etwas warten, mir eine andere Lösung überlegen, doch dann habe ich gesehen, wie wenig du auf dich acht gibst. Du bist blass und hast Ringe unter den Augen. Du hast auch abgenommen, seit ich dich das erste Mal gesehen habe. Und dann riskierst du dein Leben indem du allein in der Tiefgarage herumläufst.“ Er schüttelte den Kopf. „Jemand muss sich um dich kümmern, Eve. Ich werde dafür sorgen, dass du dich erholst und gesund ernährst. Wir werden zusammen Laufen gehen, um deine Kondition zu steigern und du wirst sehen, in ein paar Wochen fühlst du dich wie neugeboren.“
Ich sah ihn fassungslos an. Dieser Mann musste den Verstand verloren haben wenn er dachte, dass ich ihm dafür dankbar sein würde, dass er mich entführte und sich in mein Leben einmischte.
„Ich verspreche, dass ich besser auf mich achten werde, wenn Sie mich freilassen“, versuchte ich ihn zu überreden. „Ich schwör, ich werde weniger arbeiten und besser essen und Sport machen. Aber bitte lassen Sie mich gehen!“
„Du gehörst zu mir, Eve. Ich kann dich nicht gehen lassen!“
Ich wollte mein Gesicht abwenden, doch er hielt mein Kinn fest in seiner Hand und beugte sich vor, um mir direkt in die Augen zu sehen.
„Ich werde dir jetzt erst einmal ein Bad einlassen. Danach werden wir etwas essen.“
Er erhob sich und ging. Ich wandte den Blick und starrte auf die offene Tür, durch die er verschwunden war. Wasserrauschen war zu hören. Mein Blick wanderte durch den Raum. Es gab ein großes Fenster mit freundlichen gelben Vorhängen. Davor stand ein kleiner Tisch mit zwei Sesseln. Eine Vase mit roten Rosen stand auf dem Tischchen. Außer der Badezimmertür gab es noch zwei Türen. Eine stand ebenfalls offen und führte offenbar in den Flur. Die andere Tür war geschlossen. Es gab ein Sideboard mit einem Flachbildschirm und ein paar Deko-Artikeln. An den Wänden hingen verschiedene Bilder, meist mit Landschaftsmotiven. Alles in allem war es ein schönes Zimmer. Hell. Freundlich. Es schien so gar nicht zu meinem dunklen, offensichtlich verrücktem Entführer zu passen.
Wie bist du nur wieder in so eine Situation geraten?, fragte ich mich.
In Gedanken spielte ich wieder, was der Typ zu mir gesagt hatte. Es schien so, als wenn er mich schon eine ganze Weile beobachtet hatte und das war wirklich gruselig, denn ich hatte von all dem keine Ahnung gehabt. War er auch in meiner Wohnung gewesen? Wie lange? Wie lange folgte er mir schon? Warum ich? Wieso hatte er mich ausgesucht? Ich war nun wirklich kein Topmodel. Meine Freundin Diana war viel attraktiver als ich. Warum hatte er nicht sie ...
Halt!, ermahnte ich mich. Du würdest es nicht im Ernst wollen, dass dieser Irre deine Freundin entführt hätte, anstatt dich. Schöne Freundin bist du!
Ich seufzte. Ich würde dies hier niemandem wünschen. Aber ich wollte auch nicht in dieser Lage sein! Verdammt! Meine Angst war in Wut und Frustration umgeschlagen. Es sah im Moment nicht so aus, als würde der Kerl mir Gewalt antun. Auf seine pervers verdrehte Art wollte er offenbar für mein Wohlergehen sorgen. Das war verrückt und ein wenig unheimlich, doch nicht unmittelbar bedrohlich. Es war sogar möglich, dass ich ihn doch noch überreden könnte, mich freizulassen. Hoffnung keimte in mir auf. Vielleicht sollte ich mich einfach fügsam zeigen, damit er mir vertraute.
„Dein Bad ist fertig!“, riss die raue Stimme meines Entführers mich aus meinen Überlegungen.
Ich blickte zu ihm auf. Er stand in der offenen Tür und musterte mich. Sein Blick machte mich nervös und mein Herz fing an, schneller zu schlagen. Ich musste schlucken.
„Komm her!“, forderte er ruhig, doch in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete.
Vergiss nicht! Du wolltest dich fügsam zeigen, um sein Vertrauen zu gewinnen!
Ich erhob mich von dem Bett und ging mit weichen Knien auf den Mann zu, der mich entführt hatte. Jetzt, wo wir uns beide gegenüber standen, wurde mir noch bewusster, wie groß er war. Ich reichte ihm nicht einmal bis zum Kinn. Er nahm mich beim Arm und führte mich ins Bad. Eine große Badewanne war mit einem duftenden Schaumbad gefüllt und er hatte mehrere Kerzen angezündet. Ich kam nicht umhin, an James zu denken. Warum hatte er nicht einmal auf so eine Idee kommen können? Etwas so Romantisches, wie dieses Bad, war etwas, was ein Verlobter für einen tun sollte und nicht ein fremder Mann, wie mein Entführer. Tränen begannen über meine Wangen zu rollen und ich bemerkte sie erst, als raue Finger sie sanft abwischten. Ich blickte auf. Der Blick in den Augen meines Entführers war unleugbar zärtlich und obwohl ich wusste, dass es falsch war, begann mein Herz schneller zu schlagen und diesmal nicht aus Angst oder Nervosität.
Dumme Kuh! Er ist ein Irrer, der dich gegen deinen Willen gefangen hält, nicht dein Freund!
Ich zuckte zusammen, als ich spürte, wie der Kerl anfing, meine Bluse aufzuknöpfen. Panik stieg in mir auf. Er würde mich doch vergewaltigen. Oh mein Gott!
„Bitte nicht!“, flüsterte ich mit tränenerstickter Stimme.
„Shhhht! Ich tu