Hermann Mezger

Unersättlich


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in dieser Hinsicht gewohnt. Aber immer, wenn der Tod einen Menschen in der Blüte seiner Jahre gewaltsam an sich riss, wurde er sentimental.

      „Blattschuss!“, murmelte Bramme vor sich hin, während Vilar und Caldelas zum Schweigen verurteilt waren. „Mitten ins Herz! Saubere Arbeit.“

      Auf den folgenden Seiten fand er nur noch die Protokolle der Spurensicherung, dahinter einige nichtssagende Zeugenaussagen. Wie bei dem unbefriedigenden Ende eines Romans drehte er das letzte Blatt in der Akte mehrfach um. Er wollte sicher gehen, dass er nichts übersehen hatte. Mit erhobenen Augenbrauen sah er zu Caldelas auf.

      „Wo ist denn der Obduktionsbericht?“

      „Obduktionsbericht? Wozu das denn? Der Mann ist mit einer Kugel hingerichtet worden. Das sieht doch jedes Kind“, erwiderte der Comissario, und machte dabei den Eindruck eines auf frischer Tat ertappten Diebes.

      „Sie wissen doch genau so gut wie ich, dass jeder Ermordete in die Gerichtsmedizin muss!“

      „Dazu ist es zu spät“, sagte Caldelas kleinlaut.

      „Zu spät?“, mischte sich da Vilar ein, „heißt das, der Tote ist schon beigesetzt worden?“

      „Es war der ausdrückliche Wunsch der Familie Mora, den Toten umgehend zu beerdigen.“

      „Kein Mensch kann sich über die bestehenden Gesetze hinwegsetzen, auch die Familie Mora nicht!“ Bramme zwang sich ruhig zu bleiben. „Veranlassen Sie, dass der Tote sofort wieder ausgegraben wird!“ Er klatschte die Akte zu und unterstrich damit, dass seine Forderung unwiderruflich war. Im Augenwinkel sah er, wie Caldelas der Schweiß auf die Stirn trat.

      „Muss das sein?“, fragte dieser nervös.

      „Das muss sein! Und zwar sofort! Sorgen Sie dafür, dass die Leiche nicht hier untersucht wird, sondern in Lissabon!“

      Vilar holte sein Handy aus der Tasche. „Ich werde sogleich das Nötige veranlassen!“

      Bramme griff nach seinem Trenchcoat, klemmte sich die Akte unter den Arm und schickte sich an, zu gehen. Caldelas hörte zähneknirschend zu, wie Vilar mit der Staatsanwaltschaft telefonierte. Als Bramme noch einmal innehielt und sich nach Caldelas umdrehte, hätte dieser sich am liebsten in Luft aufgelöst.

      „Gibt es auch eine Akte über den verschwundenen Zöllner?“

      „Sicher!“, entgegnete Caldelas, einem Nervenzusammenbruch nahe, „möchten Sie die auch haben?“

      „Ich möchte nur mal einen Blick hineinwerfen.“

      4. Kapitel

      Vor dem Abendessen hatte Bramme das Bedürfnis nach etwas Bewegung. Nachdem er sein Zimmer bezogen hatte und sein bisschen Gepäck losgeworden war, machte er einen Spaziergang durch den Garten des Hotels. Das prachtvolle Renaissancegebäude türmte sich elegant in den purpurnen Abendhimmel; von der See her wehte eine angenehme Brise. Zufrieden schlenderte er einen Kiesweg entlang, wandelte unter Palmen an den in allen Farben leuchtenden Bougainvilleas vorbei, hörte dem aufgeregten Gezwitscher der Vögel zu und schaute interessiert einer Smaragdeidechse nach, die vor ihm über den Weg huschte und in einer Mauerritze verschwand. Er genoss dieses paradiesische Flair in vollen Zügen.

      Auch wenn er seine Arbeit liebte, so waren ihm diese Momente äußerst wichtig. Sie bildeten den nötigen Ausgleich, damit man in der ständigen Hektik und Anspannung nicht den Kopf verlor. Zu seinem großen Glück war ihm bisher Leid erspart geblieben. Er wusste nicht, wie es sich anfühlte, wenn man einen guten Freund oder einen nahen Verwandten verlor.

      Während er so durch den Garten schlenderte und mit den Fingern gedankenverloren über die raue, faserige Oberfläche einer Palme strich, musste er an die Familie Mora denken und an die Schmerzen, die er ihr durch die Exhumierung ihres Sohnes zufügen würde. Sicher, es war überhaupt nicht geklärt, unter welchen Umständen und aus welchen Motiven der Mord an Miguel Mora begangen worden war. Doch Mord war Mord, und ein getöteter Mensch und die, die um ihn trauerten, verdienten Respekt. Dieser Respekt konnte aber nicht so weit gehen, dass man bestehende Gesetze missachtete.

      Gerade beugte er sich über die hellgelbe Blüte einer ihm unbekannten Blume, als Vilars Stimme ertönte und ihn zusammenfahren ließ.

      „Na, habe ich Ihnen zu viel versprochen?“

      Bramme richtete sich auf und lächelte Vilar an, der ihm entgegenkam.

      „Keineswegs, hier kann man es aushalten!“

      „Ist alles in Ordnung?“, fragte Vilar besorgt, der offensichtlich Brammes nachdenkliche Miene bemerkt hatte, doch dessen Lächeln wurde breiter.

      „Wollen wir essen gehen?“

      Vilars Gesicht hellte sich sofort auf.

      „Nichts lieber als das!“

      Sie schlenderten langsam zum Hotel zurück und nahmen auf der Terrasse Platz. Von hier aus konnten sie nicht nur den schönen Garten bewundern, sondern auch den golden und purpurrot schimmernden Sonnenuntergang.

      Ein Ober brachte die Speisekarten, und Vilar bestellte ungefragt zwei Porto seco.

      „Was können Sie mir denn empfehlen?“, fragte Bramme, der mit der Speisekarte nicht zurechtkam.

      „Also ich bestelle Segredo de Maria. Das ist ein Mus aus Muscheln mit Reis.“

      „Oh, nein danke!“, entgegnete Bramme, der nach etwas suchte, was ihm wenigstens halbwegs bekannt vorkam. Nur allzu gut erinnerte er sich noch an das Hammelauge, das er in Zentralasien hatte verdrücken müssen. „Wie wäre es denn mit sechs Austern als Vorspeise und danach ein Seezungenfilet?“

      „Das ist eine sehr gute Wahl! Die Austern nehme ich auch.“

      Der Ober brachte die Aperitifs, und Vilar gab die Bestellung auf.

      „Ich habe eine Flasche Weißwein für uns bestellt. Das ist Ihnen doch recht?“

      „Mehr als recht! Die haben wir uns heute redlich verdient, und wir müssen ja auch noch auf eine gute Zusammenarbeit anstoßen.“

      Grinsend prosteten sie einander zu, und als Bramme die ersten Tropfen des porto seco auf seiner Zunge spürte, waren alle Anstrengungen des Tages schlagartig verschwunden.

      „Apropos verdient“, nahm Vilar den Faden wieder auf, „der Staatsanwalt wollte sich zwar mit der Genehmigung der Exhumierung etwas zieren, aber allein die Erwähnung des Justizministers hat genügt, um ihn zur Vernunft zu bringen. Der Obduktion steht also nichts mehr im Wege.“

      „Unser Kollege Caldelas wird das nicht gerne hören. Der Mann gefällt mir nicht!“

      „Zugegeben: Er war nicht besonders kooperativ, und sein Verhalten war ausgesprochen unfreundlich, aber Sie müssen ihn auch verstehen: Er war hier jahrelang der unumstrittene Chef, und plötzlich wird ihm einer vor die Nase gesetzt. Und dazu noch ein Ausländer!“

      „Sie mögen ja recht haben, doch ich bleibe dabei: Mit dem Mann stimmt etwas nicht!“

      In diesem Moment kam der Ober zurück und stellte eine große Schale mit Austern, Brot und halbierten Zitronen auf den Tisch. Allein der Anblick ließ Bramme das Wasser im Mund zusammenlaufen. Nachdem Vilar noch den Wein gekostet und ihnen der Ober „Bom apetite!“ gewünscht hatte, zog sich dieser mit einer leichten Verbeugung zurück.

      Mit einem Heißhunger fielen sie über die Vorspeise her. Sie schlürften eine Auster nach der anderen und spülten sie mit einem Schluck des erfrischenden Weißweins hinunter. Nachdem die Platte geputzt war, leckte sich Bramme genießerisch die Lippen und ließ sich in seinen Stuhl zurückfallen. „Fantastisch! So könnte es weitergehen, wenn wir morgen nicht einen so schweren Tag vor uns hätten.“

      „Was haben Sie denn morgen vor?“

      „Morgen besuchen wir die verfeindeten Familien. Caldelas wird ja wissen, wo sie wohnen. Mal sehen, ob wir noch etwas Neues erfahren.“

      „Oh je!