Sarah Ehrhardt

Die Vermittlung deutschsprachiger Gegenwartsliteratur nach Frankreich


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man Belletristik „als Kondensat dessen, was eine Gesellschaft bewegt [...]“, so Stefanie Grillo in einer Studie zu französischsprachiger Literatur auf dem deutschen Buchmarkt, „so erscheint es von hohem Interesse, was denn überhaupt in die Sprache des Nachbarlandes übersetzt und wie es auf dessen Buchmarkt präsentiert wird.“5 Ausgehend von dieser Annahme will auch die vorliegende Arbeit den literarischen Austausch 50 Jahre nach der Unterzeichnung des Elysée-Vertrags neu ausloten. Eine Reihe von Publikationen versucht den Transfer deutschsprachiger Literatur nach Frankreich bis in die frühen 90er Jahre zu beschreiben. Was jedoch fehlt, ist eine Betrachtung des extrême contemporain.6 Im Mittelpunkt der Arbeit sollen nicht die literaturwissenschaftliche Analyse und Einordnung der übersetzten Werke stehen; vielmehr geht es um die konkrete Darlegung und Auswertung der Transferprozesse, der branchen- und betriebsinternen Strukturen zur Vermittlung von deutschsprachiger Literatur nach Frankreich. Als Zeitraum werden dabei die Jahre von 2000 bis (einschließlich) 2012 festgesetzt.

      Die theoretische Grundlage der Analyse bildet das Konzept des literarischen Feldes von Pierre Bourdieu, das einleitend skizziert und in seiner Besonderheit als Raum, der Akteure unterschiedlicher literarischer Felder vereint, neu verortet wird. Auf die abstrakte Darstellung folgen eine konkrete Schilderung der französischen Marktbedingungen sowie eine statistische Auswertung des Lizenzverkaufs deutschsprachiger belletristischer Titel. Autoren und Werke des Titelkorpus‘, das diese Arbeit unterstützend begleitet, werden hinsichtlich ihrer Rolle im Transfer grob geordnet. Als maßgeblich in den Transfer involvierte Institutionen sollen zudem die französischen Verlage, die sich für die deutschsprachige Literatur besonders engagieren, charakterisiert werden. Die Arbeit versucht anschließend, die Muster des Transfers genauer zu beschreiben, indem sie die Akteure und ihre Motivation hinterfragt. Fördermöglichkeiten, welche die Übersetzung deutschsprachiger Literatur ins Französische unterstützen, werden kurz dargestellt und ergänzt um Maßnahmen, die den Austausch intensivieren könnten. Ziel der Arbeit ist es, den Status des Literaturtransfers nach Frankreich für die Gegenwart zu bestimmen und zugleich einen Überblick über die spezifische Struktur dieses über Ländergrenzen hinaus gehenden literarischen Feldes zu geben.

      2 Theorie des literarischen Transfers über Ländergrenzen

      2.1 Akteure, Positionen und Machtverhältnisse im literarischen Feld

      Bevor diese Arbeit sich dem empirischen Teil der Untersuchung zuwendet, soll zunächst die theoretische Grundlage der institutionellen Vermittlung von Literatur im internationalen Kontext genauer betrachtet werden. Da der Vermittlungs aspekt das Zentrum dieser Analyse darstellt, ist es unabdingbar, auch die Beziehungen zwischen den am Transferprozess beteiligten Personen und Institutionen in der ihnen eigenen Dynamik zu verstehen. Als Grundlage soll daher die von Pierre Bourdieu entwickelte Theorie des literarischen Feldes dienen. Diese bietet die Möglichkeit, sämtliche Akteure des Literaturbetriebs auf abstrakter Ebene zu positionieren, Interessen und Einflussfaktoren zu bestimmen, Hierarchien auszuloten. Das Modellhafte der Feldtheorie lässt sich in allen Einzelheiten auf den Literaturtransfer deutschsprachiger Texte nach Frankreich übertragen – welche Verlage wie viele und welche Texte aus welchem Grund übersetzen, wird in den Folgekapiteln erläutert. Zunächst sollen jedoch die Spezifika des literarischen Feldes nach Bourdieu sowie die Problematik der Überschreitung von Feld- und Ländergrenzen beschrieben werden.

      Als Soziologe betrachtet Bourdieu das Feld als Spielraum menschlichen Handelns. Das literarische Feld ist dabei nur eines von vielen Feldern, die sich innerhalb der Gesellschaft etabliert haben. Aufgrund der besonders kritischen Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Kommerz gelten jedoch gerade hier spezielle Regeln. In Les règles de l‘art. Genèse et structure du champ littéraire beschreibt Bourdieu das literarische Feld als Raum relativer Autonomie, der seit Ende des 19. Jahrhunderts zumindest bedingt unabhängig von außerliterarischen Gesetzen funktioniere.7 Dass der Grad der Autonomie innerhalb des Feldes variiert, bedinge die Stellung einzelner Akteure im sogenannten Raum der Positionen (l‘espace des positions).8 Definiert über die soziale Lage und den Standpunkt verschiedenen Themen und Feldteilhabern gegenüber, ergibt sich so ein dem literarischen Feld eigenes Beziehungsgeflecht der Akteure:

      Le champ est un réseau de relations objectives (de domination ou de subordination, de complémentarité ou d‘antagonisme, etc.) entre des positions […]. Chaque position est objectivement définie par sa relation objective aux autres positions […].9

      Als Akteure gelten dabei sowohl Einzelpersonen, als auch als Einheit auftretende Institutionen. Für das literarische Feld ergibt sich daraus eine Vielzahl agierender Instanzen mit unterschiedlichen Interessen: Autoren, Lektoren, Journalisten, Verlage, Agenturen, Konzerne usw. – sie alle handeln laut Bourdieu einerseits aus ihnen innewohnenden Dispositionen heraus10, andererseits in dem Bestreben, ihre Macht innerhalb des Feldes zu festigen bzw. auszubauen.11 Maßgeblich dafür sei in jedem Fall das eigene Kapital, dessen heterogene Verteilung unter den Akteuren für ständige Dynamik sorge.

      Wenngleich der Begriff Kapital vor allem mit ökonomischen Interessen assoziiert werden mag, ist Geld keinesfalls die einzige Ressource, die das literarische Feld bestimmt. Gerade Verlage verfügen häufig über ein sehr großes symbolisches Kapital, dessen Wert mitunter den des ökonomischen Kapitals übersteigt (und/oder zumindest teilweise bedingt). Gemeint sind damit etwa das Renommee eines Hauses oder konkreter Autoren sowie z.B. Auszeichnungen durch Preise und Stipendien. Aus der Kapitalverteilung ergeben sich wiederum zwei Pole als Ausdruck unterschiedlicher Interessen:

      Dès lors, le champ littéraire unifié tend à s‘organiser selon deux principes de différenciation indépendants et hiérarchisés : l‘opposition principale, entre la production pure, destinée à un marché restreint aux producteurs, et la grande production, orientée vers la satisfaction des attentes du grand public […].12

      Zugespitzt formuliert könnte man also zwischen literarisch anspruchsvollen Werken auf der einen und trivialer Literatur auf der anderen Seite unterscheiden.13 Während erstere eher für ein kleines Publikum und tendenziell unabhängig von den außerliterarischen Gesetzen des Marktes produziert würden, ziele letztere auf die breite Masse und hohe Einnahmen. Demnach gebe es „deux représentations opposées de l‘activité de l‘écrivain et même de l‘éditeur, simple marchand ou découvreur audacieux [...]“14 – grundlegend andere Ansprüche also an die Produktion und Verbreitung (später auch im Rahmen der Übersetzung) von Literatur. Dass ein Werk dabei nicht immer allein aus sich selbst heraus als literarisch wertvoll gilt, umschreibt Bourdieu über die Produktion von Glauben (production de la croyance)15 – dabei geht es um die Schaffung von Wert mittels verschiedener Möglichkeiten, die unter dem Begriff consécration zusammengefasst werden. Dieser meint nicht nur die gezielte Steigerung des symbolischen Kapitals (etwa durch Auszeichnungen, Klappentexte, Kritiken usw.), sondern auch den Versuch, die öffentliche Wahrnehmung etwa zugunsten eines Autors/Titels/Verlags zu steuern.16

      Bourdieus Konzept eines literarischen Feldes zeigt, dass schon innerhalb der Grenzen eines Feldes die Publikation von Literatur keinesfalls nur eine Frage des Textes ist. Außerliterarische Kriterien beeinflussen die Auswahl und Aufnahme der Werke mindestens ebenso sehr. Die Menge der zirkulierenden Texte ergibt sich aus einer Vielzahl von Entscheidungen, die an unterschiedlichen Punkten des Feldes, des Literaturbetriebs, getroffen wurden. Umso komplexer ist der Prozess der Übersetzung in eine andere Sprache, weil die Entscheidung hier noch selektiver und vielleicht noch gewichtiger ist, da sie einerseits nur einen Bruchteil der Literatur eines Sprachraums abbilden kann, gleichzeitig aber – im Idealfall – einen möglichst repräsentativen Querschnitt selbiger abbilden sollte. Die Frage nach den in einem Land übersetzten Texten impliziert also immer auch die Frage nach den jeweiligen Marktbedingungen, die in dieser Arbeit für den Zeitraum der letzten 13 Jahre genauer betrachtet werden sollen. Folglich erfordert Bourdieus national beschränktes Konzept eine Ausweitung auf den Fall des Überschreitens von (Feld-)Grenzen und dadurch neu hervortretende Strukturen.

      2.2 Von der Ausgangs- zur Aufnahmekultur – veränderte Feldstrukturen im internationalen Kontext

      2.2.1