Sarah Ehrhardt

Die Vermittlung deutschsprachiger Gegenwartsliteratur nach Frankreich


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die sich aus der Grenzüberschreitung des vermittelten Textes ergeben, spricht Bourdieu in seinem Hauptwerk lediglich an, indem er auf den unterschiedlich ausgebildeten Habitus von Personen hinweist – Werturteile müssten sich demnach zwangsläufig unterscheiden, wenn der Kontext ein anderer ist.17 Dabei geht es an diesem Punkt nicht ausschließlich um die Rezeption des breiten Publikums, sondern vor allem um das Werturteil, auf dessen Grundlage Akteure der Branche Entscheidungen für oder gegen die Übersetzung eines Textes fällen. Durch diese Entscheidungen werden sie zu wichtigen Gestaltern des Bildes einer Nationalliteratur (oder, infolgedessen, einer Nation/eines Sprachraums überhaupt) im Ausland.

      Auf die Risiken des import-export intellectuel18 geht Bourdieu dezidierter in seinem Text Les conditions sociales de la circulation internationale des idées aus dem Jahr 1989 ein. Als grundlegendes Problem des Transfers von (wissenschaftlichen, aber auch literarischen) Werken sieht er den Verlust von Kontext, was in der Empfängerkultur häufig für Missverständnisse sorge:

      Le fait que les textes circulent sans leur contexte, qu‘ils n‘emportent pas avec eux le champ de production - pour employer mon jargon - dont ils sont le produit et que les récepteurs, étant eux-mêmes insérés dans un champ de production différent, les réinterprètent en fonction de la structure du champ de réception, est générateur de formidables malentendus.19

      Die Bemerkung beschreibt zwei verschiedene Entwicklungen, die das Transferobjekt durchläuft: die kontextfreie Zirkulation auf der einen, die anschließende Uminterpretation auf der anderen Seite. Letztere scheint dabei weniger eine bewusste Deutung als eine notwendige Bestimmtheit zu sein, die sich aus dem neu hinzugetretenen Feld ergebe. Bourdieu spricht auch von der Rezeption dieser Werke als textes purs20 – als Texte also, deren impliziter, kontextgebundener Inhalt in der Rezeption nicht mehr mitschwingt. Im Prozess der Grenzüberschreitung vollziehe sich demnach ein Bruch, der bewirkt, dass die Werke „gemäß der internen Logik des Aufnahmefeldes re-interpretiert werden“21. Die Funktion und Wirkung eines Textes werde dabei mindestens ebenso sehr von der Aufnahmekultur wie vom Kontext des ursprünglichen Feldes bestimmt.22

      Dass diese Neuinterpretation unter Umständen Missverständnisse nach sich zieht, ist jedoch nicht ausschließlich negativ, wie die Einschränkung es vermuten lassen könnte. Bourdieu spricht sich keinesfalls gegen die Übersetzung von Texten aus, noch hält er es für unmöglich, dass sie in anderen Feldern angemessen rezipiert werden. Vielmehr geht es darum, die Bedeutungs- und Wertverschiebung, die Texte beim Transfer erfahren, sichtbar zu machen – und darum zu zeigen, welche Faktoren den Transfer überhaupt stattfinden lassen. Die Rezeption eines Textes jenseits seiner Ausgangskultur könne dessen Wahrnehmung durchaus positiv ergänzen, insofern als sie zunächst eine unvoreingenommene Position einnimmt: „[...] la lecture étrangère peut parfois avoir une liberté que n‘a pas la lecture nationale.“23 So werden etwa im Ausland unbekannte Autoren unabhängig von ihrem Status gelesen; die Wertzuweisung erfolgt nur bedingt auf Basis außerliterarischer Kriterien.

      Eine Reihe weiterer Faktoren spielen in den komplexen Prozess der Rezeption literarischer Texte mit hinein. Jurt verweist u.a. auf Yves Chevrel und dessen Überlegungen zur grenzüberschreitenden Wahrnehmung von Literatur – vor allem der „Status der offiziellen Beziehungen zu dem Ausgangsland“24 nehme hier als außerliterarisches Kriterium eine entscheidende Position ein. Michel Espagne merkt in einem Grundlagenwerk zum selben Thema an, dass auch das Identitätsgefühl der am Transfer beteiligten Staaten eine wichtige Rolle spiele25 – mit der Einschränkung, dass sich der Unterschied zwischen den Nationen im Zuge der Globalisierung zunehmend auflöse: „Toujours est-il que la notion de culture nationale tend au XXe siècle de perdre ses contours“.26 Im Sinne einer umfassenden Rezeptionstheorie und -analyse kann die Fragestellung in dieser auf die Vermittlung ausgerichteten Arbeit nicht angegangen werden. In welchem Maße jedoch Nation und Nationalität für den Transferprozess noch eine Rolle spielen, wird das Kapitel 5.3.2 versuchen zu zeigen.

      Zunächst stellt sich jedoch die Frage, wie genau sich der Transfer von einer Kultur in die andere überhaupt gestaltet. Um aus dem nationalen Kontext herauszutreten und Werke in das literarische Feld eines anderen Landes einzuführen, braucht es Vermittlungsinstanzen. Der folgende Abschnitt wird die theoretischen Grundlagen der Vermittlung und ihrer Träger genauer betrachten, um anschließend ganz konkret die Bedingungen des Transfers belletristischer Werke nach Frankreich zu analysieren.

       2.2.2 Sélection und marquage: Die Rolle des Kulturvermittlers

      Die länderübergreifende Zirkulation von Texten „ne peut pas se faire toute seule. […] la logique du laisser-faire conduit souvent à faire circuler le pire et à empêcher le meilleur à circuler.“27, so Bourdieu. Demnach kommt dem Vermittler von Kultur im Allgemeinen und von Literatur im Speziellen eine Schlüsselfunktion zu. Diese impliziert nicht, dass der Wert des Originals allein nicht hoch genug wäre, um eine internationale Verbreitung zu rechtfertigen, schreibt ihm jedoch allein aufgrund der Auswahl sowie der mit dem Transfer verbundenen Mühe (symbolischer wie ökonomischer Art, um die Termini Bourdieus zu verwenden) einen zusätzlichen Wert zu. Nicht selten sorgt sie überhaupt erst dafür, dass ein Werk/ein Autor Eingang in die Aufnahmekultur findet und stellt also eine Form des Anschubs für die spätere Zirkulation dar. Die Mechanismen des Transfers zwischen zwei Ländern zu kennen, heißt einerseits, die Menge der im Umlauf befindlichen Texte kritischer werten zu können, und bietet andererseits die Möglichkeit, die Transferprozesse selbst zu optimieren. In diesem Sinn muss der Vermittler als eine Art Scharnier genauer untersucht werden.

      Im Rahmen der national begrenzten Feldtheorie ist der Verleger „als Brückenglied zwischen Autor- und Leserschaft“28 für Bourdieu ein Vermittler, er agiere hingegen weniger als Schnittstelle unterschiedlicher Sprachräume. Ein internationales Konzept fordert demnach eine Ausdehnung des Begriffs. Neben Verleger und Lektoren, Autoren und Kritiker tritt in diesem Fall natürlich der Übersetzer, ohne dessen Beitrag die Überwindung sprachlicher Grenzen nicht möglich wäre.29 Hinzu kommen eine Reihe von Personen und Institutionen, um welche die Gruppe der Akteure des nationalen literarischen Feldes ergänzt wird, die sich ausschließlich um den Transferprozess bemühen (etwa: spezialisierte Agenturen und Scouts, das Goethe-Institut usw., vgl. Kap. 6). Eine triftige Anmerkung zu diesem Thema macht Nathalie Mälzer-Semlinger, indem sie auf die häufig unscharfe Trennung zwischen der Begriffen Mittler und Vermittler hinweist. Im Wort Vermittler schwinge laut Mälzer-Semlinger aufgrund des Präfixes der vermittelte Gegenstand selbst stärker mit.30 Der Mittler erfordere selbigen nicht unbedingt. „Dafür ist seine Tätigkeit enger an das Ziel der Verständigung, des Schlichtens geknüpft.“31 Er wirkt also im Sinne einer nachhaltigen Beziehung zwischen den Ländern und weniger punktuell, als der Vermittler es tut. Dies schließe natürlich nicht aus, dass letzterer über längere Sicht durch sein Handeln ebenfalls zum Mittler wird.32 Das kann sowohl auf engagierte Verlage als auch auf einzelne Autoren und Übersetzer zutreffen, sowie auf die bereits erwähnten, dem Transfer verschriebenen Institutionen. In dieser Arbeit wird der Begriff Vermittler zunächst als Überbegriff für am Transferprozess beteiligte Akteure verwendet.

      Grundsätzlich motivieren unterschiedliche Interessen die Vermittler von Literatur. In der Theorie Bourdieus bildet das Streben nach symbolischem oder ökonomischem Kapital die Extreme dieser Positionen (Vgl. Kap. 2.1) – i.d.R. wird jedoch eine Kombination aus beidem das Handeln der Akteure bestimmen, wobei sich die Anteile der jeweiligen Motivation stark unterscheiden können (abhängig z.B. vom Profil des jeweiligen Verlags, von der Umsatzstärke eines Konzerns oder der inhaltlichen wie wirtschaftlichen Unabhängigkeit einer Institution).

      Auf inhaltlicher Seite kann die Vermittlung verschiedene Strategien verfolgen:

      Je nachdem, ob der Vermittler auf eine Egalisierung oder auf eine Differenzierung der beiden Kulturen hinarbeitet, und ob er dann diese Unterschiedlichkeit positiv oder negativ bewertet, ob er das Fremde funktionalisiert, in dem Sinne, dass zum Beispiel eigene Auffassungen unterstützt werden, oder für sich stehen lässt, ob das Fremde stereotyp oder differenziert betrachtet wird, lassen sich die Vermittler dem Ziel ihrer Tätigkeit