Kristina Schwartz

Harriet


Скачать книгу

in pastellem Hellblau und einer orangefarbenen Bluse. Sie startete den Wagen. Die Gleichmäßigkeit, mit der der Motor ihr auch akustisch zu verstehen gab, dass er zuverlässig seinen Dienst versah, machte sie bald schläfrig. Wie absurd ihr plötzlich dieser Traum erschien. Er konnte doch gar nichts mit der Realität zu tun haben, oder doch? Der Raum, den sie so genau vor sich gesehen hatte, war in der Mühle gewesen. Doch es gab in deren Keller nicht einen Raum, der auch nur annähernd wie das Gewölbe aus ihrem nächtlichen Hirngespinst aussah. Im Keller der Mühle gab es - so fing es schon einmal an - gar kein Gewölbe.

      Dann hatte sie noch eine Zwangsjacke gesehen, so genau und detailliert, als wäre sie vor ihr gelegen. Unvermittelt sah sie wieder den Riemen vor sich, der tief zwischen den Pobacken der Gefesselten verschwand. Eine Übelkeit, als hätte sie bereits zwei Wochen gegen Windstärke zwölf vor Kap Hoorn angekämpft, trieb ihr die Blässe einer Leiche ins Gesicht. Hatte da gerade jemand gehupt? Oder war das schon vor Minuten geschehen? Joe konnte weder das eine noch das andere bestätigen bzw. ausschließen. Gedankenverloren blickte sie in den Rückspiegel. Sie spürte, wie sich selbst unter der langärmeligen Bluse die Härchen an ihren Armen aufrichteten. Nie im Leben würde Joe so eine Jacke freiwillig anziehen.

      Womöglich hat die Frau in deinem Traum sie nicht "freiwillig" angezogen?

      Möglich. Ganz bestimmt sogar.

      Intensiv versuchte sie nachzudenken. Nein. Sie kannte ihres Wissens niemanden, der eine solche Jacke besaß oder besitzen könnte. Nicht einmal annähernd.

      Dann war da noch dieses schwarze, so unnatürlich glänzende Haar dieser Frau. Noch nie zuvor hatte Joe im realen Leben Haare gesehen - egal in welcher Farbe -, die bei künstlichem Licht so intensiv schimmerten.

      Vermutlich, weil es nur ein Traum war, Joe.

      Ja, vermutlich, versuchte sie sich selbst zu beruhigen.

      Aber ... warum hab' ich dann die Jacke so genau vor mir gesehen, so plastisch, so real, dass ich sie hätte anfassen können?

      Tja ...

      Ups. War das nicht eine Achtziger-Beschränkung gewesen? Dann bist du ja schon beinah da. Jetzt nur nicht die Abfahrt Strebersdorf verpassen, sonst kannst du wieder mühsam schauen, wo du in dem Straßengewirr umdrehen kannst.

      Joe sah auf ihre Finger, die eiskalt und zitternd das Lenkrad umklammerten, dass die Knöchel weiß hervortraten. Das was sie wirklich fertig machte, was sie nicht mehr fähig war aus ihrem Gehirn zu vertreiben, war dieses furchtbar schmerzverzerrte Gesicht dieser Frau, dieses leblose, starre Gesicht - Sandras Gesicht.

      Am nächsten Morgen, bereits zehn Minuten vor sieben war Joe auf der Baustelle bei der Mühle. Joe hatte sich dem Anlass entsprechend ... Das ist natürlich quatsch. Joe hatte sich der Stimme des Poliers entsprechend aufgebretzelt. Mit engem Top, oberschenkelkurzem Pencilskirt und den Sieben-Zentimeter-Pumps war sie den dreiviertel Kilometer bis zu der Baustelle gegangen, um dort mit ihren Schuhe in der aufgewühlten Erde zu versinken.

      Ein großgewachsener, kräftiger Mann kam ihr entgegen und drückte ihr die Hand. "Jevtic", sagte er, "ich bin der Polier. Danke, dass Sie kommen konnten."

      Joes Emotionen rannten mit einem Mal in wildem Amok durcheinander. Ein wohliges Prickeln lief durch ihren Körper, von dem sie nicht sagen konnte, ob es von seiner angenehmen Stimme oder dem etwas schmerzhaften Händedruck herrührte. Sein schwarzes Haar war schulterlang und Joe roch ein dezentes Aftershave und das, obwohl er sich schon seit Tagen nicht mehr rasiert zu haben schien. Wie lange war sie schon wie gelähmt herumgestanden, ehe sie ihm ein charmantes "Ich bin Joe Binder" entgegnete.

      Michael Jevtic hatte daraufhin endlich Gelegenheit sein "Freut mich Sie kennenzulernen" an die Frau zu bringen. "Kommen Sie bitte mit. Ich muss Ihnen was zeigen. Aber seien sie vorsichtig, dass sie nicht in die Künette fallen."

      Vorangehend betrat er die Mühle, öffnete die Tür, die in den Keller führte. Joe, vorsichtig über die schmalen Stufen stöckelnd, folgte ihm. Ihre Fantasie arbeitete, als hätte sie sich gerade eine Überdosis Amphetamine kombiniert mit Marihuana hineingezogen und zum Drüberstreuen noch den gesamten Vorrat ihrer angesparten Hanfkekse. Die Geschichten ihrer Großmutter fielen ihr ein, wie sie mit ihren "Freunden, Liebhabern, Kunden" in den Keller gegangen war, um dort ihre erotischen Spielchen mit ihnen zu treiben oder mit sich treiben zu lassen. Oma Johanna war wirklich vielseitig - und flexibel. Würde der Polier mit der erotischen Stimme ihr Ähnliches antun? Würde er sie gegen ihren Willen fesseln, knebeln, sie wehrlos machen, um sie dann ihrem Höhepunkt entgegen zu treiben? Und sie würde es geschehen lassen, würde sich nicht wehren, vielleicht etwas, um den Schein zu wahren, weil es gar nicht gegen ihren Willen war? Würde er sie auf brutalste Art foltern, mit seiner angenehmen Baritonstimme, die sie vermutlich schon allein zum Orgasmus bringen könnte, auch wenn er ihr nur den Wetterbericht oder die Börsenkurse vorlas?

      "So, da wären wir" unterbrach er ihren orgastischen Tagtraum. Knöchelhoch verteilte sich Staub und abgeschlagener Putz über den Boden. Jetzt erst sah sie, warum er sie hierher geführt hatte. Keine Seile, keine Handschellen, keine Knebel und keine Reitgerte warteten hier auf sie. Sie hoffte ihre Enttäuschung war nicht zu offensichtlich.

      "Geht es Ihnen gut?"

      "Es sind nur ..." die Schuhe, hätte sie beinah gesagt. Steile Treppen in Stöckelschuhen war sie noch nicht gewohnt zu gehen. "... ich bin etwas schwindlig."

      "Hier", sagte er und wies auf ein beinah türgroßes Loch, das in der Wand klaffte und den Blick in einen anderen Raum freigab.

      "Um Gottes willen", entfuhr es Joe. "Statt die Mühle zu sanieren, reißen Sie sie immer weiter ein."

      "Nicht ganz, Frau Binder", sagte er. "Als wir draußen anfingen, die Kellerwände bis runter zum Fundament freizulegen, um sie gegen Feuchtigkeit zu isolieren, haben wir bemerkt, dass der Kellergrundriss nicht mit dem des Erdgeschosses übereinstimmt. Wir haben dann hier ...", er wies auf die Wand mit der ausgefransten Öffnung, "... den alten Verputz abgeschlagen und diesen Durchgang gefunden. Er war provisorisch mit Holzstaffeln und Brettern zugemacht und dann schleißig verputzt worden. Hielt natürlich nicht besonders. War `ne Husch-Pfusch-Aktion. Aber sehen Sie hier, ein Rundbogen."

      Joe betrachtete den halbkreisförmigen, mit alten Ziegeln gemauerten Bogen, der in den neu gefundenen Raum führte. "Was ist dahinter?"

      "Nicht wirklich viel."

      Eine aufwendig gearbeitete Holztruhe stand neben einem halb zusammengefallenen Regal. Von der Decke hing eine leere Lampenfassung, nicht weit daneben ein massiver Haken, an dem man ein Pferd hätte aufhängen können.

      Fasziniert wie eine Teenagerin, der man soeben angeboten hatte, sie könne die Rolle der wunderschönen, entführten Prinzessin in Star Wars - Episode sieben spielen, stand Joe mit offenem Mund in all dem Durcheinander, das sich allerdings zum Großteil in ihrem Kopf abspielte. Sie spürte, wie sich ihre Wangen röteten. Obwohl sie den Raum zum ersten Mal in ihrem Leben sah, kannte sie ihn sehr gut. DAS war der Raum, der Dungeon - allerdings hieß er damals noch nicht so -, in dem ihre Großmutter so viele glückliche Stunden erlebt hatte.

      "... hallo ... Ihnen gut?"

      Joe stützte sich gegen die Wand. "Nur der Kreislauf. In der Früh braucht er immer, um in Schwung zu kommen. Geht gleich wieder." Für einen Augenblick glaubte sie, so etwas wie Besorgnis in seinen Augen zu sehen.

      "Jetzt wollte ich von Ihnen wissen, sollen wir den Durchgang komplett freilegen und den angrenzenden Raum in die Sanierung mit einbeziehen, oder sollen wir ihn - diesmal ordentlich - mit Ziegeln abmauern und ..."

      "Auf gar keinen Fall", platzte Joe echauffiert heraus.

      Abwehrend, wie ein Eindringling, den frau gerade beim Durchstöbern ihres Kleiderschranks ertappt hatte, hob Michael Jevtic beide Arme und hielt ihr die offenen Handflächen entgegen. "War nur `ne Frage. Die Entscheidung liegt natürlich bei Ihnen."

      Wenn er noch lange weiterquasselt, wirst du noch hier unten, mitten in Omas Folterkeller, kommen, Joe.

      "Scheiße", fauchte Joe leise. Doch nicht leise genug.

      "Bitte?"