Michael Aulfinger

Möllner Zeiten


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hatten.

      Kapitel 1

       Der Anfang

       1188 – 1225

      Der junge Mann lugte durch die Zweige der Büsche, die sich oben auf dem Hügel befanden, hindurch. Nachdem er genau gesehen, was er zu sehen befürchtet hatte, drehte er sich um und legte sich auf den Rücken. Sein Bruder tat es ihm gleich. Dann drehten sie ihre Köpfe, bis sie sich ansahen, und nickten einander zu. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, rutschten sie den Hügel auf dem Rasen hinunter und gelangten auf den Pfad, der sich im Laufe von Genera­tionen am Fuße des Hügels gebildet hatte. Er war schmal, denn nur zu Pferd oder zu Fuß wurde er benutzt. Schnell liefen sie in ihr Dorf. Es lag am westlichen Ufer des Flusses Delbende, unweit der Mündung, wo der Fluss in den See Mulne trübes Wasser – floss. Dort waren ihre slawischen Hütten in loser Anordnung im Kreis aufgebaut. Hier wohnten die Polaben schon seit Jahrhunderten. Ihnen fehlte es hier an nichts. Ihre Felder hatten immer genug für die Ernte hervorgebracht. Die nahen Seen und die Flüsse Delbende im Süden und die Stecknetz im Norden boten genug Fische als Mahlzeit. Die vielen Wälder und Felder in der Umgebung ließen eine ertragreiche Jagd zu. Niemals hatten sie es je bereut, hier ihr Dasein zu fristen. Sie hatten sich wohlgefühlt, doch nun sollte alles anders werden.

      Prabislaw lief neben seinem jüngeren Bruder Taomir zu der Hütte seines Vaters. Die Hütte war aus Buchenholz erbaut und mit Reet gedeckt worden. Um die Hütten herum waren Gärten angelegt, auf denen Erbsen, Bohnen, verschiedene Laucharten und vielerlei Gemüse, Gewürze und Heilpflanzen wuchsen.

      Zum Glück fand er seinen Vater vor der Hütte stehend. Mistiwoi war ein bärtiger Mann von fast vierzig Jahren. Bei den Polaben galt dies schon als hohes Alter. Er war ein ruhiger Mann, den nichts so schnell aus der Ruhe brachte. Seine Söhne dagegen waren hitziger. Sie hatten das Temperament ihrer Mutter geerbt. Die Mutter war vor fünf Jahren bei der Geburt eines Mädchens im Kindbett mitsamt dem Säugling verstorben. Dies war bei den Polaben und den herrschenden medizinischen Verhältnissen keine Besonderheit. Mistiwoi, der gerade dabei war das Fischernetz zu flicken, schaute lächelnd hoch, als er seine aufgewühlten Söhne auf sich zulaufen sah.

      „Was habt ihr denn nun wieder ausgefressen?“

      „Nichts“, riefen sie im Verbund. „Im Gegenteil. Wir haben Wichtiges gesehen, was du unbedingt wissen musst!“

      „Na dann schießt mal los.“

      Prabislaw hatte inzwischen seinen Atem wieder gefunden und konnte es nicht erwarten, diese für ihn ungeheure Neuigkeit hinauszuposaunen. Seine Worte überschlugen sich beinahe.

      „Sie sind da. Ich habe einen langen Treck mit Siedlern gesehen, die im Süden über die Furt der Delbende übersetzten. So viele Wagen und Menschen habe ich noch nie gesehen. Es sind weit mehr als in unserem Rundling wohnen.“

      Die Polaben wohnten wie die meisten slawischen Stämme in Rundlingdörfern. Oft standen nur zehn Hütten im Kreis, wobei die geschlossene Seite in Wassernähe lag. Der Zuweg zum Dorf war an höherer und trockener Stelle gelegen.

      „Das überrascht mich nicht. Ich habe schon lange mit ihnen gerechnet. Selbst im nicht so weit entfernten Bredenvelde haben sie sich schon vor Jahren niedergelassen und dort eines ihrer mächtigen Gotteshäuser erbaut. Von den Hufen im Süden habe ich am Rand der Felder schon das Haus der krastajanin erblicken können. Es hat einen spitzen hohen Turm. Jedenfalls wundert es mich nicht, dass sie jetzt auch hierher kommen.“

      „Mich auch nicht.“ Die Stimme gehörte dem Starosta, dem Ältesten des Dorfes, und sein Name war Postwoi.

      Der temperamentvolle Prabislaw hatte die Lösung für die Frage, die er selbst aussprach, auch gleich parat.

      „Was machen wir jetzt? Sollen wir sie vertreiben? Ich bin dabei. Mit meinem Schwert werde ich sie wieder über den Limes zurück jagen.“

      Mistiwoi ging zu seinem ältesten Sohn und legte ihm die Hände auf die Schulter. Ruhig sprach er zu Prabislaw.

      „Wir werden keinen hier verjagen. Wir sind ein friedliebendes Volk und achten die Gesetze der Gastfreundschaft. Wir führen keinen Krieg mehr, sondern betreiben Ackerbau und Viehzucht. Wenn sie hier in der Nähe siedeln wollen, dann sollen sie es. Wir können alle hier zusammen leben. Es gibt für alle genug Äcker zu pflügen, und in den Wäldern ist genug Wild für alle. Hast du mich verstanden?“

      „Aber …“

      „Kein aber. Wir müssen in Frieden mit ihnen leben. Sonst kann es unser aller Untergang sein. Von welchem Stamm sind sie denn?“

      „Das weiß ich nicht. Aber ich werde es herausfinden.“ Der fünfzehnjährige Prabislaw drehte sich sofort mit dem zwei Jahre jüngeren Taomir um und setzte mit dem familieneigenen Boot über die Delbende über, um an das andere Ufer zu gelangen. Bald war er aus den Augen der beiden Männer verschwunden, die einen Moment lang schwiegen und den Knaben nachdenklich nachgesehen hatten.

      „Irgendwann musste es ja geschehen. Nördlich von hier, in Racisburg, und im Westen in Bredenvelde sind die Christen ja schon seit vielen Jahren. Aber bis hierhin hatten sie sich zum siedeln noch nie gewagt. Wir werden wohl mit ihnen leben müssen.“

      Der Name Racisburg stammte vom Slawenfürsten Ratibor, kurz Ratse genannt, der die Feste vor über hundert Jahren gegründet hatte.

      „Bleibt uns eine andere Wahl?“, fragte Mistiwoi.

      „Entweder bleiben wir und versuchen mit ihnen auszukommen, oder wir ziehen weg. Nur wissen wir nicht ob wir dort, wo wir Land finden, ebenfalls willkommen sind, und ob dort ein guter Boden ist, der uns fortwährend ernähren kann. Was wir hier haben wissen wir jedoch. Oder sehe ich das falsch, Starosta?“

      Postwoi schüttelte den Kopf. Resigniert sah er auf die Mulne, an deren hinterem rechten Rand sich der Werder erhob. Auf der linken Seite des Werders konnte er von seinem Standort aus die höchste Erhebung erkennen. Dort sah er schon die ersten Christen ankommen und mit der Rodung beginnen. Es gab mal einen Thingplatz dort. Einst hatten sich auch wenige Hütten darauf befunden. Die Polaben nutzen den Werder jedoch nicht mehr.

      Seit einigen Jahren hatte sich ein Frachtweg von Süden nach Norden gebildet. Die Händler hatten zusehends den Werder als Rastplatz auserkoren, weil er mittig auf der Strecke zwischen Lubecke und Louwenburg lag. Immer mehr Händler und Kaufleute kamen.

      Mistiwoi und Postwoi hatten sich schon öfters über die bevorstehende Besiedelung durch die deutschen Völker in der slawischen Gegend unterhalten. Es war ein Prozess, der schon lange eingesetzt hatte, und überraschte sie eigentlich wenig. Weit im Norden an der Ostsee waren die Wagrier, ebenfalls ein slawisches Volk, ansässig gewesen. Doch dann hatten vor einigen Jahrzehnten Besiedelung und Christianisierung im Verbund begonnen. Unter herzoglicher, gräflicher und später auch bischöflicher Leitung wurden Siedler aus dem ganzen Reich angeworben.

      Postwoi hatte als Ältester erfahren, wie im Norden die Polaben und Wagrier durch die von Westen einströmenden Siedler vertrieben oder assimiliert wurden. Einst hatte im Jahr 1143 Graf Adolf von Holstein vom Geschlecht der Schauenburger Boten nach Flandern, Holland, Utrecht, Westfalen und Friesland gesandt, um die Siedler anzulocken. Dies tat er mit den verlockendsten Versprechungen, ihnen die schönsten, geräumigsten, fruchtbarsten und an Fisch und Wild überreichsten Gebiete nebst günstigen Weidegründen und Äckern zu überlassen. Daraufhin brachen die Männer mit ihren Familien und ihrem gesamten Hab und Gut auf, um das versprochene Land in Besitz zu nehmen. Das es noch teilweise mit Slawen bevölkert war störte sie dabei nicht. Der Prozess der Verdrängung war nicht aufzuhalten.

      Als dann das Bistum Racisburg 1154 in der neuen Grafschaft Racisburg gegründet wurde, dauerte es nicht lange, bis sich Bischof und Graf gemeinsam nach einer ständigen Einnahmequelle umsahen. Denn das Geld war auch hier knapp. So führten der Graf in den rein slawischen Dörfern