Michael Aulfinger

Möllner Zeiten


Скачать книгу

zu gelangen. Doch nun ließ der Graf auch hier die Besiedelung durchführen.

      Was sollten aber nun die Polaben tun? Die Slawen waren an sich ein fleißiges Volk, welches fest an althergebrachten Traditionen hing. Leidenschaftlich, und weil sie es seit Generationen stets so getan hatten, betrieben sie ihren Ackerbau und die Viehzucht.

      In den Wäldern und auf den Wiesen gab es zu damaliger Zeit noch den Bären, Luchs, Elch, Ur, Wisent und den Hirsch. Das Wildgeflügel, welches reichlich vorkam, wurde mit Pfeil und Bogen, Speer, Schlinge, Fallgrube und der Falle gejagt.

      In den vielen Seen rund um Mulne gab es viele Fischarten zu fangen. Handel wurde zwar auch, aber nur in geringem Maße betrieben. Vielweiberei war den Männern gestattet, doch dieses Recht wurde fast nur von den Vornehmen in den Sippen ausgeübt. Ihre Rechtsprechung bei Streitfällen war demokratisch. Die slawischen Völker kannten keine Stände, und auch keine erbliche Fürstenwürde. Für solche kleinen polabischen Dörfer wie am Mulne war die Sippengemeinschaft das wichtigste, und der Starosta war nur der Verwalter des Gesamtvermögens der Sippe. Aber wenn die Besiedelung so weiterging, würde von dem kleinen slawischem Dorf, am trüben Wasser gelegen, in naher Zukunft nicht mehr viel übrig bleiben.

      Postwoi und Mistiwoi stand schweigend zwischen ihren Hütten und sahen zerknirscht auf die Mulne. All dies war in großer Gefahr. Sie wussten es nur zu genau.

      Ihr Weg führte sie geradewegs nach Osten. Prabislav kannte den Weg, und Taomir folgte ihm wie gewohnt. Er hatte hier schon oft mit seinem Bruder, oder seinen wenigen Freunden, spielend verweilt. Hier konnte er seine Phantasien ausleben. Über die wildwachsenden Wiesen liefen sie zum Crusekenberg hinauf. Von dort hatten sie eine hervorragende Sicht auf den tief im Tal gelegenen Werder. Ihnen bot sich ein imposantes Bild.

      Der gesamte Werder war eigentlich bis vor einigen Jahrzehnten unbewohnt gewesen. Nur im Süden hatte er einst Landzugang gehabt. Im Osten war ein an einigen Stellen verschieden breiter Graben gelegen. Dieser Graben war nicht tief, und demnach nicht allzu schwer zu durchschreiten. Prabislav hatte es schon früher beim Herumtollen oft probiert. Der Werder hatte eine Länge von einem Kilometer und eine Breite von 500 Metern. Auf dem Werder hatten sich bisher Sträucher, Bäume und Wiesen befunden.

      Aber jetzt sollte sich das ihm gewohnte Bild drastisch ändern. Es hatte schon vor einigen Jahrzehnten begonnen. Seitdem waren die mit Salz beladenen Karren vom südlichen Luniburc her über die an der Elbe gelegene Stadt Louwenburg kommend auf den Werder gelangt. Die günstige Lage nutzten sie zur Pause, um nach Lubecke weiterzureisen. Im Laufe der letzten Jahre hatte sich Mulne als Rastplatz einen Namen gemacht. Die vorbeiziehenden Händler und Kaufleute hatten selbst dafür gesorgt, dass am nördlichsten Punkt des Werders eine zweiundsechzig Meter lange Holzbrücke gebaut worden war. Diese verkürzte und erleichterte die Reise enorm.

      Aber diesmal waren es keine Händler und Kaufleute, die vorbei zogen und wieder verschwanden. Diesmal waren es Siedler, die für immer bleiben wollten. Von der Landzunge her waren die von Ochsen gezogenen Karren auf den Werder gelangt. Sie standen verstreut auf den Wiesen herum. Sogleich hatten sich die Männer nach ihrer Ankunft an die Arbeit gemacht. Es waren über hundert, die sogleich anfingen den Eichberg abzuholzen. Von den Stämmen wurden die ersten behelfsmäßigen Hütten auf den Wiesen gebaut. So hatten die Siedler erst einmal eine Unterkunft für die Nacht und die kommende kalte Jahreszeit.

      Als das geschehen war, ging die Rodung des Eichberges weiter. Die Baumstümpfe wurden mit Ketten und Seilen umschlungen, sodass sie mit vereinter Ochsenkraft aus dem Erdreich gezogen werden konnten.

      An anderen Stellen, wo kein Baumbewuchs vorherrschte, wurde durch kontrollierte Brandrodung die Vegetation beseitigt.

      Nach wenigen Wochen sah der Eichberg wie ein kahlgeschorener Kopf aus. Prabislav sah von seinem Platz fasziniert zu. Er kannte dies nicht. Deshalb war er täglich auf den Crusekenberg gekommen, um seine Neugierde zu befriedigen. Sein Bruder dagegen hatte nach nur wenigen Tagen das Interesse an den neuen Nachbarn verloren, und war im Dorf geblieben.

      Prabislav verfolgte von seinem Platz aus, wie auf der Spitze des Eichbergs eine rechteckige Fläche begradigt wurde. Was darauf entstehen sollte, verstand Prabislav zu der Zeit noch nicht. Danach machten die Arbeiter sich daran, Straßen um den Berg herum anzulegen. Dabei gingen sie nach Plan vor. Die Fläche auf der Spitze nahmen sie als Ausgangspunkt. Da sie sich an die örtlichen Gegebenheiten halten mussten, konnte keine gänzlich kreisrunde Straße um den Mittelpunkt entstehen.

      Nachdem die Straßen in groben Zügen angelegt waren, konnten die Männer daran gehen, die Häuser zu bauen. Langsam nahm dieses, in Prabislavs Augen, große Dorf Gestalt an.

      Wie Prabislav sah, riss der Zustrom an Siedlern nicht ab. Fast täglich kamen neue Familien hinzu. Es schien beinahe so, als ob der Bau dieser Stadt geplant gewesen sei, denn es waren alle benötigten Berufe anwesend. Niemand war unnütz. Jeder wusste seine Aufgabe aufs beste auszuführen – Tischler, Steinmetze, Maurer, Zimmerleute, Bäcker, Schmiede. Er sah, wie im Norden des Werders eine neue Holzbrücke an der schmalsten Stelle zum Festland errichtet wurde. Dieser Holzbrückenbau ging in Prabislavs Augen sehr zügig voran. Für ihn war es ein Wunder.

      Bald wurden von Norden her Waren und Materialien zum Bau der Stadt herangeführt. Ihm entgingen auch nicht die auf dem See heranfahrenden Boote, welche Materialien für die Häuser heranbrachten. Einige waren mit Steinen beladen und lagen äußerst tief im Wasser.

      Häuser aus Stein kannte Prabislav nicht. Er sah deshalb täglich ungläubig zu, wie sie wuchsen. An irgend einem Tag konnte er sich nicht mehr zurückhalten. Es trieb ihn einfach dichter heran, um es mit eigenen Augen aus der Nähe zu sehen. Er verließ seinen sicheren Beobachtungsposten und stieg den steilen Crusekenberg an der östlichen Seite hinab. An einer schmalen Stelle überwand er den Graben und versteckte sich danach hinter den Büschen der Wiese. Schließlich wartete er ab, ob ihn jemand gesehen hatte. Vor ihm grasten die mitgebrachten Tiere der Siedler frei. Dahinter sah er um den Berg herum die Häuser entstehen. Er entschloss sich noch dichter heranzugehen.

      Dabei lief er durch die grasenden Schafe hindurch, seinen Blick stets nach vorne auf die unbekannten Häuser gerichtet. Dadurch gebannt, vergaß er alles um sich herum.

      Plötzlich wurde Prabislav von hinten gestoßen, sodass er nach vorne strauchelte und fiel. Er landete auf dem Bauch, die Arme von sich gestreckt mit dem Gesicht im Gras, sodass er nicht sehen konnte, wer der Angreifer war. Aber umdrehen konnte er sich auch nicht mehr, denn sogleich hatten sich zwei Gestalten auf seinen Rücken geworfen und seine Arme auf diesem so verschränkt und festgehalten, dass er sich nicht mehr bewegen konnte.

      Prabislav hörte Stimmen und laute Rufe in einer Sprache, die er nicht verstand. Dann kamen die Stimmen immer näher, während Ameisen aus dem Gras versuchten auf sein Gesicht zu krabbeln. Er vermochte nur zu pusten und den Kopf zu schütteln, so gut es eben ging.

      Endlich löste sich der schmerzhafte Griff, und er konnte sich umdrehen und aufrichten. Schnell massierte er seine Arme, während er sich umsah.

      Viele Menschen waren herbeigelaufen und gafften ihn an. So viele wie hier zusammen­standen, hatte er noch nie in seinem Leben auf einem Fleck gesehen. Es waren weit mehr, als in seinem Polabendorf lebten. Die Leute redeten alle durcheinander, aber er verstand kein Wort. Die Sprache klang so fremd und härter als die slawische. Verdutzt sah er sie an. Obwohl er sie nicht verstand, wusste er doch, dass sie ihn nicht gerade höflich begrüßten.

      Ein Mann trat vor und ergriff das Wort. Alle verstummten und lauschten den Worten, die er an Prabislav in der fremden Sprache richtete. Prabislav verstand noch immer kein Wort. Also antwortete er dem Mann in seiner Sprache, dass er nicht wisse warum er hier festgehalten werde, und was die Menschen von ihm wollten.

      Der Mann machte ein verstehendes Zeichen und winkte einen anderen älteren Mann zu sich. Sie sprachen ein paar Worte, worauf der Hinzugewinkte sich zu Prabislav bückte und ihn vorwurfsvoll in polabisch ansprach.

      „Was tust du hier, und wer bist du?“

      „Ich bin Prabislav, und will mir nur ansehen, wie ihr die steinernen Hütten baut.“

      Der