Michael Aulfinger

Möllner Zeiten


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Du wurdest dabei gesehen, wie du unser Vieh stehlen wolltest.“

      Als Prabislav das vernahm, fühlte er plötzlich einen dicken Kloß im Hals. Er wäre nie auf die Idee gekommen, für einen Viehdieb gehalten zu werden. Was die Siedler gewöhnlich mit Viehdieben taten, sagten sie ihm gleich.

      „Ich wollte kein Vieh stehlen.“

      „Du lügst. Wir haben genau gesehen, wie du dich wie ein Dieb angeschlichen hast. Bei uns herrscht die Sitte, Viehdiebe am nächsten Baum aufzuknüpfen. Wegen deiner jungen Jahre werden wir nicht von unserer Tradition abweichen. Also steh auf, da hinten ist ein großer Baum mit einem kräftigen Ast. Der wird für dich ausreichen. Ein Seil wird schon geholt.“

      Der Mann erhob sich und gab in seiner Sprache Anweisungen. Prabislav verstand die Welt nicht mehr. Was hatten diese fremden Menschen nur für Sitten? Er verstand nicht, dass sein junges Leben nun schon beendet sein sollte. Sein Vater würde sicherlich traurig und enttäuscht von ihm sein. Deshalb brachen bei ihm alle Dämme, und er zog den alten Mann mit feuchten Augen am Gewand.

      „Ich schwöre beim obersten Gott Radegast, dass ich nicht beabsichtigte, Vieh zu stehlen. Hat jemand gesehen, wie ich auch nur ein Tier angefasst habe? Nein, denn ich wollte euch nur beim Bau der steinernen Hütten zusehen. Das war alles. Deshalb bin ich nähergekommen.“

      Der alte Mann horchte auf, da er sich mit den slawischen Sitten auskannte.

      Wenn ein Slawe schwor, dann war dies schon etwas Besonderes und Außergewöhnliches, und ehrlich gemeint. Denn für die Polaben, und auch für die anderen slawischen Völker, hieß schwören gleichzeitig sich verschwören gegen den rächenden Zorn der Götter. Wenn er dies tat, so musste dem Jungen also zu glauben sein. Aber sie glaubten ihm noch nicht gänzlich.

      „Warum hast du dich denn angeschlichen wie ein Dieb? Wer sich so anschleicht wie du hat Böses im Sinn. So ist es nun mal. Warum bist du nicht wie ein ehrlicher junger Mann aufrecht durch unsere Straßen gegangen? Niemand hätte dich verjagt, oder dir Unrecht zugefügt.“

      „Weil ich euch nicht kannte, und eure Sitten. Ich hatte Angst davor, von euch verjagt oder getötet zu werden. Ich wollte euch nur zusehen, wie ihr die steinernen Häuser baut.“

      „Hm.“ Der alte Mann war verunsichert und strich seinen grauen Bart. Er wandte sich zu den anderen Männern um, und besprach sich mit ihnen in der fremden Sprache. Bald drehte er sich wieder um.

      „Verschwinde. Aber sei gewarnt. Dein junges Alter hat dich zwar diesmal vor dem Strick gerettet. Aber wenn wir dich noch einmal bei unserem Vieh sehen, wirst du augenblicklich aufgehängt. Der Baum dahinten ist immer für dich da, und wird nicht gefällt. Jetzt hau ab.“

      „Danke.“ Mehr sagte Prabislav nicht dazu und lief den gleichen Weg, den er gekommen war, so schnell zurück, als ob ihn eine Horde Feinde verfolgen würde. Er hatte einfach nur Angst und war überglücklich, den fremden Männern entkommen zu sein.

      Eine ganze Woche lange traute sich Prabislav nicht mehr zum Werder. Seinem Vater hatte er nichts von dem Zwischenfall erzählt. Peinlichkeit war der Grund dafür gewesen.

      Doch dann obsiegte seine Neugier. Aber diesmal schlich er sich nicht wie ein Viehdieb heran, sondern ging aufrechten Ganges mit erhobenem Haupt auf dem Weg über den schmalen Zugang zum Werder. Schon von weitem erkannte er, dass die Häuser immer mehr Gestalt annahmen. Haus für Haus entstand, eins nach dem anderen. Dies war möglich, weil jeder jedem half. Zuerst wurde ein hölzernes Gerüst auf der ebenen Erde gebaut. Dann wurden die Zwischenräume mit Steinen und Mörtel aufgefüllt. Als er auf der staubigen Straße zwischen den ersten Häuser ging, waren die Mauern bis in Höhe seines Kopfes errichtet. Prabislav kam aus dem Staunen nicht heraus. Mit offenem Mund ging er durch die Straßen.

      Es wurde ihm zuerst gar nicht bewusst, dass sich niemand über seine Anwesenheit aufregte. Deshalb wurde sein Schritt immer sicherer, und das anfänglich unsichere Gefühl in der Magengegend verschwand alsbald. So stolzierte er durch die Straßen der für ihn ungewohnten im Bau befindlichen Stadt. Seine Augen saugten förmlich die wachsenden Gebäude auf.

      Als er am nördlichsten Punkt des Werders angelangt war, sah er, wie fünfzehn Männer weiterhin damit beschäftigt waren, eine neue hölzerne Brücke bis ans nördlich gehende Ufer zu errichten. Stück für Stück versenkten sie angespitzte Pfähle in den Grund des Sees, um auf deren Enden Bretter und Balken quer zu befestigen. Auf beiden Seiten sollten hölzerne Geländer der drei Meter breiten Brücke folgen. Sie war so stabil gebaut, dass sie die mit Salz und anderen Gütern schwerbeladenen Fuhrwerke sicher tragen konnte.

      Aufmerksam verfolgte Prabislav die Arbeitsweise der geschickten Handwerker. Sein Blick war deshalb so von der Tätigkeit gefangen, dass er nicht bemerkte, wie sich ihm von hinten jemand näherte. Eine breite knöcherige Hand legte sich plötzlich auf seine noch nicht gänzlich ausgebildete Schulter. Prabislav zuckte zusammen.

      Dann drehte er sich um und sah in gütig dreinschauende Augen, die er sofort erkannte. Die Augen gehörten zu dem Mann, der mit ihm polabisch auf der Wiese gesprochen hatte.

      „Es überrascht mich nicht, dich hier zu sehen. Obwohl ich dich eigentlich schon früher erwartet habe. Dir ist wohl der Schreck gehörig in die Glieder gefahren, oder war gar deine Hose gefüllt? Ha, ha. Na ja, jedenfalls hast du dich diesmal nicht wie ein gewöhnlicher Viehdieb herangeschlichen.“

      Das Lachen überzog das Gesicht des alten Mannes, während Prabislav sofort errötete, als er an diese Peinlichkeit erinnert wurde.

      „Ich wollte kein Vieh stehlen.“ Prabislav betonte noch einmal seine Unschuld.

      „Ist schon gut, mein Junge. Wir hatten nicht vorgehabt, dich aufzuhängen. Wir wollten dir nur einen gehörigen Schrecken und eine Warnung verabreichen, damit du oder sonst jemand von deinen Leuten niemals auf den Gedanken kommt, sich an unserem Eigentum zu vergreifen.“

      „Das war nicht nötig“, regte Prabislav sich auf. „Unser Volk ist kein räuberisches. Wir sind ein friedlich bäuerliches.“

      „Da ist mir aber schon anderes zu Ohren gekommen. Die Slawen sind dafür bekannt, die westlichen Dörfer hinter dem Limes Saxoniae zu überfallen. Hamburg haben sie zweimal zerstört. Das und andere Überfälle waren ja auch die Gründe für die Entstehung des Limes. Aber das ist lange her, also reden wir nicht mehr darüber.“

      „Nein alter Mann, das kann ich so nicht stehen lassen. Das ist nämlich gar nicht wahr. Wenn hier jemand klaut, dann ihr, und zwar unser slawisches Land, auf dem wir seit unendlichen Generationen leben.“

      Der alte Mann sah diesem Gefühlsausbruch des jungen Polaben gelassen entgegen.

      „Du brauchst dich nicht aufzuregen. Wir haben nicht vor, irgend jemandem hier Land wegzunehmen. Es ist genug Land für euch Slawen und uns da. Das Land auf dem wir jetzt stehen, wurde uns einst vom Grafen Heinrich von Racisburg versprochen, als seine Werber in unsere ehemalige Heimat kamen. Sein Enkel Bernhard III. von Racisburg hat uns selber unter Führung eines von ihm eingesetzten Lokators hierher geführt, und uns dieses Land, auf dem wir jetzt stehen, zugewiesen. Es ist also alles rechtens.“

      „Nichts ist rechtens. Ihr gehört hier nicht hin und sollt gehen. Es ist unser slawisches Land.“

      Der aufkommende Zorn ließ bei Prabislav jegliches Verständnis vermissen. Mit seinem jugendlichen Hitzkopf verurteilte er alle Siedler pauschal als Landräuber. Es erschien dem alten Mann sinnlos, Prabislav die Umstände der Besiedelung des Werders vernünftig zu erklären. Deshalb ließ der alte Mann Prabislav ohne ein weiteres Wort gehen. Dieser ging auf dem kürzesten Weg in sein slawisches Dorf zurück. Zorn verspürte er plötzlich auf alle Siedler. Sie hatten hier nichts zu suchen, und sollten wieder dorthin zurückkehren, wo sie hergekommen waren, wo immer diese Land auch sein mochte.

      Als er sein Dorf erreichte, sollte sich sein Zorn noch steigern.

      Alle Männer des Dorfes standen im Inneren des Rundlings herum und redeten aufgebracht durcheinander. Das war nicht gewöhnlich, denn bei den Polaben war der Starosta der Wortführer bei Versammlungen. An diesem Tag war diese Regel wohl außer Kraft gesetzt