Heike Heth

Vollbremsung


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Mal registrierte seine Nase eine Vielzahl an Gerüchen. Zuverlässig begann sie nun mit der Arbeit, gliederte die unterschiedlichen Duftnoten auf und transportierte sie ins Gehirn zur Analyse. Er vermutete, eine Art Putzmittel zu riechen; was sonst roch nach Essig, vermischt mit Zitrone? Daneben bemerkte er, wenn er sich nicht täuschte, einen Hauch Urin, überdeckt mit einem Geruch, den er kannte, der ihm aber nicht einfiel.

      Sein Geruchsgedächtnis ließ ihn kläglich im Stich, was ihn nicht wunderte, da er normalerweise nicht auf Gerüche achtete.

       »Normalerweise ... tja, normalerweise ...«.

      Einem Singsang gleich wiederholten sich die Worte mehrmals. Zum Teufel mit diesem Phänomen! Was rief es hervor? Er analysierte viel zu präzise, um im Delirium zu liegen. Wieso aber hörte er Stimmen?

       »Eine Stimme, du hörst nur eine Stimme!«

      Er beschloss, den Vorfall zu ignorieren und konzentrierte sich erneut auf die realen Wahrnehmungen in der Außenwelt.

      Zurück zu den Gerüchen. Irgendwo hatte er diese Mischung schon mal gerochen? Aber wo? Seine ausgeprägten analytischen Fähigkeiten versagten, und ihm gelang nicht, die Geruchsmelange zu identifizieren.

      Dafür meldete ihm sein Gehör, dass es ein sachtes Rascheln vernahm. Sein Gehirn brachte es sofort mit Stoff in Verbindung, woraufhin es die Schlussfolgerung zog, dass es sich hier um Kleidung handelte, die durch Fortbewegung aneinander rieb. Ein gleichzeitig zu hörendes dumpfes, von knappen Pausen unterbrochenes Tapp, Tapp wurde blitzschnell als Schritte erkannt. Das zarte Klimpern von aneinanderstoßenden dünnen Metallteilen fand keinen Abgleich, dennoch ließen alle Geräusche zusammen nur ein Fazit zu: Jemand hielt sich bei ihm im Zimmer auf!

      Diese Erkenntnis stellte unerwartet die Verbindung zu seinem Erinnerungsvermögen her, wie ein loser Draht, der zufällig wieder mit der Schaltfläche in Kontakt kam.

      Bilder von Überwachungsgeräten, Kranke, die in Betten lagen, Urinbeutel, die daran hingen, Medizinschälchen, die auf den Nachttischen danebenstanden, rasten in Sekundenschnelle durch seinen Kopf. Er sah Putzfrauen, die hektisch, getrieben von Zeitnot, die Fußböden schrubbten, Schwestern, die gestresst im Zimmer hin- und herliefen, um die Visite vorzubereiten, Menschen, die hilflos neben dem Krankenlager von Angehörigen saßen, nicht wissend, was sie sagen sollten. Eindrücke, die unbewusst hängen geblieben waren, aus der Zeit, in der er seine Mutter in der Klinik besuchte, bevor sie ihrem Krebsleiden erlag.

      Nun fiel ihm ein, woher er den Geruch kannte, was die Geräusche verursachte und warum jemand im Zimmer herumhantierte. Wenn Michael alle Faktoren kombinierte, blieb eine logische Erklärung: Er lag in einem Krankenhaus! Ohne dass sein Körper die Bewegung tatsächlich ausführte, zuckte er bei diesem Gedanken zusammen.

      Er hasste diesen Ort, an dem Krankheit, Schwäche, Alter, Leid und Tod regierten! Mit Stolz, obwohl es nicht ausschließlich sein Verdienst, sondern eher eine glückliche Veranlagung war, prahlte er vor anderen gerne mit seiner unverwüstlichen Gesundheit. Er dachte mit Schrecken an das überfüllte Mehrbettzimmer, in dem seine Mutter monatelang ohne jegliche Privatsphäre lag und langsam dahinsiechte. Zum Glück verfügte er aufgrund seiner ausgezeichneten finanziellen Lage über eine private Krankenversicherung. Sie ermöglichte ihm ein Einzelzimmer, eine exzellente medizinische Versorgung inklusive Chefarztbehandlung.

      Endlich war er einen Schritt weiter! Jetzt galt es herauszufinden, warum er in einer Klinik lag. Mal angenommen, er hätte einen Schlaganfall oder Herzinfarkt erlitten, dann wäre er durchaus eine Weile nicht bei Bewusstsein gewesen. Da er die Fähigkeit, Fakten präzise zusammenzutragen und auszuwerten, wiedererlangt hatte, schloss er eine Gehirnschädigung definitiv aus. Blieb die Bewegungslosigkeit, die vielleicht lediglich eine kurzfristige Ausfallerscheinung darstellte.

      Mitten in diese Gedanken hinein blitzte unerwartet, für den Bruchteil einer Sekunde, eine Szene in seinen Kopf auf. Pfeilschnell wie eine Sternschnuppe, die vom Himmel fiel, flog sie vorbei. Sie hinterließ bei Michael die Überzeugung, dass er heute Morgen aufgestanden und weder einen Gehirn- noch einen Herzinfarkt erlitten hatte.

      Die gleiche Erregung, die ihn überkam, wenn er in Begriff war, einen lukrativen Auftrag an Land zu ziehen, ergriff ihn. Er ermahnte sich, ruhig zu bleiben, um das, was am Rande seines Bewusstseins lauerte, nicht zu verscheuchen. Solange er vorsichtig vorging, gelang es ihm möglicherweise, an die verschütteten Informationen in seinem Gehirn heranzukommen. Er wartete auf eine weitere Erinnerungsschnuppe, und es wurmte ihn gewaltig, dass nichts geschah. Also grübelte er über andere mögliche Einlieferungsgründe nach. Könnte ein heftiger Schlag auf den Hinterkopf ein Schädeltrauma sowie Halluzinationen bis hin zu unerklärlichen akustischen Phänomenen ausgelöst haben?

       »Aber es bietet keine Erklärung dafür, warum du die Augen nicht öffnen, dich nicht bewegen und nicht selbstständig atmen kannst?«

      Verdammt, das waren nicht mehr nur zusammenhanglose Wörter. Wollte diese Stimme etwa ernsthaft mit ihm diskutieren? Es war aussichtslos, diesen Satz als Täuschung abzutun, geschweige denn einfach zu ignorieren.

      »Geh weg, du bist lediglich eine vorübergehende Einbildung«, rief er ihr in seiner Verstörtheit spontan und völlig irrational zu.

       »Warum redest du dann mit mir, du Schlaumeier?«

      Michael, kurz davor, erneut eine Gegenbemerkung abzugeben, stoppte schlagartig. Er wollte sich doch wohl nicht auf ein Gespräch mit einer imaginären Stimme einlassen? Selbstgespräche zu führen war bereits befremdlich, aber jemandem Nichtexistentem zu antworten, zeugte eindeutig von geistiger Verwirrtheit.

      Ok, tief Luft holen und ausatmen. Moment, was hatte die Stimme da gerade gesagt? - Er atme nicht selbständig - Tatsächlich, er spürte weder, dass er ein- , noch dass er ausatmete. Ihm fiel das Rauschen ein, welches er nicht zuordnen konnte und das in ihm ein Bild von Darth Vader heraufbeschwor. Erzeugte eine Beatmungsmaschine ein solches Geräusch? Er versuchte, den Mund zu öffnen und einzuatmen, was nicht gelang. Nervös fing er daraufhin an zu schlucken, zumindest nahm er an, das zu tun, da er keine Schluckbewegungen im Hals fühlte. Panisch wollte er sich dorthin greifen, um herausfinden, ob sich dort Schläuche befanden. Er erinnerte sich, dass frühere Versuche, sich zu rühren, gescheitert waren. Vielleicht war er auch nur nicht in der Lage zu spüren, ob die Hand dem Befehl folgte. In seiner Vorstellung probierte er es immer wieder, befahl nach und nach jedem seiner Gliedmaßen, gehetzt, wie jemand, der einen Knopf nach dem anderen drückt, um verzweifelt ein Gerät in Gang zu setzten, sich zu bewegen. Zuletzt konzentrierte er sich auf das Gesicht, bemühte sich erfolglos, die Augen zu öffnen und spürte dabei nicht den Hauch einer Veränderung in der Mimik, die man doch normalerweise fühlte, wenn sich die Gesichtszüge vor Anstrengung verzogen.

      »Genau das ist der springende Punkt: - nor - ma - ler - weise«, stichelte es aus dem Hintergrund.

      Verflucht, was soll das!, dachte Michael wütend. Warum plagte ihn diese Begleiterscheinung ständig? Wo kam diese blöde Stimme her? Er wünschte, sie würde verschwinden. Er hatte bereits genug Probleme und wollte sich nicht mit solchem Unsinn abgeben. Ich werde sie einfach ignorieren.

      Er bemühte sich erneut, eine Bewegung zustande zu bringen. Vergeblich, kein einziger Muskel in seinem Körper rührte sich! Erschöpft, frustriert und zutiefst besorgt hielt er inne. Noch einmal listete er die vorhandenen Fakten der Reihe nach auf. Es half ihm, die aufkommende Beklemmung, die ihn ihm aufstieg, zu unterdrücken und die Kontrolle über seine Emotionen zu behalten. Ein Schlag auf den Kopf führte in der Regel nicht zu einem Versagen der Atmung, es sei denn, er hätte ein schweres Schädeltrauma erlitten, wogegen wiederum sein klares Bewusstsein sprach. Was aber hinderte ihn daran, sich zu bewegen? Ob er sich bei einem Autounfall alle Knochen gebrochen hatte und er von oben bis unten eingegipst war? Dann müsste er sein Gesicht verziehen können, was nicht der Fall war. Vielleicht doch ein Gehirnschlag, danach hatte man häufig Lähmungserscheinungen, auch im Gesicht. War am Ende sein Körper komplett gelähmt? Ihm wurde flau im Magen, so, als hätte er einen Tritt in die Magengrube erhalten, Übelkeit kroch in ihm auf, und er glaubte, keine Luft mehr zu bekommen, was natürlich unmöglich war, falls er beatmet wurde.

      Er