Heike Heth

Vollbremsung


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nur, dass er mit großer Wahrscheinlichkeit in einem Krankenhaus lag. Wie sollte er auch herausfinden, was los war, wenn er die Augen nicht öffnen und endlich aufstehen konnte. Erneut stieg Panik auf. Vermutungen, er hatte nichts als Vermutungen, die er aufgrund seiner funktionierenden Sinne anstellte. Aber das war alles, was ihm zur Verfügung stand und das Einzige, womit er sich beschäftigen konnte.

      Komm, ermutigte er sich, es ist nicht deine Art aufzugeben, konzentrier dich auf das, was möglich ist.

      Er lenkte seine Aufmerksamkeit bewusst auf seine Umgebung. Da waren die inzwischen gewohnten Geräusche und Gerüche. Was gab es sonst noch? In Gedanken glitt er nach und nach seinen Körper herab, diesmal, ohne zu versuchen, die Gliedmaße zu bewegen. Dabei bemerkte er, dass er das Bettlaken und die Bettdecke an seiner Haut fühlte. Komisch. Nahm man bei einer Lähmung den Kontakt mit Gegenständen wahr? Soweit er wusste, war man in einem solchen Fall völlig gefühllos, sogar Nadelstiche spürte man dann nicht.

       »Ganz und gar der analytisch strukturiert vorgehende Unternehmensberater«.

      Die schon wieder! Wie konnte eine Einbildung nur so zynisch klingen.

       »Glaubst du das immer noch?«

      Sein Kopf fing plötzlich an zu schmerzen, so dass ihm das Denken schwerfiel. Bilder begannen darin herumzuwirbeln und verschmolzen zu einem einzigen formlosen Farbenbrei. Verzweifelt versuchte er, etwas zu erkennen. Ein Gebilde trat daraus schemenhaft hervor, so wie sich ein Gegenstand aus dem Nebel schält, wenn man sich ihm näherte. Doch bevor er sah, was es war, zerfloss die Erscheinung und entzog sich so seinem gierigen Blick. Gequält und frustriert, gab er die Jagd danach auf. In diesem Moment tauchten unerwartet neue Bruchstücke auf!

      Blitzartig schossen unzählige, zunächst verschommene Bilder durch seinen Kopf. Nach und nach entwickelten einige, wie bei einer Polaroid-Fotografie, zunehmend klarere Konturen, bis er die Szenen deutlich erkannte: --- Ein Mann verlässt das Haus - er sitzt vor einem Computer und schreibt - er steht an der Küchentheke mit einer Kaffeetasse in der Hand - er sitzt im Auto und prescht über die Autobahn - eine Frau im Morgenmantel - rote Rücklichter, die aus dem Nichts auftauchen - eine Tür, die lautstark zuschlägt ---. Auf einmal wusste er, dass er dieser Mann war. Ihm fiel ein, dass er sich auf dem Weg nach Berlin befand, um die Auszeichnung zum »Unternehmer des Jahres« entgegen zu nehmen!

      Aufregung und Freude durchfluteten ihn. Endlich, seine Erinnerung kam zurück! Weitere Bilder stürzten auf ihn ein, fügten sich, einem unbewussten Drehbuch folgenden, in eine Chronologie und liefen einem Film gleich, in Zeitlupe, vor ihm ab:

       Er steigt ins Auto, startet den Motor durch und rast los, kurz danach steht er genervt im Stau. Nach einer gefühlten Ewigkeit löst er sich langsam auf. Er gibt Gas, will die verlorene Zeit wettmachen. Ungeduldig wechselt er zwischen den Spuren hin und her. Er nimmt Geschwindigkeit auf, nachdem der linke Fahrbahnstreifen endlich frei ist. Das Display seines Handys blinkt, und er wirft einen kurzen Blick darauf. Zu spät sieht er die Bremslichter vor ihm aufleuchten. Der gesamte Verkehr kommt innerhalb weniger Sekunden abrupt zum Halten. Mit versteinerter Miene kracht er, ohne die geringste Chance auszuweichen, trotz sofortiger Vollbremsung auf das Auto vor ihm. Verzweifelt schaut er auf den Tachometer, dessen Nadel 120 Stundenkilometer anzeigt, wo sie im Moment des Aufpralls stehen bleibt.

      2.

      Michael fiel danach in eine Art Schockzustand. Sein Geist gab erschöpft auf und glitt in eine erlösende Dunkelheit hinab. Neben Phasen tiefer Bewusstlosigkeit dämmerte er halbwach vor sich hin. In diesem Zustand nahm er eine Vielzahl von Sinneseindrücken auf. Er hörte Gesprächsfetzen, den Klang einer vertrauten Stimme, die seinen Namen rief, Personen, die im Zimmer hin- und herliefen. Er meinte zu spüren, dass jemand am Bett herumhantierte und seine Hand streichelte. Hin und wieder roch er einen süßlichen Duft, den er von irgendwoher kannte. Dazu kam ein unablässiges Piepen, Fiepen und Brummen, störend wie Baustellengeräusche, die von der Straße hereindrangen, während man versuchte, noch ein paar Minuten länger zu schlafen. Er irrte durch eine Dämmerwelt, die ihn auf unbestimmte Zeit gefangen hielt.

      Die Berührung kam völlig unerwartet. Er spürte ohne Zweifel eine kühle Hand auf seiner Stirn. Mühsam kroch er aus der Dunkelheit heraus. Es fühlte sich an, als gäbe es zwei Welten, getrennt von einer unsichtbaren Glaswand, die es zu durchbrechen galt.

      »Herr Hallstatt. Hallo, hören Sie mich? Ich bin Schwester Renee. Bitte geben Sie mir ein Zeichen, falls Sie dazu in der Lage sind.«

      Die direkte Ansprache brachte die Glaswand zum Zersplittern und katapultierte ihn schlagartig in die Gegenwart. Das war definitiv eine reale Person und keine ominöse Stimme in seinem Kopf, die da sprach! Die angenehme, leicht rauchige, jung klingende Stimme gefiel ihm, doch das Gesagte verstimmte ihn.

      Zu gerne hätte er erwidert: »Selbstverständlich höre ich Sie, aber ich rühre mich nicht, weil es mir einfach Spaß bereitet, reglos hier rumzuliegen.«

      Natürlich gäbe er ein Zeichen, wenn er könnte! Für wie blöd hielt die ihn.

       »Na, so ungehalten wie eh und je. Deine Mitarbeiter können ein Lied davon singen.«

      Oh nein, das darf doch nicht wahr sein. Jetzt tauchte die wieder auf. Wie als wolle sie ihm beweisen, dass es einen eindeutigen Unterschied zwischen ihr und der Stimme da draußen gab.

      »Verschwinde, verschwinde, verschwinde!«, schrie er sie lautlos an. »Du existierst nicht, es gibt dich nicht. Lass mich in Ruhe!«

       »Na ja, Freundlichkeit ist auch nicht eine deiner Stärken«.

      Woher wusste sie das alles über ihn? Sie war eine Halluzination, oder? Aber es war definitiv mehr als ein Rauschen im Hintergrund, das war schon eher ein gut eingestellter Radiosender. Am besten fand er sich vorerst einfach damit ab, dass sie vorhanden war, ohne groß darüber nachzugrübeln.

      Es behagte Michael überhaupt nicht, einen Tatbestand zu akzeptieren, für den es keine vernünftige Erklärung gab. Er fand jegliche Art von Kontrollverlust unerträglich. Hirngespinste existierten in seinem Leben genauso wenig wie ungeplante Ereignisse, Spontaneität oder sonstige unüberlegte Handlungen. Er war ein Perfektionist, der nichts dem Zufall überließ und kein Verständnis für vernunftwidrigen Firlefanz besaß.

      Er wartete darauf, dass die Schwester erneut zu ihm sprach. Immerhin war sie die Bestätigung, dass er in einem Krankenhaus lag. Nun hoffte er, etwas über seinen Zustand zu erfahren. Doch warum sollte sie mit ihm reden, wenn er nicht reagierte und sie annehmen musste, dass er nichts hörte?

      Er drehte sich im Kreis. All seine Wahrnehmungen, Schlussfolgerungen und bisherigen Erinnerungen lieferten keine konkrete Erklärung für seine Bewegungslosigkeit. Es blieb ihm nur übrig, sich zu gedulden und abzuwarten, dass jemand mit ihm sprach.

       »Auch nicht unbedingt dein Ding, dich in Geduld zu üben!«

      Er beachtete die Bemerkung nicht. Entgegen dem zuvor gefassten Vorsatz zermarterte er sich weiterhin das Gehirn. Am Ende überlegte er noch, ob er im Koma liegen könnte, was er jedoch aufgrund seines klaren Bewusstseinszustandes gleich wieder ausschloss. Danach gab er sich ausgelaugt der aufkommenden Müdigkeit hin und sank in einen unruhigen Schlaf.

       »Na, wenn du dich da mal nicht täuschst.«

      Dann begannen die Träume.

       Ein junger Mann steht vor dem Spiegel und studiert verschieden Mimiken, Gesten und Körperhaltungen ein. Erschrocken zuckt er zusammen, als eine ältere Frau das Zimmer betritt.

       »Versuchst du schon wieder, dieses affektierte Gehabe deiner Mitschüler nachzuäffen?«

       »Du hast doch keinen blassen Schimmer«, schreit der Junge sofort los. »Du wirst nicht jeden Tag gehänselt, nur weil jedes Wort, jede Geste von dir verrät, dass du nicht dazu gehörst, egal, wie schlau und geistig überlegen du bist!«

       Der gleiche junge Mann schreitet durch eine