Jan Carroll

Der bittere Kuss meiner Mutter


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zu heizen, denn das wäre eine Sünde gewesen. Wir mussten durch spartanisches Leben unsere Seelen retten; die verlorene Seele eines fünf Jahre alten Kindes!

      Ich hing an der Hand meiner Mutter, als wir das erste Mal in die Central Railway Station gingen, um das Gleis für meinen Zug in die Walachei zu finden. Die Lokomotive paffte lässig vor sich hin. Die Dampfwolken aus dem Maschinenraum verströmten einen seltsamen Geruch, der meine Nase jucken ließ. Auf dem gleichen Gleis stand eine Gruppe kleiner Mädchen, die unser Kommen beobachteten. Ich war nicht überrascht, denn es passierte immer wieder, dass Leute stehen blieben, um meine Mutter anzustarren. Sie war schön und glamourös. Ich betrachtete die anderen Mütter, die dort versammelt standen. Keine war so schön wie meine. Die Mütter der anderen Mädchen sahen sehr gewöhnlich aus.

      Meine Mutter drückte meine Hand und ich blickte zu ihr auf. Wir tauschten ein verschwörerisches Lächeln aus und warteten abseits der anderen.

      Unser Chauffeur folgte uns mit meinem kleinen Gepäck. Er lud es in den Gepäckwagen und winkte mir zum Abschied kurz zu. Dann nickte er zu meiner Mutter hinüber und ging zurück ins Auto, um dort auf sie zu warten und sie dann nach Hause in Potts Point zu fahren. Dort hatten wir eine Wohnung mit einem wunderschönen Blick auf den Hafen von Sydney, den ich mir gerne stundenlang ansah. Ich beobachtete die vielen kleinen und großen Boote, wie sie kamen und gingen und die Schiffe, die zu den Heads oder zu irgendeinem exotischen Ort an der anderen Seite des Ozeans ausliefen. Dann gab es die Sutherland-Flugboote, welche in Rose Bay starteten und landeten. Das Wasser spritzte heftig auf und für kurze Momente verschwanden sie dahinter.

      Ein diensteifriger kleiner Mann näherte sich entlang der Plattform mit einer schwingenden Fahne in seiner Hand.

      „Achtung“, rief er geschäftig, „alle an Board“, und nochmal mit langgezogener Stimme: „aalllle an Booaard!“

      Die Lokomotive gab ein kreischendes Geräusch von sich, welches die Schar der kleinen Mädchen in Hysterie brachte. In großer Aufregung drängelten sie sich um die Zugtür herum. Meine Mutter beugte sich für einen Abschiedskuss zu mir herunter. Ich roch ihren wunderbaren Duft und fühlte das weiche Fell ihres Kragens an meiner Wange. Dann stieg ich ein und fand einen Fensterplatz, sodass ich ihr noch winken konnte. Sie war ein paar Schritte vom Zug zurückgetreten und stand dort ganz alleine. Ich setzte mich hin und wartete und als der Zug endlich losfuhr, winkten wir uns gegenseitig zum Abschied. Als ich sie nicht mehr sehen konnte, schmiegte ich mich in den großen Sitz hinein und ließ die Stadt an mir vorbeiziehen.

      Es war ein Teil von Sydney, den ich nie zuvor gesehen hatte. Meine Welt war bis dahin offensichtlich sehr klein gewesen. Wir fuhren an einer Vielzahl von hässlichen und trostlosen Gebäuden vorbei. Dann ging es weiter durch die Vororte Sydneys, bevor wir durch das südliche Hochland tuckerten und dann waren wir auf dem Land. Das war ein toller Anblick für Stadtkinder so wie mich; Kilometer von grünen Feldern und Wiesen mit grasenden Kühen, Schafen und Pferden, die sich in der Ferne erstreckten. Ich liebte die Pferde – sehr elegante Geschöpfe! Wenn sie zu nahe an dem Gleis weideten und der Zug vorbei rauschte, wieherten sie und galoppierten mit hochgezogenem Schweif davon. Einfach schön.

      Als wir in Burradoo ankamen, stiegen wir in einen Bus um, der uns durch eine wunderschöne Landschaft fuhr. Wir kamen eine lange Einfahrt hoch, gerahmt von farbenfrohen Blumenbeeten. Am Ende der Einfahrt stand ein riesengroßes Gebäude, das von den Nonnen des Ordens Sacré Coeur geleitet wurde. Es hieß das Convent of the Sacred Heart, das Kloster des Heiligen Herzen, Kerever Park.

      Ein paar Nonnen standen zur Begrüßung auf der großen Veranda. Sie trugen lange schwarze Gewänder und eine Kopfbedeckung, die, mit seltsamen Rüschen und einer weißen Haube bestehend, rund um den Kopf ging. An der Haube war ein langer Schleier befestigt. Die neuen Fünfjährigen waren beeindruckt und standen und starrten, bis wir der Reverend Mother, der Ehrwürdigen Mutter, und Mutter McGee, vorgestellt wurden. Mutter McGee war eine kleine, fröhliche und runde Frau mit einem liebevollen Lächeln − eine Mutternatur. Ich verglich sie mit einer Henne, um die sich ihre Küken scharrten. Dann wurden wir für einen Nachmittagssnack in den Speisesaal gebracht. Wir trafen einige der älteren Mädchen, die uns gleich unter ihre Fittiche nahmen und uns unsere Schlafsäle zeigten. Beim Auspacken lernten wir unsere neuen Schlafsaal-Kameradinnen kennen.

      Ich war im ersten Schlafsaal untergebracht, der direkt neben einer Kapelle lag. Es war ein schöner langer Raum mit großen Fenstern, die uns leider im Winter viel Kälte einbrachten. Von einem großen Erker konnte man über die enormen Kiefern und die endlosen grünen Felder sehen.

      Die Kiefern hatten ausreichend Platz, sich auszubreiten. Ihre unteren Äste wölbten sich bis auf den Boden um den Stamm herum, sodass ein geheimes Versteck für kleine Mädchen entstand, die dort gerne Feen spielten. Der Geruch der Kiefern erinnert mich heute noch an das Klosterinternat Kerever Park.

      Im Schlafsaal standen auf jeder Seite sieben Betten, jedes abgetrennt durch ein Nachttisch-Schränkchen, in dem wir unser Hab und Gut lagerten. Die Bettdecken waren farbenfroh. Unsichtbare Personen hatten schon unsere Koffer an unsere Betten gebracht. Irgendwann wurde mir bewusst, dass das die Schwestern waren; die Frauen des Ordens, die alle körperlichen Arbeiten verrichteten und die wir fast nie sahen. Die Situation kam mir nie komisch vor, bis viele Jahre später, als die Hierarchie geändert wurde und es keinen Unterschied mehr zwischen den Müttern und Schwestern gab.

      Andere Kinder aus anderen Teilen von New South Wales waren bereits eingetroffen – Mädchen vom Land. Etwas eingeschüchtert lernten wir uns gegenseitig kennen.

      Die ersten Tage vergingen ziemlich angenehm, obwohl wir für meinen Geschmack immer zu früh aufstehen mussten – 06:00 Uhr! Ich hatte einen besonderen Groll gegen eine Familie von Elstern, die mich fast jeden Morgen schon sehr früh mit ihrem Gezwitscher aufweckte. Ich stampfte wütend zum Fenster und schimpfte mit dem Groll eines fünf Jahre alten Kindes:

      „Du, du, du — ich werde euch umbringen, euer Piepen zu Ende bringen; ich springe aus diesem Fenster, um dich zu töten, dann wird dir dein lautes Piepen leidtun!"

      Weil mein Schlafsaal im ersten Stock war, wäre ich mit dem Sprung aus dem Fenster nicht gut davon gekommen. Noch heute empfinde ich den Gesang der Elstern sanfter als den anderer Vögel.

      Sobald wir aufgestanden waren, sprachen wir das erste Gebet. Es wurde jedes Mal von einer anderen Nonne geführt und zwar immer von der, die die Aufsicht in unserem Schlafsaal hatte und somit auch bei uns schlief. Danach war Gerangel um die Badezimmer und der Tag des Kicherns und Lachens begann. Zumindest für mich. Viele Jahre später erfuhr ich, dass nicht jedes Mädchen das Leben im Klosterinternat genossen hatte und zu meinem Erstaunen hatten es einige sogar gehasst.

      Als wir angezogen waren, geschniegelt und gebügelt, Betten gemacht und unsere eigenen Bereiche aufgeräumt hatten, marschierten wir zum Gottesdienst in die Kapelle. Nachdem ich mich daran gewöhnt hatte, betrachtete ich den Gottesdienst als eine schöne Zeremonie; die Wortphrasen lernten wir in Latein. Die Zeremonie strahlte so viel Geheimnis und Magie aus, dass sich sogar das jüngste Kind nicht ablenken ließ. Zumindest bis zur Kommunion, als die Nonnen und die älteren Mädchen ihr Abendmahl einnahmen und der Rest von uns zuschauend und glücklich auf den ungemütlichen Sitzen saß. Unsere zarten Knie bekamen endlich eine Pause von den harten Kniebänken, die nach zwölf Jahren beten tiefe Furchen in meinen Knien hinterließen. Damals gab es in unserem Klosterinternat nur polierte Böden und nacktes Holz.

      Nach dem Gottesdienst gingen wir dann, in Reihen und Stille, die prachtvolle Treppe hinunter zum Speisesaal, in dem wir unser Frühstück einnahmen. Wir lernten schnell, dass wir immer aufgereiht und in absoluter Stille von einem Ort zum anderen gehen mussten. Wir durften nur anhalten und weitergehen, wenn das Signal gegeben wurde. Es wurde von zwei Holzstücken gegeben, die die Nonne in ihrer Hand hielt. Die Holzstücke wurden so gehalten, dass ihr Daumen sie trennte und wenn sie ihren Daumen geschickt entfernte, prallten die Holzstücke zusammen und gaben ein lautes Geräusch ab. Klack – stehenbleiben, Klack − weitergehen.

      Während der Essenszeiten und nach Beendigung des Gebetes läutete