Jan Carroll

Der bittere Kuss meiner Mutter


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zu erfassen. Hätten sich die geometrischen Formeln in Musik verwandelt, hätte ich sie wahrscheinlich besser verstanden. Algebra dagegen fand ich hochinteressant, weil es mir als logisch erschien. Ich hatte überhaupt kein Problem mit dem kleinen und großen Einmaleins. Im Endeffekt hatte keine von uns Schwierigkeiten, weil wir die Ergebnisse so oft üben mussten, bis wir sie auswendig ausspucken konnten. In einem besonderen Schuljahr war ich sehr glücklich, weil ich in allen Fächern die Beste war, außer in Religion.

      Einmal konnte ich während der Arithmetik-Stunde mein Lehrbuch nicht finden. Als Bestrafung musste ich im Papiermülleimer stehen. Natürlich sollte das nicht nur eine Lektion für mich, sondern für den Rest der ganzen Klasse sein und ich spürte, wie sich das Unbehagen meiner Klassenkameradinnen in meinen Rücken bohrte, während der Unterricht weiterlief.

      Der Tag war gekommen, an dem wir unsere Bettwäsche wechseln mussten. Als ich meine Bettbezüge abzog, fiel ein Buch auf den Boden. Ich freute mich, mein verlorenes Mathebuch wiedergefunden zu haben und rannte gleich zur Schlafsaal-Schwester, die sich mit mir freute. Am nächsten Tag konnte ich es nicht abwarten die Neuigkeiten meiner Klasse und Mutter Foster vorzutragen. Anstatt sich zu freuen, nahm die Schwester meine Neuigkeit mit kühler Stille auf. Die ganze Klasse verstummte und wartete auf ihre Reaktion.

      „Also liebe Jan, um dir beizubringen auf deine Schulbücher besser aufzupassen – und das gilt für alle – wirst du das Buch um deinen Hals tragen, bis ich dir erlaube, es wieder abzunehmen.“

      Zehn kleine Mädchen schnappten erschreckt nach Luft und unsere fassungslosen Blicke trafen sich. Mit einem gekränkten Lächeln brachte ich der Schwester das Buch. Ihr Gesichtsausdruck war hart und entschlossen. Wir konnten es kaum glauben, was sich vor uns abspielte; mit einer furchterregenden Schere bohrte sie ein Loch durch die Ecke des Buches. Danach durchbohrte sie die Seiten, was ihr viel Mühe bereitete. Ihre Beharrlichkeit wurde belohnt, als die Spitze der Schere zum Vorschein kam, woraufhin sie die Schere grob nach hinten und vorne drehte, um das Loch zu vergrößern. Danach griff sie die andere Ecke des Buches an. Als sie mit beiden Löchern zufrieden war, holte sie einen Knäuel Zwirn aus ihrer riesigen Tasche, zog dieses durch die beiden Löcher, verknotete es und schnitt die langen Enden ab. Sie gab mir Zeichen zu ihr zu kommen, hing das Buch um meinen Hals und drehte mich grob um mit dem Gesicht zur Klasse.

      „Da hast du’s“, sagte sie triumphierend, „ich hoffe, das wird euch allen eine Lehre sein. Du kannst dich setzen, Jan.“

      Zum ersten Mal in meinem Leben war ich mundtot und ging schweigend zurück an meinen Platz. Der Unterricht lief in gedämpfter Stimmung weiter. Ich war immer die Erste im Antwort geben, aber mit dem schweren Buch um meinen Hals war meine Begeisterung verschwunden. Die anderen vermieden meinen Blick, denn sie wussten, dass ich sonst in Tränen ausbrechen würde. Unser gemeinsames Kindergespür sagte uns, dass wir Mutter Foster nicht diese Genugtuung geben sollten und dass ich Zeit brauchte, um mich an die Situation zu gewöhnen. Aber als die Glocke zur Pause läutete, kamen alle meiner kleinen Kameradinnen direkt zu mir, um mich zu bemitleiden.

      „Oh Janny, das tut uns so leid“, sagten sie, während sie mich streichelten und mich mit traurigen Augen ansahen. Einige waren den Tränen nahe und andere waren wütend.

      „Diese blöde alte Kuh. Ich hasse sie, hasse sie.“

      „Nein, nein, ist alles gut so“, sagte ich, um sie aufzumuntern. Es wäre nicht gut gewesen, wenn sie auch in Schwierigkeiten gekommen wären.

      Madie setzte sich neben mich, hielt meine Hand und sah mich mit diesem hässlichen Buch um den Hals die ganze Zeit an.

      „Oh Janny, das ist schrecklich.“

      „So schlimm ist es auch nicht, Madie. Vielleicht sollte ich einen Farbstift anbinden, dann sieht es besser aus.“

      Sie gab mir einen zweifelhaften Blick und ihr Mund zitterte. Ich holte den neuesten und schönsten Malstift aus meinem Mäppchen, band ihn an die Schnur, an der das Buch hing und ging munter hinaus.

      „Seht mal“, rief ich meinen Kameradinnen zu und drehte mich zur Begutachtung im Kreis. Madie lächelte verschmitzt und wir gingen zur nächsten Stunde.

      Ich trug das Buch eine ganze Woche lang, leichtfertig— so dachte ich zumindest. Mir fiel auf, dass die anderen Mädchen sehr bedrückt waren, wenn sie mich mit dem Buch um meinen Hals sahen. Ich wirbelte lachend und unbeschwert herum und anstelle von bemitleidenden Blicken hielten meine kleinen Kameradinnen ihre Nase hoch und lächelten. So war es einfacher für uns alle. Sogar die anderen Nonnen schauten weg, wenn sie mich sahen. Außer meiner Lieblingsnonne, Scotty, Mutter Scott. Ihre Rolle war es, uns für krank zu erklären und Medizin auszugeben. Sie bat mich, sie zu besuchen und drückte mich ganz fest an sich. Ohne Worte schauten wir uns gegenseitig an und während sie mir den Kopf streichelte, sagte sie mit wehleidigem Ton:

      „Mein armes Baby, mein armes Baby.“

      Dabei drückte sich ihr Kreuz tief in meine Wange – war das vielleicht ein Zeichen für irgendwas?

      Die Bestrafung belehrte mich zweierlei. Mit Büchern vorsichtig umzugehen und wie man Menschen zum Lachen bringt. Also hatte es sich gelohnt. Aber ich glaube, die anderen Kinder waren mehr verletzt als ich. So oder so, ich habe viel in diesem Klosterinternat gelernt.

      Kapitel 2

       Stuartholme

      Zwei Jahre, nachdem mein Vater aus dem Krieg zurückgekommen war, trennten sich meine Eltern und mein Vater zog nach Brisbane. Als ich sieben Jahre alt war, folgte meine Mutter ihm nach Brisbane. Ich wurde in die Sacré Coeur-Schule in Brisbane transferiert. Die Schule hieß Stuartholme. Sie sah auf dem Mt Cootha wie ein schönes Schloss aus. Das Gelände war wunderschön und in Spielfelder aufgeteilt. In Stuartholme entdeckte ich meine Liebe für Obst − schönes, üppiges, saftiges, süßes, reifes Obst!

      An heiligen Feiertagen hatten wir frei. Ich erinnere mich an einen besonderen Tag, an dem wir ein Picknick weiter unten am Mt Cootha unternahmen. Die Schotterstraße ging steil hinunter und die meisten Mädchen rannten oder hüpften. Ich ging am Ende mit einer der Nonnen, aber entschied mich plötzlich die anderen Mädchen vorne einzuholen. Da ich viel zu schnell den steilen Hang hinunterrannte, verlor ich die Kontrolle und, um einen Zusammenstoß mit einer Mädchengruppe und einer Nonne zu vermeiden und nicht Hang abwärts hinzufallen, schwang ich meine Arme um einen Telefonmasten, der plötzlich vor mir aus dem Nichts auftauchte. Die Wucht meiner Geschwindigkeit ließ mich hart um den Mast schwingen. Endlich im Stillstand, merkte ich, dass meine Hände, Arme und Beine voll mit Splittern versehen waren. Ich starrte auf meine Hände. Es waren so viele Splitter, dass ich sie nicht zählen konnte. Aua! Aua! Ich sah die Nonne mit ihrem wehenden Schleier auf mich zu rennen, sie kniete sich neben mich und ihr besorgtes Gesicht hielt mich sofort vom Weinen zurück.

      „Oh Jan, du arme Jan, wie konnte das passieren? Sieh dir deine Knie an!“

      Meine Knie? Eine Nonne, die sich um meine Knie sorgte? Ich sah hinunter auf meine mit Splittern übersäten Knie. Die anderen Mädchen drängelten sich um mich herum. Ich hoffte innig, dass mein schrecklicher Anblick der Erste und Letzte für sie sein würde, den sie an diesem Tag erleben mussten und dass mein Zustand jede davon stoppen würde, diesen Hang herunterrennen zu wollen. Als wir zurück waren, brachte man mich direkt auf die Krankenstation, wo die Schwester Stunden damit verbrachte, die vielen Splitter mit einer Pinzette herauszuziehen. Es dauerte noch weitere Tage, um die letzten tiefen Splitter herauszuziehen. Mit den Verbänden an beiden Händen und Knien war ich sehr unbeholfen, aber wie in einer Zauberwelt wurde mein Bett gemacht und eine Schwester war immer bereit, mir mein langes Haar zu kämmen und zu flechten und mir beim Essen zu helfen. Ich verbrachte die Tage mit Danksagungen für die vielen Gefallen, die mir getan wurden. Alle waren sehr freundlich und sagten, dass sie es gerne täten. Lieb und hilfsbereit waren sie gerne und außerdem war es für sie eine Chance, aus der Küche herauszukommen.

      Kurz nach meinem Sturz war die Zeit für unsere Erste Kommunion gekommen, auf die wir zwei Jahre gewartet hatten. Die meisten freuten sich auf diese Zeremonie. Erstens war es eine willkommene Abwechslung von der täglichen Routine und zweitens