Jan Carroll

Der bittere Kuss meiner Mutter


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dass ich erwartet hätte, für mein Benehmen belohnt zu werden. Trotzdem strengte ich mich einmal für eine Woche an, „sehr gut“ zu sein, um dafür zumindest eine Gut-Bewertung zu bekommen. So sehr ich mich auch anstrengte, ich bekam nie eine rosa Schleife oder ein rosa Zierband. Es gab Mädchen, die waren immer “gut“ oder „sehr gut“, aber das hieß doch nicht, dass die anderen schlecht waren! Diejenigen, die regelmäßig mit „ausreichend“ oder „unbefriedigend“ bewertet wurden, waren vielleicht in anderen Bereichen „gut“ oder „sehr gut“! Es war klar, dass wir uns wie Heilige benehmen mussten, um mit „sehr gut“ bewertet zu werden. Von den Heiligen hörten und sahen wir massenweise. Diese Menschen mussten schrecklich depressive Leben geführt haben, denn sie starrten auf den Bildern immer nur in den Himmel. Eine Heilige, von der wir immer und immer wieder zu hören bekamen, war ein junges italienisches Mädchen namens Maria Goretti. Ich erinnere mich gut an ihren Namen, denn es reimt mit Spagetti. Sie war bekannt als ein sehr gutes Mädchen. Sie lebte mit ihren Eltern auf einem Bauernhof in Italien und musste harte Arbeiten verrichten, ohne dafür einen Dank zu erhalten. Deswegen war sie wahrscheinlich „sehr gut“. Dann war die Rede von einem Gehilfen, der ... der was? Wir hatten keinen blassen Schimmer, was der von ihr wollte, außer, dass er regelmäßig Maria um ein Glas Wasser bat. Sie, heilig wie sie war, ging jedes Mal, um ihm das Wasser zu holen und wartete, bis er seinen Durst gelöscht hatte. Aber eines Tages – wir warteten in großer Spannung – passierte etwas. Etwas, das wir nicht verstanden. Alles, was wir wussten, war, dass dieser Gehilfe etwas anderes von Maria Goretti wollte als nur ein Glas Wasser. Aber was? Ein Butterbrot vielleicht? Offensichtlich nicht, denn was immer er wollte, bekam er nicht, denn Maria Goretti, heilig wie sie war, weigerte sich, es ihm zu geben. Also stach er sie siebzehnmal mit einem Messer! Siebzehnmal! Diese grauenhafte Tat wurde uns immer wieder erzählt.

      „Siebzehn Mal!“ Ich betonte es immer wieder. „Meine Güte, wenn ich Maria gewesen wäre, hätte ich ihm eine Lektion fürs Leben erteilt! Der hätte sein blaues Wunder erlebt!“ Seitdem war es klar, dass ich niemals eine Heilige werden könnte.

      Es war wieder Ferienzeit. Zurück ging es nach Central Railway, dem Zugbahnhof, um bei alten Freunden oder Bekannten meine Ferien zu verbringen. Nach den Ferien freute ich mich jedes Mal wieder darauf, zurück ins Klosterinternat zu kommen. Während der langen Zugfahrt nach Bowral plapperten wir ununterbrochen. Im Klosterinternat angekommen, trafen wir die Mädchen vom Land wieder. Wir kreischten vor Aufregung und konnten es nicht abwarten, von unseren Ferienerlebnissen zu erzählen. In diesem Schuljahr wurde mir ein anderer Schlafsaal zugeordnet, den ich mit nur einem anderen Mädchen teilte – was für ein Luxus! Sie war jünger als ich, hatte ein freches Gesicht mit frechen braunen Augen - Brodie. Wir lächelten uns schüchtern zu. Mit der würde ich viel Spaß haben!

      Brodie und ich wurden ein Herz und eine Seele. Sie wurde auch nie als „sehr gut“ bewertet, somit hatten wir das gemeinsam und verstanden uns deswegen sehr gut. Wir hatten es gelernt, uns so vor anderen auszuziehen, dass keine etwas sah. Ein umgehängter großer Bademantel versteckte alles, was darunter passierte. Langsam zogen wir unsere Kleidung Stück für Stück unter dem Mantel aus, bis wir nackt waren. Dann wurde vorsichtig ein Arm durch einen Ärmel gesteckt, aber aufgepasst, dass der Mantel nicht von der anderen Schulter rutschte. Danach wurde vorsichtig der zweite Arm in den anderen Ärmel gesteckt und, siehe da, wir waren nackt unter unseren Bademänteln! Normalerweise schaffte ich dieses Manöver immer ohne Schwierigkeiten, aber einmal war ich gerade dabei, meinen ersten Arm in den Ärmel zu stecken, als meine Armbanduhr drohte, von meinem Bett vor mir herunterzurutschen. Was war wichtiger? Meine Armbanduhr oder meine Bescheidenheit? Meine Armbanduhr gewann und als ich mit einer plötzlichen Bewegung nach ihr griff, fiel mein Bademantel auf den Boden. Ich war splitternackt, als ich mich zu Brodie umdrehte, die auf ihrem Bett saß und mich anguckte.

      „Macht mir gar nichts, Jan. Meine Schwestern und ich ziehen uns immer voreinander aus. Bei uns zu Hause gibt es keine Bademäntel.“

      „Oh, ehrlich?“, fragte ich, während ich meinen Bademantel am Zipfel hochhielt und ihn drehte und wendete, um das richtige Ende zu finden.

      „Ich finde sowieso, da wir zu zweit hier sind, ist es egal. Ich meine, du bist doch auch ein Mädchen, oder?“ Wir lachten beide.

      Ja, das war sie. Also hörten wir mit dem Unsinn auf und zogen uns ganz normal voreinander aus. Ich hatte noch nie ein anderes Mädchen nackt gesehen und war fasziniert.

      „Wie fühlt es sich an, Schwestern zu haben?“, fragte ich eines Abends.

      „Es ist ganz gut, nur streiten wir viel. Ich bin die Jüngste und meine älteren Schwestern sind sehr rechthaberisch.“

      „Wie, ehrlich? An so was hätte ich nie gedacht.“

      „Du hast Glück, ein Einzelkind zu sein.“

      „Das kann schon sein. Aber du vermisst deine Geschwister doch sicherlich?“

      „Weiß nicht Janny. Ich mag es mehr, mit dir zusammen zu sein“, antwortete sie, bevor sie einschlief. Und ich? Ich lag da und hatte etwas zum Nachdenken.

      Während des Schuljahres freute ich mich immer darauf, abends mit Brodie alleine zu sein. Ich hatte noch nie eine feste Freundin gehabt, mit der ich über alles reden konnte. Am Abend kicherten und flüsterten wir bis in die Nacht hinein. Es war ein Sommerschuljahr und die Nächte waren heiß und kurz. Wir warfen unsere Bettdecken von uns, um abzukühlen. Einmal war es besonders drückend und wir lagen auf unseren Matratzen. Ich setzte mich auf und sah hinüber zu Brodie.

      „Du siehst aus wie ein Patient auf dem Operationstisch – kurz vor dem Einstich mit dem Skalpell.“

      „Ja, ich weiß“, sagte sie schüchtern. „Möchtest du Arzt und Krankenschwester spielen?“

      „Aber ja!“, sagte ich sofort und sprang aus meinem Bett.

      „Ich bin der Doktor“, proklamierte ich.

      „Okay, Frau Ding, bitte zieh deine Hose aus!“, befahl ich.

      Brodie gehorchte demütig und lag da. Sie beobachte mich, wie ich sie ansah. Ich hatte noch nie vorher eine Vagina gesehen. Es war das schönste Ding in der ganzen Welt. Ich war total fasziniert und konnte nicht aufhören zu starren. Mein Herz pochte wild. Sah meine auch so aus? Ich hatte meine Vagina noch nie angesehen und wenn ich es versucht hätte, dann wäre es sowieso vom falschen Winkel gewesen. Es war aufregend, ihre Scheide zu betrachten. Abend für Abend verbrachten wir damit, begeistert unsere glorreichen Schlitze anzusehen. Wir fassten uns nicht an – aber, ich war immer der Doktor! Heute bin ich dankbar, dass wir nicht von den Nonnen entdeckt wurden, die unser Spiel sicherlich anders interpretiert hätten.

      Das Schuljahr endete und da wir einen anderen Schlafsaal zugeordnet bekamen, endete damit auch unser Spiel. Im nächsten Schuljahr hatte ich Glück, denn ich wurde in einem größeren Schlafsaal mit fünf anderen Mädchen untergebracht. Eine von ihnen war eine meiner besten Freundinnen, Brownie. Sie war ein entzückendes kleines Wesen, lieb und unheimlich nett. Trotzdem schaffte sie es nie zu einer rosa Schleife – genau wie ich. Ihre Eltern lebten in Papua-Neuguinea und sie fuhr nur in den Weihnachtsferien nach Hause. Insofern hatten wir viel gemeinsam, außer dass sie eine schöne braune Haut hatte, braune Augen und gelocktes braunes Haar – Brownie eben! In Mathematik waren wir beide gleich gut. Unsere Lieblingsbeschäftigung bestand darin, am Ende des Mathebuches die schwierigsten Textaufgaben zu lösen. Wir erreichten die richtigen Antworten zur gleichen Zeit, was uns große Freude bereitete und Spaß machte.

      Während des Schuljahres vor Weihnachten, kurz vor dem Elternsprechtag, breitete sich eine Krankheit im ganzen Klosterinternat aus. Diesmal waren es die Windpocken, die vermutlich von einem der Kinder noch aus den vorherigen Ferien mitgebracht worden waren.

      Als die meisten Kinder schon auf der Krankenstation waren, waren Brownie und ich immer noch gesund. An diesem Abend fühlte Brownie sich allerdings ein bisschen krank.

      „Janny“, flüsterte sie von ihrem Bett.

      „Ja