Jan Carroll

Der bittere Kuss meiner Mutter


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auf dieser Holzplanke knien musste. Ich versuchte alles, um nicht wehleidig auszusehen oder um aus der Menge herauszustechen. Meine missliche Lage fiel aber trotzdem sehr auf als wir unser Abendmahl nahmen. Alle knieten, außer mir. Ich stand! Die Eltern fast aller Mädchen waren zu diesem Anlass gekommen und schauten zu, aber meine Eltern waren aus für mich unverständlichen Gründen abwesend.

      Irgendwie schaffte es meine Mutter während der Schulferien ein paar Wochen bei mir zu sein. Wir verbrachten die Zeit bei Bekannten in Charleville, ein paar hundert staubige Meilen westlich von Brisbane. Das Haus war ein typisches Landhaus. Ich war nie da, weil ich mich sehr für die Tiere interessierte. Die meiste Zeit verbrachte ich in den Pferdeställen und auf den Weiden, wo gerade ein Lehrling versuchte, ein Pferd zu trainieren. Ich konnte mir seine Methode nicht lange mit ansehen. In meinem jungen Alter wusste ich, dass es bessere Möglichkeiten gab ein Pferd zu zähmen. Dieser junge Mann brüllte, fluchte, trat und schlug das arme Pferd mit seinem Lasso. Als das Pferd nicht tat, was er wollte, stampfte er wütend und kopfschüttelnd davon. Das arme Pferd zitterte und schnaufte und war mit Schweiß bedeckt. Leider konnte ich es nicht streicheln, weil es auf dem eingezäunten Trainingsplatz war, aber ich sprach ihm ruhig zu.

      „Es tut mir so leid für dich, du armes Ding, du schönes armes Ding. Ich werde melden, wie du behandelt wirst.“

      Als ich an der Scheune vorbeiging, saß der Lehrling dort und rauchte lässig vor sich hin. Ich ging zu ihm und sagte vorwurfsvoll:

      „Du solltest dich schämen, du altes Arschloch!“

      Er sah mich mit einem vernichtenden Blick an, sagte aber nichts.

      „Das arme Pferd ist am Boden zerstört“, fuhr ich wütend fort.

      „So wird das hier auf dem Land gemacht“, sagte er. Es klang besserwisserisch und altklug. Er wusste, dass ich ein Stadtkind war.

      Ich fragte ihn herausfordernd: „Hast du jemals daran gedacht, es auf eine liebevolle Art und Weise zu versuchen?“

      Oh ja, ich konnte schon als Kind ganz schön wütend werden und hatte keine Angst, es mit anderen aufzunehmen.

      Er drehte sich um und zog provozierend langsam an seiner Zigarette.

      „Ich werde das melden“, sagte ich und machte eine Kopfbewegung zum Haus hin. „Du hast das Pferd misshandelt!“

      Ich ging direkt ins Haus, um ihm zu zeigen, dass ich meine Drohung in die Tat umsetzen würde. Ja, ich werde es melden – aber wo sind sie nur? Es war angenehm kühl im Haus. Der Kontrast zu der erbarmungslosen Hitze draußen ließ mich fast ohnmächtig werden.

      „Mummy, Mummy!“ Keine Antwort.

      Okay, dann suche ich eben jemanden anders, dem ich es melden kann.

      „Herr Nagle, Herr Nagle!“ Wieder keine Antwort.

      Ich ging leise von einem Zimmer ins andere. Ach, da sind sie ja. Sie halten einen Mittagsschlaf – zusammen! Eine tolle Idee, denn wir hatten auch immer Mittagsruhe in der Schule. Jetzt musste ich aber jemanden finden, dem ich die Pferdemisshandlung melden konnte. Endlich fand ich die Köchin, der ich erzählte, was ich gesehen hatte. Sie musste mir versprechen, dass sie es Herrn Nagle weitersagen würde.

      „Natürlich werde ich das“, sagte sie, „jetzt geh schön wieder spielen!“

      Ich lief hinaus auf die wunderschöne Veranda, von der ich die Schafweide sehen konnte, die sich in die weite Ferne erstreckte. Jetzt werde ich nach den Schafen sehen, dachte ich, und schon war ich unterwegs. Als ich ankam, guckten mich die Schafe nur an und fraßen weiter. Sie fühlten sich von einem sieben Jahre alten Mädchen nicht bedroht. Dann sah ich einen großen bulligen Rammbock mit zwei Hörnern – meine Güte, diese Hörner waren beeindruckend. Ich stand ganz still. Während der Rammbock lässig weiter graste, kam er langsam auf mich zu. Ich redete leise auf ihn ein, er hob seinen Kopf, sah mich kurz an und fing an, mit seinem Bein zu stampfen.

      „Komm nicht auf die blöde Idee, mit deinem Fuß zu stampfen, um mir Angst zu machen, du dummes großes Wollknäuel“, erwiderte ich, „ich werde gleich auf dir reiten, dann wirst du sehen, wie dir das gefällt!“

      Während sich einige der anderen Mutterschafe davonmachten, blieb er stehen. Wir starrten uns gegenseitig an, er senkte wieder seinen Kopf und graste genüsslich weiter. Ich ging etwas auf ihn zu, langsam, stopp, noch ein bisschen, und stopp.

      „Gleich reite ich dich, du alter Bock“, sagte ich leise zu ihm.

      Es war ihm vollkommen egal, was ich sagte, er hob noch nicht mal seinen Kopf. Jetzt konnte ich endlich seine zwei prächtigen Hörner genau betrachten. Ich bleibe besser hinter diesen Hörnern, dachte ich und wartete, bis er so nah war, dass er mich mit seinem Hinterteil berührte. Er war so vertieft in sein Fressen, dass es ihm nichts ausmachte, als ich mit einer Hand sein linkes Horn umfasste. Ich schwang mein rechtes Bein über seinen Rücken und stand mit dem Bock zwischen meinen Beinen da. Jetzt schießt er wahrscheinlich los, dachte ich. Aber das tat er nicht; er hob nur langsam seinen Kopf. Also erfasste ich beide Hörner. Auch das machte ihm nichts aus. Ich setzte mich mit meinem vollen Gewicht auf ihn. In diesem Moment schoss sein Kopf hoch – was war das?

      Ich fragte ihn leise: „Das hast du noch nie gefühlt, stimmt’s Rammbock?“

      Während er immer noch ruhig vor sich hin kaute, drehte er sich zu mir um.

      „Was hast du für eine schöne weiche Nase, Rammbock. Gehst du jetzt endlich mit mir los?“

      Ich kuschelte mich tiefer in seinen wolligen Rücken.

      Er versuchte ein paar unsichere Schritte – ja, ich war immer noch da!

      „OKAY – Heia hopp, auf geht’s!” schrie ich.

      Dann ging es endlich los. Er rannte wie von einer Tarantel gestochen los. Die anderen Schafe sprangen in allen Richtungen auseinander. Das machte Spaß – „hier hin, da hin“, kommandierte ich und riss rechts und links an seinen Hörnern; Vroooommm − wir rasten mit grenzenloser Geschwindigkeit hin und her, während sich die anderen Schafe auf der Weide verstreuten.

      Als wir beide total außer Atem waren, stieg ich von ihm ab, aber hielt ihn weiterhin an seinen Hörnern fest. Ich streichelte sein Gesicht und sagte:

      „Das war der schönste Ritt, den ich jemals hatte. Morgen werde ich dich wieder reiten!“

      Die folgenden Morgen verbrachte ich galoppierend auf Silver, wie ich ihn benannt hatte. Wir ritten auf den Weiden hin und her, kreuz und quer, hoch und runter, bis wir uns ausgetobt hatten. Dann führte ich den Bock zu der Hausweide, wo er angebunden das frische grüne Gras genoss und ich ein kühles Getränk. Nach meiner Erfrischung stürmte ich wie Gary Cooper auf die Veranda, stieß meinen Hut zurück und brüllte:

      „Na, was ist los mein Freund? Wie wär’s mit noch einem kleinen Ritt? Da oben, in den Hügeln sind Indianer, die müssen wir kriegen!“

      „Hoppla hopp Silver!“

      Ich schwang mich aufs Neue auf seinen wolligen Rücken und wir schossen los. Nach ein paar Tagen brauchte ich ihn nicht mehr anzubinden. Er stand ganz einfach da und wartete auf mich. Ich war unendlich traurig, als ich mich am Ende unseres Besuchs von ihm verabschieden musste. Er würde sich wieder in einen alten langweiligen Rammbock zurückverwandeln. Der arme Kerl! Ich weinte bitterlich.

      Im folgenden Jahr zogen meine Mutter und ich wieder zurück nach Sydney und ich ging glücklich wieder ins Kerever-Park-Klosterinternat. Die meisten Mädchen im Kerever-Park waren nach irgendeinem Sankt benannt und hatten somit katholische Namen. Leider gab es keinen Sankt Jan, aber als herauskam, dass meine Mutter mich auf den Namen Jeanne getauft hatte – inklusiv dem französischen Akzent – änderte sich meine Namenslage. In der römisch-katholischen Geschichte gab es eine Jeanne d’Arc, nach der ich also benannt war. Dieser Kompromiss wurde von den Nonnen akzeptiert.

      Viel später erzählte mir meine Mutter, dass das Kloster Kerever-Park mich erst nicht aufnehmen wollte, weil wir eine Theater-Familie waren. Als ihnen aber bewusst wurde, dass meine Familie nicht arm war, änderte