Jan Carroll

Der bittere Kuss meiner Mutter


Скачать книгу

erstickt und wenn jemand ein brennendes Streichholz an mich gehalten hätte, dann wäre ich wahrscheinlich wie Jeanne d’Arc in Flammen aufgegangen! Der Spiritus sollte den Schmerz des Sonnenbrandes lindern, verursachte aber hauptsächlich, dass ich meine Haut nach ein paar Tagen in großen Fladen abziehen konnte. Als ich wieder ins Internat kam, gab ich damit sogar an.

      „Da, seht ihr, dieser große Hautfetzen reicht für eine Handtasche – wofür brauchen wir noch Krokodile?!“

      Dann gab es noch die Milchbehandlung, die ich lieber hatte, weil es den Schmerz besser linderte. Hierbei wurde mein Rücken vorsichtig mit in Milch getränkten Wattebäuschen abgetupft, aber sogar das Tupfen tat schrecklich weh. Ich versuchte nicht zu weinen, weil meine Verwandten alles taten, um mir zu helfen. Außerdem, wie konnte meine liebe Tante, die immer schön gebräunt aussah und niemals verbrannte, wissen, dass meine Haut total anders war als die ihre? Die Theorie, dass Verhindern mehr Sinn als Heilen machte, war damals noch nicht in die Gehirne der Bevölkerung eingetrichtert worden. Also litt ich jedes Mal, wenn ich in Palm Beach war, an Sonnenbrand, was mich aber keinesfalls davon abhielt, an diesen herrlichen Ort immer wieder hinzurückzukehren.

      Auch wenn meine Mutter meistens während der Schulferien nicht da war, war ich immer mit einer neuen Schuluniform, Schuhen und sonstiger Kleidung ausgestattet, als es wieder zurück ins Internat ging. Wer dafür sorgte, wusste ich nicht, aber ich fand es vollkommen normal, dass immer alles für mich bereitgelegt wurde. Manche Schulferien verbrachte ich in Melbourne bei anderen Verwandten, und zwar in einem der langweiligsten Vororte auf der Welt – Carnegie! Das empfand ich als Kind, aber als ich vor kurzem noch mal in Carnegie war, war ich überwältigt von einem Gefühl der Vertrautheit und Geborgenheit, das dieser Ort mir gab.

      Onkel Arthur arbeitete als Chemiker in einer Firma, die Farben herstellte. Er war derjenige, der früher in seinem Leben den Nagellack erfand und angeblich war meine Mutter die erste Frau in Sydney, die ihre Nägel lackierte. Onkel Arthur hatte sich in die Dunkelheit von Carnegie versetzen lassen, um dem Ausmaß der Folgen seiner Erfindung zu entfliehen. Wie dem auch sei, in Carnegie verbrachte ich oft glückliche Ferien. In dieser Zeit vergnügten sich Kinder noch mit den einfachsten Mitteln. Ich beschäftigte mich stundenlang damit, einen Tennisball gegen eine Steinwand zu werfen, oder ich spielte Geschäft. In meiner Fantasie bediente ich Kunden, indem ich Ware in braune Papiertüten packte und dann das Wechselgeld ausrechnete und an die Kunden ausgab.

      „Bitteschön, Frau Winterarsch, das wäre dann drei Pfund und sieben und sechs.“

      Ich schaute hoch in das unsichtbare Gesicht der nicht vorhandenen Frau Winterarsch, die mit einem scheinbaren Fünf-Pfund-Schein bezahlte, den ich in die imaginäre Kasse legte.

      „Klirr, klirr“, mimte ich, während ich so tat, als würde ich nach Wechselgeld suchen.

      „Bitteschön, Frau Frostpopo, das wäre dann ein Pfund, zwei und sechs“, sagte ich zu der nächsten unsichtbaren Kundin, Frau Frostpopo, während ich ihr das unsichtbare Wechselgeld über meine aufgestapelten Pappkartons reichte.

      Tante Dorothy, Onkel Arthurs Frau, war eine gute Pianistin und wollte, dass ich mindestens einmal am Tag Klavier übte. Ich spielte aber nur Musik, die ich mochte, war also für Tonleiter oder zusätzliche Fingerübungen nicht zu haben. Nachdem ich ‘Für Elise’ entdeckt hatte, wiederholte ich es immer und immer wieder. Ich genoss das Stück beim Selbstspielen genau so, wie ich es beim ersten Mal gehört hatte. Wer war es, der solch göttliche Musik schreiben konnte? Wer immer es gewesen war, musste in Elise total verliebt gewesen sein. Für mich war die Musik äußerst liebevoll und jedes Mal, wenn ich ‘Für Elise’ spielte, drückte ich meine tiefen Gefühle darin aus. Allerdings hasste ich ‚Für Elise’ in einer anderen Ausführung, zum Beispiel als Straßenmusik.

      Das gleiche empfand ich, als ich das erste Mal Paganinis Konzert in D-Major hörte. Die Musik war das Soundtrack einer Dokumentation über sein Leben, die im Internat gezeigt wurde. Ich konnte die Liebe in jedem seiner Geigenstriche fühlen – und auch in meinem mir unbewussten wogenden Busen, der sich schön und voll entwickelt hatte und der von Onkel Arthur nicht unbemerkt blieb. Er hatte es neuerdings gerne, wenn ich auf seinen Knien saß und hopste, was sich etwas seltsam anfühlte, denn ich war mittlerweile so groß, dass ich mit meinen Füßen auf den Boden kam. Wie dem auch sei, ganz unerwartet ließ er mich dann zwischen seine Beine plumpsen und zog mich dann von hinten hoch, indem er mit beiden Händen meine Brüste umfasste. Ich versuchte, mein Gleichgewicht wiederherzustellen, indem ich mit meinen Beinen strampelte. Aber wie sollte ich das hinkriegen, wenn er mich jedes Mal an meinen Brüsten wieder hochzog?

      Mein Gleichgewicht endlich wieder hergestellt, stand ich sofort auf.

      „Oh, danke, Onkel Arthur.“

       Er hatte mir doch nur helfen wollen, oder?

      Ich begleitete Tante Dorothy oft beim Einkaufen. Es überraschte mich, wie sie mit dem Lebensmittelhändler und dem Metzger sprach. Sie dachte sicherlich, dass ihr vorgetäuschter Akzent edel sei. Ich hatte solch einen Akzent jedoch noch nie gehört, obwohl wir in der Klosterschule Sprechtechnik und Redekunst lernten. Sie hörte sich sehr beeindruckend an, zum Beispiel, wenn sie ein Pfund Kartoffeln bestellte. Tatsächlich rannte der Verkäufer los, kam mit einer Papiertüte Kartoffeln wieder und überreichte diese meiner Tante mit einer Verbeugung, als wenn er die Königin persönlich vor sich stehen hätte. Sie nahm die Tüte gnädig, aber ohne Lächeln, an und bestellte ihre weiteren Lebensmittel − mit Nonchalance, schrecklich abgerundeten Selbstlauten und übertrieben deutlicher Aussprache. Einmal war mir ihr Benehmen so peinlich, dass ich mir vornahm, das nächste Mal draußen zu warten. Beim Metzger bestellte sie mit ihrem überaus künstlichen Akzent eine fettlose Lammkeule. Der Metzger rannte in den Kühlraum, kam zurück mit der Lammkeule und hielt sie meiner Tante unter die Nase, damit sie sie untersuchen konnte. Sie lehnte grundsätzlich die erste Keule, die ihr vorgelegt wurde, ab, und beauftragte den Metzer, eine andere zu holen. Er kam eilig zurück, vielleicht sogar mit derselben Keule. Meine Tante nickte hochnäsig, was ‘akzeptiert’ heißen sollte. Der Metzger zwinkerte mir erleichtert zu und wir lächelten uns kopfschüttelnd und in Einverständnis über so viel Arroganz an.

      Am Ende meiner Ferien brachten mich Tante Dorothy und Onkel Arthur zum Flugplatz und sorgten dafür, dass ich in das richtige Flugzeug einstieg. Während des ersten Fluges wurde mir übel und ich hielt die braune Papiertüte so fest in meinen Händen, als wenn ich ohne sie ertrinken würde. Beim nächsten Flug hatte ich gelernt, vorher nichts zu essen. Ich genoss die Sicht von meinem Fensterplatz, die offenen Ebenen, die langsam hügelig wurden und dann sah ich endlich wieder meinen geliebten Sydney Harbour.

      Von oben konnte ich mich besser orientieren und genau die Orte ausmachen, die ich kannte.

      Im Kerever Park-Klosterinternat begann die alte Routine von vorne. Einmal machte ich während des Unterrichts eine Bemerkung, die die Mädchen vor mir zum Lachen brachte. Mutter Benjamin unterbrach sofort den Unterricht.

      „Kann mir jemand erzählen, was Jans Problem ist?“, fragte sie die Klasse in ernstem Ton. Meine Klassenkameradinnen drehten sich mit lachenden Gesichtern zu mir um. Ein paar Mädchen zeigten auf, um die Frage zu beantworten. Meine beste Freundin und ich warteten mit hochgezogenen Augenbrauen.

      „Ja bitte, Marie.“ Die Nonne nahm eine sonst sehr ernste Schülerin dran.

      Marie konnte es nicht abwarten, ihre Gedanken zu offenbaren.

      „Jan macht sich ganz einfach gerne lustig“, sagte sie ernsthaft.

      Die ganze Klasse lachte laut los, denn wir hatten mit einer anderen Antwort gerechnet.

      Einmal wöchentlich gab es eine Versammlung, Exemptions genannt. Die Nonnen stellten sich an einem Ende des Klassenzimmers auf und die Mädchen, aufgeteilt in Reihen und Klassen, saßen vor ihnen. Jedes Mädchen wurde mit Namen aufgerufen, um gesagt zu bekommen, ob es sich sehr gut, gut, ausreichend oder unbefriedigend benommen hatte. Für vorbildliches Benehmen gab es etwas Besonderes: