Cristina Fabry

Rache für Dina


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fuhr sich durch die feuchten Haare. „Das ist jetzt aber ein bisschen viel auf einmal. Aber es bringt doch sowieso nichts, der Polizei etwas vorzumachen. Gegen mich lag eine Anzeige vor, Volkmann ist als Zeuge aufgetreten, auch wenn die das aktuell nicht auf dem Schirm haben, das kriegen die doch raus.“

      Paul-Gerhard nickte. Dann sagte er: „Ich meine auch gar nicht, dass du der Polizei irgendwelche Lügen auftischen sollst, damit machst du dich erst recht verdächtig. Aber du solltest dich auch nicht zum Plaudern verführen lassen oder irgendeiner scheinbar sensiblen Polizistin dein Herz ausschütten. Du solltest ihnen nicht mehr Fakten liefern, als sie sowieso schon haben: Der kleine Nils hat dir nachgestellt, es gab Gerede, Volkmann ist in blinden Aktionismus verfallen, glaubte, das sei seine Pflicht, hat sich alles als großes Missverständnis heraus gestellt, Volkmann hat sich entschuldigt, aber der Vertrauensbruch von Seiten vieler Kollegen und die Hexenjagd in der Gemeinde machten es dir unmöglich, an deinen alten Arbeitsplatz zurück zu kehren. Das alles hat dich so sehr erschüttert, dass du es bis heute nicht schaffst, wieder zu arbeiten, du befindest dich aber in psychiatrischer Behandlung und du hast eine gute Prognose. Das reicht und das ist alles wahr.“

      „Ja alles, bis auf die Entschuldigung von Volkmann und die gute Prognose.“

      „Ich würde trotzdem behaupten, dass Volkmann sich in einem Vieraugen-Gespräch bei dir entschuldigt hat. Das nimmt den Dampf aus der Geschichte. Und niemand kann beweisen, dass es nicht stimmt. Volkmann kann es nicht mehr abstreiten.“

      „Ich weiß nicht.“, zweifelte Karin. „Ich kann wirklich nicht gut lügen, vor allem im Moment nicht, dafür bin ich einfach nicht tough genug. Es reicht doch, wenn ich möglichst wenig von der Geschichte erzähle und es so darstelle, dass Volkmann aus meiner Sicht nur der Vollstrecker, nicht aber der Täter war. Kein Judas, sondern schlimmstenfalls ein Pilatus.“

      „Ja, vielleicht hast du recht.“, räumte Paul-Gerhard ein. „Aber sag mal, wie kommst du eigentlich darauf, dass du keine gute Prognose hast?“

      Das Essen und die Getränke wurden gebracht. Karin nahm einen Schluck von ihrem Latte Macchiato und forderte Paul-Gerhard auf: „Jetzt iss, Kollege, bevor dein Essen kalt wird. Ich sehe doch deinen Magen förmlich auf den Knien hängen.“

      Er kam ihrer Aufforderung lächelnd nach und sie erklärte: „Am Anfang haben die Psychopharmaka meinen Gesamtzustand scheinbar rasant verbessert. Ich konnte wieder einigermaßen klar denken, musste nicht bei jeder Gelegenheit losheulen und bekam wieder Boden unter den Füßen. Dann hatte ich erst einmal genug damit zu tun, mir eine Wohnung zu suchen, Arbeitslosengeld zu beantragen, den Umzug zu organisieren, das Zeug, das ich nicht mitnehmen konnte, bei meinen Eltern zu bunkern und mich einzurichten in meiner neuen Wohnung und in meiner veränderten Lebenssituation. Ich hatte das Gefühl, dass es vorwärts ging. Aber dann musste ich zum Jobcenter und Arbeitslosengeld II beantragen. Ich musste feststellen, dass ich auch Eineinhalb Jahre nach der Katastrophe keiner nennenswerten Belastung gewachsen war. Die Depressionen verschlimmerten sich, die Dosis der Antidepressiva wurde hoch gefahren und ich wurde noch arbeitsunfähiger, weil müder, langsamer, träger. Hast du mal registriert, wie fett ich geworden bin? Und wenn ich mich im Wartezimmer meines Psychiaters so umsehe, wird das nicht besser. Ich werde den Rest meines Lebens Tabletten fressen und aufgehen wie ein Hefekloß. Ich werde nie wieder selbstständig für meinen Lebensunterhalt aufkommen können und eine Familie, die mir Halt gibt, habe ich auch nicht und das wird auch nichts mehr. Adrian hat so lange zu mir gehalten, bis die äußere Fassade einstürzte und der Krisendienst auf den Plan gerufen wurde. Da kam er dann mit den üblichen Pseudo-Ausreden um die Ecke gebogen: Ich-bin-damit-überfordert, das-kann-ich-nicht-leisten, ich- muss-mich-schützen, du-musst-jetzt-erstmal-zu-dir-selbst-finden.“

      „Ja, ich erinnere mich.“, unterbrach Paul-Gerhard ihr Lamento. „Aber wühl' doch nicht in diesem alten Dreck. Dass Adrian ein egoistisches Arschloch ist, habe ich schon vorher gewusst. Sei froh, dass du ihn rechtzeitig los geworden bist, bevor du dich mit gemeinsamen Kindern an ihn gebunden hättest. Es liegt nicht an dir, dass er sich so verhalten hat.“

      „Ja, aber wer bitteschön verliebt sich in eine immer dicker werdende, arbeitsunfähige Theologin?“, widersprach Karin.

      „Uwe Pohlmann.“, bemerkte Paul-Gerhard grinsend.

      „Jetzt hör aber auf!“, wies Karin ihn zurecht. „Eher nehme ich irgendeine Überdosis, als dass ich den an mich ran lasse. Igitt!“

      „Hat er dich nach unserem Telefonat noch mal belästigt?“

      „Nein, bis jetzt nicht. Aber wenn ich nachher nach Hause komme, blinkt bestimmt schon wieder der AB.“

      „Soll ich mal mit ihm reden, dass er dich in Ruhe lassen soll?“

      „Ach, das bringt doch nichts. Dann legt er sich zurecht, dass du hinter mir her bist und ihn als Konkurrenten ausschalten willst. Dann bildet er sich erst recht ein, er habe Chancen bei mir.“

      „Also weiter ignorieren?“

      „Genau.“

      „Für eine hoffnungslos Depressive finde ich dich ziemlich angriffslustig und wendig im Kopf.“, sagte Paul-Gerhard.

      „Wie meinst du das?“

      „Deine Wunden heilen nur langsam und es war ja auch ungeheuerlich, was du mitgemacht hast. Aber ich bin überzeugt davon, dass du dein Leben wieder in den Griff bekommst. Wenn die Psychopharmaka dich so außer Gefecht setzen, was hindert dich daran, dich von jemandem behandeln zu lassen, der dir hilft, deine Probleme zu lösen, statt an den Symptomen herumzudoktern? Du hast selbst immer gesagt, dass Psychopharmaka nichts lösen, sondern nichts anderes sind als Drogen, die erstmal lockern und entspannen, langfristig aber krank machen und Leben zerstören. Es gibt doch bestimmt Psychologen, die dich dabei begleiten, wenn du die Medikamente schrittweise absetzt.“

      „Psychologen können nichts verschreiben und infolgedessen das Absetzen eines Medikaments sicher nicht fachlich begleiten, zumindest nicht allein.“

      „Aber in Zusammenarbeit mit einem Arzt?“

      „Ja, vielleicht. Aber ich kenne niemanden, von dem ich wüsste, dass er gut ist.“

      „Ich könnte mich mal umhören.“, schlug Paul-Gerhard vor.

      „Ach Paule.“, sagte Karin und nahm seine Hand. „Du bist einfach zu gut für diese Welt. Pack dir doch nicht immer so viel auf die Schultern. Ich kann mich ja selbst mal erkundigen, ich habe schließlich unendlich viel mehr Zeit als du.“

      „Na gut.“, antwortete Paul-Gerhard, beschloss aber insgeheim, nach einem geeigneten Therapeuten oder einer Therapeutin für seine Freundin zu suchen, denn in ihrem gegenwärtigen Zustand blieb es sicher nur bei dem Vorsatz.

      Paul-Gerhard Solms fühlte sich schlecht, als er Karin Seliger später wieder an dem Hochhaus, in dem sich ihre gegenwärtige Wohnung befand, absetzte. Sicher, er kümmerte sich um sie, aber das beruhigte sein Gewissen keineswegs. Sie war in Hahlen eine engagierte, junge Pfarrerin gewesen, ungewöhnlich früh gewählt, weil sie ihr Studium schnell und konzentriert durchgezogen hatte, weil sie aufgrund ihrer überdurchschnittlichen Leistungen nie Wartezeiten hatte in Kauf nehmen müssen. Sie war witzig, empathisch, ausgesprochen hübsch und dabei kein bisschen eingebildet, sie hatte Interesse an Menschen, ein großes Herz, hatte tolle Ideen und konnte sie kreativ umsetzen. Die älteren Herrschaften in Hahlen hatten sie mit Wohlwollen betrachtet, die jüngeren hatten gern mit ihr zusammen gearbeitet und die Jugendlichen hatten sie vergöttert. Und eben das war ihr zum Verhängnis geworden. Obwohl sie kein Geheimnis daraus gemacht hatte, dass sie mit dem Architekten und Alpha-Männchen Adrian den ehelichen Hafen anzusteuern gedachte, hatte sich ein ehrenamtlicher Mitarbeiter so sehr in sie vernarrt, dass für Außenstehende nicht mehr klar erkennbar gewesen war, ob die leidenschaftlichen Gefühle wirklich nur von dem Jungen ausgingen. Paul-Gerhard war sich sicher, dass sie keine Regel verletzt, keine Grenze überschritten hatte und auch Nils, der vermeintlich Geliebte, hatte so etwas nie behauptet. Aber das ereignislose Leben zahlreicher Dorfbewohner veranlasste diese, ihrer Sensationsgier nachzugeben und das Schlimmste zu vermuten. Und Volkmann, das Schwein, hatte den Faden dankbar aufgenommen. Die engagierte,