Cristina Fabry

Rache für Dina


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auch der Grund sein, warum ihn jemand ermordet hat.“

      „Was? Wann denn? Und wie?

      „Man hat ihn gestern Morgen erstochen in seinem Büro aufgefunden. Hast du davon denn noch gar nichts gehört?“

      „Nein. Wie denn?“

      „Das stand doch in der Zeitung und lief auch im Lokalfernsehen und Radio.“

      „Ich hab' die letzten zwei Tage fast nur geschlafen.“

      „Ach so.“

      „Ja, ich bin gerade wieder etwas daneben. Hab' mal versucht, die Medikamente abzusetzen. War wohl etwas voreilig.“

      „Hm ja. Aber andererseits ist eine Handlungsunfähigkeit seit zwei Tagen natürlich das perfekte Alibi.“

      „Sag mal, spinnst du? Du glaubst doch wohl nicht, dass ich Volkmann abgestochen habe.“

      „Natürlich nicht, aber falls irgend jemand die alte Geschichte von damals raus holt.“

      „Aber wegen so etwas bringt man doch niemanden um.“

      „Er hat dein Leben ruiniert.“

      „Stimmt.“

      „Hör zu. Wenn die Polizei mich befragt, tue ich alles, was in meiner Macht steht, um den Verdacht von dir abzulenken. Und wenn sie dich befragen, erzählst du nichts über die alte Geschichte.“

      „Aber wenn sie es dann doch raus kriegen, bin ich doch erst recht verdächtig.“

      „Karin, das stehst du nicht durch! Du bist krank. Die nehmen dich auseinander und hängen dir den Mord an. Am Ende suchen die Polizisten doch immer den Erfolg statt der Wahrheit.“

      „Ich weiß nicht.“

      „Vertrau mir.“

      „Wenn du meinst.“

      „Ja genau.“

      „Kannst du noch vorbei kommen?“

      „Dafür ist es etwas spät. Aber morgen Mittag hätte ich Zeit. Ich hab' um elf Uhr was im Kreiskirchenamt zu erledigen. Danach könnte ich dich abholen und wir könnten irgendwo was essen gehen.“

      „Au ja.“

      „Dann bis morgen?“

      „Ja bis morgen. Tschüss.“

      Norbert Volkmann ermordet. Ein unwirklicher Schauer lief Karin Seliger über den Rücken. Einen Moment lang stellte sie sich vor, sie hätte es wirklich getan; wäre mit ihrem längsten und schärfsten Küchenmesser in ihrer großen, schwarzen Schultertasche zum Kreiskirchenamt gefahren, hätte an der Pforte freundlich gegrüßt, Frau Attig gebeten, sie bei ihrem Chef anzumelden, hätte sein Büro betreten und ihn gefragt, wie es sich anfühle, für ein zerstörtes Leben verantwortlich zu sein oder ob er am Ende selber an die Lügen glaube, die er wider besseren Wissens verbreitet habe? Er hätte sich unschuldig gegeben und sie gebeten, sein Büro zu verlassen. Sie hätte geantwortet, dass er ihr so tiefe Wunden zugefügt habe, die niemals heilen würden, dass sie nun gedenke, ihm ebensolche Wunden zuzufügen. Sie wäre hinter ihn getreten und hätte scheinbar nachdenklich aus dem Fenster gesehen. Dabei wäre ihre rechte Hand unauffällig in ihre Tasche geglitten und hätte den warmen, hölzernen Griff des Messers umfasst. Blitzschnell hätte sie sich umgedreht und das Messer mit voller Wucht in seinen Rücken gerammt, oben links, mitten ins Herz. Er hätte nicht einmal schreien können, wäre nur vorn übergekippt. Sie hätte das Messer wieder heraus gezogen und in ihre Tasche zurück gleiten lassen. Eiskalt, mit der blutverschmierten Tatwaffe in der Tasche hätte sie sein Büro verlassen, ihm einen Abschiedsgruß zugerufen, als sei er noch am Leben und hätte sich freundlich strahlend von Frau Attig verabschiedet. Das Messer hätte sie in die Weser geworfen, die Tasche ausgewaschen und bei e-bay versteigert. Und dann wäre sie frei gewesen. Ihr ganzer Körper kribbelte. Sie fühlte eine Panikattacke in sich aufsteigen. War das gerade wirklich nur eine Phantasie oder hatte sie es wirklich getan? Aber nein. Sie hatte ja bis eben gar nicht gewusst, dass Volkmann tot war. Aber war er nicht genau zwei Tage tot und lag sie nicht genau zwei Tage apathisch in ihrer Wohnung? Würde sie nun zu allem Überfluss noch psychotisch? Sie musste ihre Medikamente wieder nehmen. „Morgen“, dachte sie, „Morgen wirken die Tabletten, dann kann ich wieder klar denken und treffe mich mit Paul-Gerhard. Paul-Gerhard wird wissen, was zu tun ist. Ich muss nur meine Tabletten wieder einnehmen.“ erschöpft sackte sie auf ihrem Bett zusammen.

      12. Kreiskirchenamt Minden

      Es war exakt 9.28 Uhr als Keller und Kerkenbrock an der Pforte des Kreiskirchenamtes vorsprachen.

      „Wir haben um 9.30 Uhr einen Termin mit dem Assessor Reimler.“, erklärte Kerkenbrock.

      „Assessor A.D.“, erklärte die Dame an der Pforte. „Herr Pfarrer Reimler ist jetzt stellvertretender Superintendent. Sie finden ihn in der Superintendentur im ersten Stock.“

      „Ich weiß Bescheid.“, unterbrach Keller sie. „Kommen Sie, Kerkenbrock.“

      Im Vorzimmer des Superintendenten trafen sie auf Eisabeth Attig. Heute trug sie den Ereignissen entsprechend eine schwarze Bundfaltenhose aus Viskose, eine silbergraue Bluse und eine schwarze Weste aus Maschinenstrick, dazu schwarze Lackpumps und sehr dezenten Goldschmuck. Nur der perlrosa Nagellack und der darauf abgestimmte Lippenstift waren als Farbtupfer erhalten geblieben.

      „Herr Assessor Reimler erwartet Sie bereits.“, erklärte sie geschäftsmäßig, klopfte an die Tür und kündigte die Besucher an. „Also doch noch nicht Superintendent.“, raunte Keller Kerkenbrock zu. Die Polizisten traten ein und gaben Sebastian Reimler die Hand. Das Angebot einer Tasse Kaffee oder Tee lehnten sie dankend ab. Sie nahmen zu dritt am Konferenztisch Platz und Keller hatte den Schreibtisch im Blick, hinter dem vor zwei Tagen Volkmanns Leiche gelegen hatte. Die Spurensicherung hatte den Tatort gestern Nachmittag frei gegeben und Reimler hatte offensichtlich keine Minute mit dem Umzug gezögert. Was für ein Mensch musste das sein.

      „Herr Reimler“, begann Keller die Befragung. „Sie als Stellvertreter von Herrn Volkmann sind sicherlich der am besten informierte Mitarbeiter, was die dienstlichen Angelegenheiten Ihres verstorbenen Chefs betrifft. Als Leiter eines Kirchenkreises erlebt man sicher an der einen oder anderen Stelle Dissonanzen. An welchen Fronten hatte Herr Volkmann Ihrer Einschätzung nach am meisten zu kämpfen?“

      „Nun, Herr Volkmann war ein Superintendent, der lieber aktiv gestaltete, statt passiv zu verwalten.“, begann Reimler seine Ausführungen. „Er bemühte sich zum Beispiel um die Ökumene, was eingefleischten Lutheranern nicht immer schmeckte.“

      „Könnten Sie das näher erklären?“, fragte Keller.

      „Was Ökumene ist, wissen Sie aber schon?“, erkundigte Reimler sich.

      „Offen gestanden, nein.“, gab Keller zu und Kerkenbrock lächelte in sich hinein.

      „Nun“, erklärte Reimler, „als Ökumene bezeichnet man die Gemeinschaft der christlichen Kirchen, egal ob sie katholisch, evangelisch, reformiert oder orthodox sind. Man betont das Gemeinsame, statt sich über das Trennende zu identifizieren. Mittlerweile wurde der Begriff teilweise sogar schon auf die anderen monotheistischen Religionen ausgeweitet, also auf Judentum und Islam, die ja untrennbar mit dem Christentum verbunden sind.“

      „Gibt es denn solche Hardliner in Ihrem Verein, dass der Dialog mit anderen Konfessionen für ein Mordmotiv reicht?“, erkundigte sich Keller.

      „Das habe ich nicht gesagt.“, erklärte Reimler. „Sie haben mich nach Dissonanzen gefragt, nicht nach einem möglichen Mordmotiv.“

      „Da haben Sie recht.“, räumte Keller ein. Manchmal ergibt sich ein Mordmotiv auch erst aus mehreren Puzzle-Teilen. Fahren Sie also bitte fort.“

      „Nun ja. Er war ein Vorgesetzter, der seine Mitarbeiter nicht einfach machen ließ. Verstehen Sie mich nicht falsch – ich meine damit nicht, dass er sich dirigistisch in alles einmischte, er setzte großes