Cristina Fabry

Rache für Dina


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wenn er sich tapsig und viel zu langsam nach dem Übeltäter umgesehen hatte. Und dann konnte er den spottenden Blicken nicht standhalten, denn auch heute konnte er niemandem länger als zwei Sekunden in die Augen sehen. Das Einzige, was ihn seine Kindheit hatte überleben lassen, waren die tröstenden Worte seiner Mutter gewesen: „Stör dich nicht an den Rabauken. Aus denen werden nur Maurer oder Hilfsarbeiter. Und du wirst mal Arzt oder Anwalt oder Pastor und dann sehen die alle zu dir auf.“

      Ja, Sebastian Reimler wollte jemand ganz Besonderes sein, das war ihm sehr wichtig. Und da er als Mann weder über anatomische Vorzüge noch über eine animalische Ausstrahlung verfügte, die ihm Attraktivität verliehen hätte, musste er eine attraktive Rolle spielen, wenn er sein Ziel erreichen wollte. Ob er wohl Volkmann abgestochen hatte, um sein Ziel zu erreichen? Assessor klang ja fast wie Assassino, die italienische Vokabel für Mörder. Aber um einem Abgestochenen auch noch die Hose herunter zu ziehen und ein Stück von seiner kleinen Nudel abzuschneiden, während jederzeit die Vorzimmerdame in der Tür stehen konnte, dafür fehlte ihm sicher der Schneid. Und um einen Auftragskiller zu bezahlen, dafür war Reimler zu geizig. Er fuhr ein dickes Auto, trug feine Anzüge, benutzte versilberte Schreibutensilien und steckte auch sonst sicher sein ganzes Gehalt in seine Außenwirkung. Und so üppig war das Einkommen eines Theologen nun auch wieder nicht. Man konnte damit vortäuschen, vermögend zu sein, aber dann war es auch aufgebraucht.

      Reimler schloss seinen öden Vortrag mit den Worten: „Sie sehen, auch in der Jugendarbeit werden erneut notwendige Personaleinsparungen auf uns zukommen. Herr Superintendent Volkmann und ich waren uns darin einig, dass die beste und sozial verträglichste Lösung die wäre, für den Fall, dass jemand von Ihnen kündigt, die Stelle nicht in vollem Umfang wieder zu besetzen. Das würde dann aber bedeuten, dass die Arbeit selbstverständlich neu verteilt werden müsste, denn es kann ja nicht sein, wenn beispielsweise Frau Förster geht, dass die Region Hille in die Röhre guckt, während alle anderen weiter arbeiten wie bisher. Vielleicht denken Sie da in ihrer Klausur in naher Zukunft mal drüber nach, wie Sie die Arbeit im Synodal-Jugendreferat noch zentraler und effektiver gestalten können. Von kleinräumlichem Kirchturmdenken müssen Sie sich sicher verabschieden. Und ich verabschiede mich jetzt von Ihnen, denn ich muss in einer Stunde in Bielefeld beim Präses sein. Frohes Schaffen noch.“

      Sprach's und verschwand und ließ die Anwesenden mit offenen Mündern zurück.

      „Möge ihn der Blitz beim Kacken erwischen.“, zischte Katharina und Hilke lachte laut auf. „Ich danke dir für deine Deutlichkeit.“, sagte sie. „Ich glaube, was der hier von sich gegeben hat, müssen wir nicht wirklich ernst nehmen. Ich glaube, das wird weder vom KSV noch von der Kreis-Synode getragen und wenn in zwei Jahren der neue Sup gewählt wird, ist er sowieso weg vom Fenster.“

      „Darauf würde ich mich nicht verlassen.“, gab Paul-Gerhard zu bedenken. „Du vergisst, dass in der Synode eine Menge ehrenamtlicher Presbyter sitzen, die über viel zu wenig Einblick verfügen. Die lassen sich prima um den Finger wickeln. Und im Pfarrkonvent regiert die Trägheit der Masse. Wenn Reimler geschickt ist, dann tritt er nicht allzu vielen Kollegen auf die Füße und bevor sie sich einen unberechenbaren Neuling vor die Nase setzen lassen, wählen sie lieber den kleinen, dicken, doofen Sebastian, von dem sie glauben, dass sie ihn ihrerseits ganz leicht um den Finger wickeln können und dass er sie in Ruhe lässt. Die waren schon so blöd, Volkmann zu wählen, da werden die auch Reimler nicht verhindern.“

      „Aber hat beim Stellenplan in der Jugendarbeit nicht auch die Landeskirche noch ein Wörtchen mitzureden?“, fragte Katharina.

      „Unwesentlich.“, sagte Jans Carstensen. „Kürzen können die jederzeit; nur nicht einfach betriebsbedingt kündigen, dafür sind einfach noch zu viele Rücklagen da.“

      Katharina seufzte. „Also gut. Ich halte Ausschau nach einer Perspektive bei einem anderen Träger, aber wollen wir nicht mal langsam unsere Tagesordnung abarbeiten? Ich will nicht noch heute Nachmittag hier sitzen.“

      Kai-Uwe grinste: „Ja,ja. Kathis heiliger, freier Mittwoch Nachmittag. Was treibst du da eigentlich so?“

      „Hemmungslosen Sex mit meinen Haushaltsgeräten. Noch Fragen?“, antwortete Katharina schnippisch und erntete derbes Gelächter von den Männern. Hilke schüttelte indes fassungslos den Kopf. Doch Kai-Uwe nahm Katharinas Vorschlag ernst und führte weiter durch die Tagesordnung, so dass alle die Gelegenheit hatten, in Ruhe zu Mittag zu essen. Katharina suchte ihr Lieblingscafé auf, wo tägliche wechselnde, vegetarische Tagesgerichte aus biologischem Anbau angeboten wurden. Diesen Luxus gönnte sie sich nur selten, aber der freie Mittwoch Nachmittag alle vierzehn Tage musste feierlich zelebriert werden angesichts der voll gestopften Nachmittage und Abende während der restlichen Woche und der vielen Dienstwochenenden.

      Der Erholungswert wurde ein wenig beeinträchtigt durch die schäbige Aussicht auf das dem Café gegenüber liegende Gebäude. Es war eingerüstet und der Café-Betreiber beklagte sich über Baulärm, der den ganzen Vormittag über angehalten hatte. „Wird total entkernt, der erste und zweite Stock.“, erklärte er.

      „Wieso das denn?“, fragte Katharina.

      „Ausstellungsräume, Museum, was weiß ich.“, erklärte er gelangweilt.

      „Interessant.“, bemerkte Katharina.

      9. Kreispolizeistelle Minden

      Keller saß schon 20 Minuten an seinem Schreibtisch, den man ihm an seinem vorübergehenden Arbeitsplatz zur Verfügung gestellt hatte, als Kerkenbrock schwungvoll und bester Laune das gemeinsame Dienstzimmer betrat, um nicht zu sagen, sie rauschte herein. „Guten Morgen.“, flötete sie. „Und? Wir haben hier einen spannenden Fall, habe ich gehört?“

      „Proben Sie für eine Rolle im TATORT?“, fragte Keller sie herablassend.

      Kerkenbrock grinste breit: „Mit meiner Praxiserfahrung hätte ich sicher super Chancen.“

      „Welche Praxiserfahrung?“, nuschelte Keller mit gespielter Heimlichkeit, aber unüberhörbar.

      Sabine Kerkenbrock stemmte die Hände in die Hüften. „Jetzt seien Sie mal nicht so stinkstiefelig. Ich habe schon gehört, dass Sie die Ehefrau informieren mussten. War es sehr schlimm?“

      „Nein, nein“, antwortete Keller gelassen, „Sie hat nicht mit übertriebenen Gefühlsausbrüchen reagiert und ist auch nicht ohnmächtig oder verrückt geworden. Ich lese gerade die Protokolle, die die Kollegen gestern aufgenommen haben, im Kreiskirchenamt und in der unmittelbaren Nachbarschaft. Vielleicht stellen Sie schon mal einen Routenplan zusammen für die Freunde und Verwandten, die wir heute abklappern müssen. Ist bestimmt total spannend.“

      Wortlos reichte Keller Kerkenbrock das Adressbuch, sie nahm es seufzend entgegen.

      Seine junge Kollegin ging Keller fürchterlich auf die Nerven. Sie war sehr hübsch, sich dieser Tatsache aber auch voll bewusst. Ihre wilde, goldblonde Lockenmähne knetete sie meistens mit irgendwelchen Haarpflegepräparaten in Form. Ihr Teint war stets von so gleichmäßigem und makellosem Karamellbraun, dass er sie des regelmäßigen Solarium-Besuchs verdächtigte. Ihr Körper war durchtrainiert und wohlgeformt, für Kellers Geschmack etwas zu mager. Sie trug stets dezentes Make-up, aber sie erschien nie ungeschminkt zum Dienst. Sie gehörte zu dieser Generation notorisch gut gelaunter, auf- strebender, junger Menschen mit einem grenzenlosen Selbstbewusstsein, das jeglicher Grundlage entbehrte. Sie glaubten, nur weil sie jung, fit und wohlgestaltet waren, könnten sie alles schneller und besser erledigen als die abgehalfterten, frustrierten alten Säcke. Alles, was das Leben schwierig machte, existierte nicht für sie, sie ignorierten es. Aber wenn sie dem geballten Elend einmal wirklich nicht aus dem Weg gehen konnten, ging ihre viel beschworene Belastbarkeit in den Keller. Sie heulten Rotz und Wasser, setzten alles daran, sich zu entziehen und begründeten das später betont sachlich-professionell mit Sätzen wie: „Ich muss mich schützen.“

      Jetzt saß sie da, tippte und telefonierte im Turbotempo und war doch in ihrem Eifer nicht effektiver, als wenn sie alles in Ruhe abgearbeitet hätte. Aber sie musste ja ihre Hochleistungs-Show abziehen. Wahrscheinlich verbrannte sie damit zusätzliche Kalorien,