Cristina Fabry

Rache für Dina


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wüsste er aber selbst auch nicht mehr so genau um alles Bescheid, weil er sich zu viel auf einmal vorgenommen hätte, und denn ginge alles durcheinander.“

      „Wer sagt denn sowas?“, fragte Lydia Schmalgemeier ärgerlich.

      „Böskens Gerd.“, antwortete ihre Mutter spitz.

      „Böskens Gerd?“, fragte Keller interessiert.

      Lydia Schmalgemeier winkte ab. „Der saß im Presbyterium. Ist aber letztes Jahr gestorben, den können Sie nicht mehr fragen.“

      „Und predigen konnte er auch nicht.“, fuhr die Mutter fort.

      „Ach Mama, jetzt hör aber auf!“, schimpfte Lydia Schmalgemeier.

      „Also ich hab' meist nichts verstanden von dem, was er erzählte.“, fuhr die Mutter ungerührt fort. „Der holte immer wer weiß wie weit aus, was er irgendwo in irgendwelchen schlauen Zeitungen gelesen hatte, die hier sowieso keiner kennt und vonne Israeliten, wo alles nix von inne Bibel steht und denn immer diese Fremdwörter, das is' nichts für die Leute hier.“

      „Seine Predigten waren vielleicht manchmal etwas zu anspruchsvoll für diese Gemeinde.“, erklärte Lydia Schmalgemeier.

      „Wo waren Sie eigentlich gestern Vormittag?“, fragte Keller Frau Schmalgemeier.

      „Mit meiner Mutter beim Arzt. Um acht waren wir da und saßen bis zwölf im Wartezimmer. War rappelvoll.“

      „Die Mutter nickte zustimmend und sagte dann: „Ich hatte die ganze Nacht kein Auge zugetan, weil ich so Schmerzen im rechten Knie hatte. Da konnte ich nicht auf einen Termin warten.“

      Kerkenbrock notierte den Namen der Arztpraxis und sagte dann: „Das war's fürs erste, Frau Schmalgemeier. Nur eins noch: Haben Sie einen konkreten Verdacht oder wenigstens eine Idee, wer Herrn Volkmann getötet haben könnte?“

      Lydia Schmalgemeier schüttelte den Kopf mit einem Ausdruck von Fassungslosigkeit auf ihrem Gesicht. „Ich habe nicht die leiseste Ahnung.“, flüsterte sie.

      „Dann wollen wir Sie auch nicht länger aufhalten“, erklärte Keller. „Für den Fall, dass Ihnen noch etwas einfällt, lasse ich Ihnen unsere Karte da. Rufen Sie uns jederzeit an. Es kann auch sein, wenn sich neue Hinweise ergeben, dass wir erneut auf Sie zukommen. Aber fürs erste sind wir durch.“

      Er stand auf und reichte ihr die Hand. „Auf Wiedersehen Frau Schmalgemeier und vielen Dank.“

      „Keine Ursache.“, antwortete die.

      Zurück im Dienstwagen resümierte Kerkenbrock: „Sie weiß nichts, außer dass er Superpastor war. Nur ihre Mutter kennt den kompletten Dorftratsch. Was halten Sie davon?“

      Keller zuckte mit den Schultern. „Klingt erstmal unspektakulär. Pfarrer, die polarisieren, gibt’s , glaube ich, haufenweise. Aber er war zumindest kein Waisenknabe, so viel ist schon mal klar. Und irgendetwas sagt mir, dass die Schmalgemeier das eine oder andere für sich behält.“

      „Wie kommen Sie darauf?“

      „Sie kommt mir vor wie so ein einsames, altjüngferliches Mauerblümchen, das immer noch bei Mama wohnt, Mama hasst, sich aber auch nicht von ihr lösen kann. Vielleicht hat sie den Pastor heimlich verehrt und angehimmelt, weil er sie nicht wahlweise übersehen oder ausgelacht hat wie der Rest der Dorfmischpoke. Im Gegenzug für seine Aufmerksamkeit hat sie vielleicht irgendwelche Machenschaften gedeckt. Denn dass Volkmann das eine oder andere Regelwidrige auf dem Kerbholz hat, ist nicht unwahrscheinlich; Machtmenschen haben fast immer Leichen im Keller. Und es sind meistens Machtmenschen, die Superintendent werden. - Wen haben wir eigentlich als Nächstes auf dem Plan?“

      „Markus Wegmann, ein alter Schulfreund, wohnt in Hahlen.“, antwortete Kerkenbrock.

      „Na, dann können wir ja unterwegs noch irgenwo 'n Kaffee trinken.“, sagte Keller. „Der in der Kreispolizeistelle entzieht sich irgendwie meiner Erinnerung.“

      10. Evangelisches Gemeindehaus Holzhausen II

      Ein eisiger Wind peitschte einen feintropfigen Regen vor die Haustür des Holzhauser Gemeindehauses. Auf der Haut fühlten sich die Tröpfchen an wie Nadelstiche.

      „Man könnte meinen, bald ist Weihnachten und nicht Ostern.“, dachte Küster Ortwin Busse und schloss schnurstracks auf, um ins Warme und Trockene zu gelangen. Er betrat zunächst den „Sesselsaal“, das war der Sitzungsraum mit bequem gepolsterten Lehnstühlen, an dessen 70er Jahre-Schleiflack-Tischen regelmäßig das Presbyterium der Evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde Holzhausen II-Nordhemmern tagte. Ortwin Busse drehte die Heizung auf und legte Gesangbücher auf den Tisch. Dann betrat er die Küche, um Tee und Kaffee zu kochen, Kaltgetränke und Gebäck bereit zu stellen. Er übte sein Amt gemeinsam mit seiner Frau seit fünfzehn Jahren aus. In den letzten beiden Jahren hatte er sein Engagement verstärkt und seine Gattin weitestgehend entlastet, weil er in Ruhestand gegangen war und eine Aufgabe brauchte. Er übte sein Amt mit Hingabe aus und bereitete seinem Nachfolger ein schweres Los, denn in diesem Umfang konnte sich wirklich nur ein rüstiger Rentner engagieren. Ortwin Busse war ein waschechter Holzhauser; ein bisschen konservativ vielleicht, voller preußischer Tugenden, aber gleichzeitig stolz darauf, mit der Zeit zu gehen und notwendigen Veränderungen nicht im Wege zu stehen. Holzhausen II war ein SPD-Dorf, viele Arbeiterfamilien hatten sich hier in bescheidenen Einfamilienhaus-Siedlungen niedergelassen oder Wohnungen in umgebauten Bauernhöfen gemietet und damit die Landwirte in ihrer Vorherrschaft abgelöst. Nordhemmern dagegen galt nach wie vor als Bauerndorf: eine erzkonservative CDU-Hochburg, wo es noch von Bedeutung war, ob man ein traditioneller, seit Generationen verwurzelter Nordhemmeraner mit ererbtem oder erarbeitetem Eigenheim war oder nur ein nichtswürdiger Zugezogener, der womöglich zu allem Überfluss eine schäbige Mietwohnung nutzte. Dafür waren die Nordhemmeraner bodenständiger und emotional unkomplizierter, ohne jegliches Potential für evangelikale Auswüchse, die eher in Holzhausen hier und da beständige Anhänger fanden. Die Holzhauser nannten die Norhemmeraner „Nordhemmer Bauern-Döllmer“, die Norhemmeraner nannten die Holzhauser ihrerseits „Holzhauser Heringsköppe“.

      Separatismus innerhalb einer Gemeinde und der Pfarrer mittendrin. Die meisten hielten sich maximal sieben Jahre, dann waren sie zwischen den Dörfern aufgerieben. Nur echte Integrationsfiguren hielten länger durch. Und natürlich die echten Ureinwohner. Küster Ortwin Busse hatte gerade alle Knabbereien und Getränke für das Presbyterium aufgebaut, da stand auch schon der Kirchmeister im Sitzungssaal: überpünktlich, blitzsauber und eingehüllt in einen Hauch von Kernseife, Pitralon und Stallgeruch. Karl-Wilhelm Wiebeking war Landwirt und kam aus Nordhemmern. Er war einer der letzten Aufrechten, die trotz der zunehmenden Industrialisierung und des enormen Preisdrucks in der Landwirtschaft Getreide und Futtermittel anbauten, Schweine züchteten und auch größere Mengen von Hühnern hielten. Nur aus der Milchwirtschaft hatte er sich wie die meisten Anderen verabschiedet. Sein Ehrenamt gab Karl-Wilhelm etwas von der Würde zurück, die ihm durch Butterberg und ins Bodenlose fallende Ferkelpreise teilweise abhanden gekommen war. Außerdem hatte seine Familie sich schon immer in der Kirchengemeinde und in der Kommunalpolitik engagiert, eine traditionelle Stellung, die er zu wahren gedachte.

      Nun standen sie sich gegenüber: Das Holzhauser Original und das Nordhemmeraner Urgestein. Sie respektierten und verachteten sich gleichermaßen, eine eigentümliche Mischung, die eher ein Klima von Waffenstillstand, denn ein fruchtbares Miteinander verursachte.

      „Und? Läuft die Heizung wieder?“, erkundigte sich Karl-Wilhelm Wiebeking.

      „Sicher.“, antwortete Ortwin Busse. „Musste ja nur die Steuerung ausgewechselt werden. Habt ihr denn heute 'ne lange Sitzung?“

      „Normalerweise wären wir heute ja ruck zuck damit durch. Aber wo jetzt das mit dem Superintendenten passiert ist, kann das wohl 'n bisschen länger dauern.“

      „Aber was hat unsere Gemeinde denn mit dem Kirchenkreis zu tun?“

      Karl-Wilhelm Wiebeking grinste ein Insider-Grinsen: „Oh, wir sind hier ja auch nicht auf 'ner Insel. Wenn du mal bei