Cristina Fabry

Rache für Dina


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am Tatort gesichert, aber ohne Verdächtige war das wenig hilfreich.

      „Was meinen Sie, Keller“, sagte Sabine Kerkenbrock nachdenklich, „suchen wir eine Täterin? Ein Opfer sexueller Übergriffe?“

      „Möglicherweise“, erwiderte Keller. „Könnte sich aber auch um einen männlichen Rächer handeln. Haben Sie den Bibeltext gelesen, den man bei der Leiche fand?“

      „Nee. Was ist das denn für ein Text?“

      „Eine Geschichte. Eine Nomadenfamilie lagert vor den Toren einer Stadt. Irgendwie gerät eine der Töchter in die Fänge männlicher Stadtbewohner und wird zum Opfer einer Mehrfachvergewaltigung. Die Brüder des Opfers beschließen, sich an der ganzen Stadt zu rächen. Sie heucheln Versöhnungsbereitschaft, fordern, dass einer der Täter ihre Schwester heiratet, um ihre Schande auszulöschen und schlagen den Tätern als Zeichen ihrer Ergebenheit einen Übertritt zu ihrer Religion vor. Die Bewohner der Stadt, froh, so glimpflich davon gekommen zu sein, willigen ein und alle Männer der Stadt lassen sich zum Zeichen des Übertritts beschneiden, also ein Stück der Vorhaut entfernen. Durch den Eingriff stellt sich das übliche Wundfieber ein, das die Männer schwächt; und diesen Moment nutzen die Brüder, um alle männlichen Bewohner der Stadt niederzumetzeln.“

      „Die Schandtat an Dina und das Blutbad zu Sichem.“, fasste Sabine Kerkenbrock fachfraulich zusammen. „Es handelte sich übrigens nicht um irgendeine Nomadenfamilie, sondern um die Familie Jakobs, dessen zwölf Söhne als die Gründer der zwölf Stämme Israels gelten. Nach dieser Aktion musste die Familie panisch flüchten, um nicht ihrerseits Opfer von Blutrache zu werden. Das hatte zur Folge, dass Jakobs hochschwangere Lieblingsfrau Rahel Schaden nahm und in der Folge bei der Geburt ihres zweiten Sohnes Benjamin starb.“

      „Kerkenbrock! Ich wusste gar nicht, dass Sie so bibelfest sind. Sind Sie eine entlaufene Kirchenmaus?“

      Sabine Kerkenbrock grinste. „Falls Sie mein Elternhaus meinen, da ging es ziemlich neutral zu. Aber ich war jahrelang in der kirchlichen Kinder- und Jugendarbeit unterwegs. Die Geschichte habe ich mal auf einer Freizeit kennengelernt, und sie hat mich sehr beeindruckt.“

      Nach dem Mittagessen hatte Sabine Kerkenbrock mit Hilfe des Adressbuches genug Termine gemacht, um eine vernünftige Tour zusammenzustellen, mit der man den frühen Abend ausfüllen konnte. Den Nachmittag nutzte sie gemeinsam mit Keller für telefonische Befragungen. Viele von Volkmanns Freunden und Bekannten schienen sehr wenig über ihn zu wissen. Er wurde als vielbeschäftigt, anspruchsvoller Gesprächspartner und erstaunlich entspannter Urlauber beschrieben. Niemand hatte auch nur die Spur einer Ahnung, wer ihm das grauenvolle Verbrechen angetan haben mochte, warum alle einen beruflichen Zusammenhang in Betracht zogen, denn über dienstliche Angelegenheiten hatte Pfarrer Volkmann im Freundes- und Bekanntenkreis nur sehr wenig preisgegeben.

      Der erste Außentermin war bei der Kantorin der Kirchengemeinde Hahlen-Hartum – die einzige Mitarbeiterin, die mit Norbert Volkmann in dieser Gemeinde zusammengearbeitet hatte und noch immer dort beschäftigt war.

      Lydia Schmalgemeier öffnete die Butzenscheiben-Plastik-Haustür des verbauten und zu Tode verklinkerten Bauernhauses, das sie bewohnte. Sie war etwa Mitte vierzig, die mit Silberfäden durchzogenen, dunklen Haare waren als lockerer Zopf in den Nacken gebunden. Sie trug Jeans und einen weinroten Kaschmir-Pullover – nur Kaufhausqualität, wie Sabine Kerkenbrock sofort erfasste. Ihr Gesicht war schmal und blass, die Augen lagen tief in den Höhlen und waren leicht gerötet. Um ihre schmalen Lippen kräuselten sich feine Fältchen, sie erschien schlicht und bescheiden, war ungeschminkt und wirkte trotz ihrer regelmäßigen Züge, ihres gepflegten Äußeren und ihrer schlanken Silhouette gänzlich reizlos.

      „Noch so 'ne farblose Kirchenmaus“, dachte Keller und sagte: „Ich bin Stefan Keller von der Bielefelder Kripo und das ist meine Kollegin Sabine Kerkenbrock. Sind Sie Frau Schmalgemeier?“

      „Ja, genau.“, antwortete diese. „Kommen Sie doch rein. Möchten Sie einen Kaffee oder etwas anderes zu trinken?“

      „Nein danke.“, antwortete Kerkenbrock, „wir haben gerade in der Kreispolizeistelle Kaffee getrunken und wollen Sie nicht unnötig lange aufhalten. Wir haben nur ein paar Fragen, dann sind wir auch schon wieder weg.“

      „Gut gemacht, Kerkenbrock.“, dachte Keller, „Die Tante macht den Eindruck, als würde sie uns am liebsten sofort ihre ganze Lebensgeschichte erzählen.“

      Lydia Schmalgemeier bat die beiden Polizeikräfte ins Wohnzimmer, wo eine ältere Dame – vermutlich die Mutter oder Schwiegermutter der Kantorin – in einem Ohrensessel saß und strickte.

      „Das sind die Polizisten, die angerufen haben.“, erklärte sie der alten Dame. An Keller und Kerkenbrock gewandt erklärte sie: „Meine Mutter. Sie darf doch dabei sein, oder?“

      „Selbstverständlich.“; antwortete Kerkenbrock.

      „Ach bitte, nehmen Sie doch Platz.“, sagte Lydia Schmalgemeier und die beiden Polizeibeamten setzten sich an den Couchtisch.

      „Frau Schmalgemeier“, begann Keller die Befragung, „können Sie sich erinnern, wann Sie zum letzten Mal Kontakt zu Norbert Volkmann hatten?“

      Lydia Schmalgemeier wirkte etwas verlegen, als sie antwortete: „Das letzte Mal habe ich ihn beim kreiskirchlichen Chor-Konzert in der Marienkirche gesehen, das war im Februar. Mein Kirchenchor wirkte ebenfalls dort mit und Pastor Volkmann hielt das Grußwort. Wir haben uns im Anschluss an das Konzert noch kurz unterhalten.“

      „Worüber?“, fragte Kerkenbrock.

      „Och, so über dies und das.“

      „Geht das auch ein bisschen präziser?“, hakte Keller nach.

      Lydia Schmalgemeier wirkte extrem verunsichert. „Aber das weiß ich doch jetzt nicht mehr. Vielleicht über die ausgewählten Musikstücke, die einzelnen Stimmen, die Beiträge der anderen Chöre, das Wetter, anstehende Veranstaltungen, lauter Belanglosigkeiten.“

      „Ihre Beziehung zu Herrn Volkmann war also eher oberflächlich?“, erkundigte sich Kerkenbrock.

      Wieder wirkte Lydia Schmalgemeier irritiert. Mit einiger Verzögerung antwortete sie: „Was denken Sie denn? Warum sollte ich mit dem Superintendenten befreundet sein?“

      Nun mischte Frau Schmalgemeiers Mutter sich ein: „Als der Herr Pastor Volkmann noch hier in Hartum war, warst du ja nun schon viel mit ihm zugange.“

      „Ach Mama“, winkte Lydia Schmalgemeier ab, „er war der Pastor. Wir hatten alle vierzehn Tage zusammen Gottesdienst und dann noch Hochzeiten und Beerdigungen, Passionsandachten, Adventssingen, Altenfeiern und Konzerte, Gemeindefest und Kirchenchor-Ausflug. Natürlich hatten wir viel zu besprechen. Aber jetzt doch nicht mehr. Was geht mich der Kirchenkreis an ?!“

      „Wie war er denn so als Gemeindepfarrer?“, fragte Sabine Kerkenbrock.

      „Ganz ordentlich.“, antwortete Lydia Schmalgemeier. „Er erledigte seine Arbeit, besprach alles mit einem und brachte nicht alles durcheinander. Man konnte sich auf ihn verlassen und er war immer so verständnisvoll.“

      Bei den letzten Worten brach ihre Stimme und sie begann leise zu weinen.

      „Sein Tod geht Ihnen sehr nahe, nicht wahr?“, fragte Sabine Kerkenbrock einfühlsam.

      Lydia Schmalgemeier nickte stumm und schluchzte ein paar Mal bevor sie antwortete: „Wenn man jahrelang gut zusammengearbeitet hat, weiß man den anderen zu schätzen. Ich finde es einfach nur schrecklich, dass ihn jemand kaltblütig ermordet hat.“

      „Gab auch welche, die ihn nicht so mochten.“, wandte Lydia Schmalgemeiers Mutter ein und strickte weiter vor sich hin.

      „Ach Mama, nu' red' doch nich'. Das ist doch normal, dass nich' alle mit einem können.“

      Lydia Schmalgemeier hatte sich wieder gefasst. Sabine Kerkenbrock hakte noch einmal nach: „Wie haben Sie das gemeint? Wer mochte ihn nicht und warum?“

      Lydia Schmalgemeiers Mutter räusperte sich: „Er hielt sich wohl