bis 43 schätzte er. Die Größe und das kräftige Profil sprachen dafür, dass ein Mann diese Abdrücke hinterlassen hatte. Und sie waren noch sehr frisch, was man an den Profilrändern sehen konnte denn sie waren noch deutlich zu erkennen. Er schloss daraus sogar, dass die Person, die diese Abdrücke hinterlassen hatte, erst kurz zuvor diesen Pfad benutzt haben musste. Er duckte sich unwillkürlich und blickte nach vorn. Irgendwo dort oben musste dieser Mensch sein, aber es war niemand zu sehen. Winner umging die Stelle, um die Fußabdrücke nicht zu verwischen. Warum eigentlich? Da war es wieder, sein Problem: Einmal Bulle, immer Bulle. Schon hatte sein Alltag ihn wieder eingeholt.
Wer mochte an diesem frühen Morgen diesen Trampelpfad vor ihm benutzt haben? Und vor allem warum? Gab es noch jemanden, der sich die Burgruine ansehen wollte?
Während Winner weiter dem Trampelpfad folgte, blickte er ständig zu der Ruine hinauf. Er rechnete jeden Augenblick damit, diesem ominösen Menschen zu begegnen. Aber es geschah nichts. Und während er noch darüber nachgrübelte erreichte er die Ruine. Er ging um den Turm herum, sah hinein, ließ seinen Blick über die Mauern der anderen Gebäude schweifen und stellte fest, dass außer ihm anscheinend niemand hier oben war. Also beschloss er, sich die Reste dieser früheren Anlage näher anzusehen.
Der Turm maß etwa fünf mal fünf Meter im Quadrat und hatte selbst jetzt als Ruine noch eine Höhe von etwa acht Metern. Er war nicht aus brüchigem Lavagestein gebaut, sondern aus behauenen Felsquadern, die mit einer Art Mörtel zusammengehalten wurden. Er war schon sehr standhaft, aber als Wehrturm wäre er nicht geeignet gewesen. Eine Kanonenkugel hätte er nicht aufhalten können. Vielleicht musste er es ja auch gar nicht. Vielleicht war er ja tatsächlich nur als Aussichtsturm genutzt worden.
Spuren an den Innenwänden des Turmes ließen erkennen, dass früher Treppen über mehrere Stockwerke hinauf geführt hatten. Holzreste, die am Boden des Turmes lagen, konnten durchaus noch von der ehemaligen Treppe stammen. Denn auch auf den Mauerresten der eng aneinander gebauten Wohn- oder Wirtschaftsgebäude lagen noch einige morsche Balken, die ehemals wohl die Decken der Räume getragen hatten. Winner lehnte sich an einen alten Türpfosten und überlegte, welchen Zweck diese Anlage einmal gehabt haben mochte.
Als er über sich etwas knistern hörte, sprang er reflexartig zur Seite. Gerade noch rechtzeitig, wie sich im Nachhinein herausstellte. Denn im gleichen Moment krachte einer der Balken von oben herab neben ihm auf den Boden. Er blickte sofort nach oben, sah aber nichts. Er wartete, aber es geschah auch nichts. Kein weiteres Geräusch, keine Bewegung, nur der Wind strich säuselnd durch die Ruine.
In Winners Gehirn arbeitete es. Er stand ganz still und lauschte. Ohne Ursache fällt so ein Balken doch nicht einfach herunter, dachte er. Hatte er den Absturz selbst verursacht, als er sich an den alten Türrahmen gelehnt hatte? Oder hatte ein Unbekannter nachgeholfen? Aber wer und warum? Und wo war der Unbekannte, der seine Spuren im Sand auf dem Trampelpfad hinterlassen hatte? Winner versuchte dieses komische Gefühl abzuschütteln. Er drehte sich abrupt um und ging hinaus, um sich die eigenartigen runden Gebilde anzusehen, die ihm schon bei seinem Eintreffen aufgefallen waren. Bei näherem Hinsehen meinte er zu erkennen, dass es sich um Zisternen handelte, in denen man früher anscheinend Regenwasser aufgefangen hatte.
Ein paar Schritte davon entfernt glitzerte etwas im trockenen Gras. Er trat hinzu und sah mehrere kleine weiße Porzellanscherben am Boden liegen. Er hob einige davon auf und stellte fest, dass es sich offensichtlich um Scherben von früheren Porzellanfiguren handelte, denn er fand sogar ein Teil eines kleinen Kopfes. Waren es Scherben kleiner Nippes-Figuren, wie die Frauen sie früher auf Schränke, in Regale oder auf Fensterbänke stellten oder war es zerbrochenes Kinderspielzeug? Sollten hier tatsächlich einmal Kinder gelebt haben? Und wenn ja, wie lange mochte es her sein? Fragen über Fragen. Winner steckte alle Scherben ein und beschloss, sich beim Inselmuseum zu erkundigen. Für heute war es genug, beschloss er. Aber er würde wiederkommen, das stand fest.
Die Piraten
„Opa Albertos, erzähl uns doch bitte nochmal die Geschichte von den Piraten“ bat Isabel, als sie mit ihm und Diego an einem Nachmittag wieder einmal in der schattigen Laube saß.
„Ja, ja, ihr beiden“, sagte er, „das war eine schlimme Zeit damals, als wir immer wieder überfallen wurden. Sie kamen übers Meer von irgendwoher, aus Spanien oder Portugal oder auch vom afrikanischen Festland, aus Marokko. Sie überfielen uns einfach und plünderten uns aus. Sie nahmen alles mit, was sie gebrauchen konnten, auch unsere Vorräte an Korn, Fleisch und Wein. Wer sich ihnen in den Weg stellte wurde umgebracht oder gefangen genommen. Sie nahmen vor allem die jungen gesunden Männer mit. Und wenn man sie wiederhaben wollte, musste man viel Geld bezahlen, sonst wurden sie als Sklaven in die ganze Welt verkauft. Aber wir Lanzaroteños wussten uns schon immer zu helfen. Wenn unsere Fischer auf dem Meer ein Piratenschiff sahen, dann haben sie uns mit Blinkzeichen gewarnt. Und die Männer auf den Aussichtstürmen haben die Signale weitergegeben. Dann haben sich alle Frauen und Kinder in den Höhlen versteckt, in der Cueva de los Verdes und der Los Jamos del Agua. Die große Höhle ist mehrere Kilometer lang und sehr verzweigt. Nur die Einheimischen kannten sich dort aus. Es gibt heute dort noch Gänge, wo man niemals jemanden finden würde, der sich dort absichtlich versteckt. Die Männer trafen sich dann am Hafen um mit dem Grafen zusammen die Insel zu verteidigen. Manchmal haben sie es geschafft und manchmal haben sie verloren.“
„Opa! Die Geschichte!“, unterbrach Isabel ihn.
„Ach so, ja“, fuhr er fort. „Einmal kamen die Piraten in der Nacht und unsere Fischer konnten uns nicht rechtzeitig warnen. Als wir die Piraten bemerkten, standen sie schon vor dem Haus des Grafen. Sie forderten viel Geld, Gold und Silber. Aber der Graf sagte: Wir haben weder Gold noch Silber. Auf unserer Insel wohnen nur Bauern und Fischer. Der Pirat sagte: Wieso tragen eure Frauen keinen Schmuck, keine Ketten und keine Ringe? – Weil wir so etwas nicht haben! sagte der Graf. - Du lügst!, sagte der Pirat, sicher habt ihr den Schmuck irgendwo versteckt. Ich gebe euch Bedenkzeit bis Sonnenaufgang. Wenn du mir dann kein Geld oder keinen Schmuck geben kannst, dann werde ich deine Tochter mitnehmen. – Oh nein! rief der Graf, ich flehe dich an. Nimm all unseren Wein und mein Schiff kannst du auch haben. Aber lass bitte meine Tochter hier.“
„Opa Albertos, wie hieß die Tochter des Grafen?“, fragte Isabel scheinheilig.
„Ich glaube, sie hieß Isabel, so wie du“, antwortete er.
„War sie hübsch?“
„Natürlich. Genau so hübsch wie du.“
„Erzähl weiter“, bettelte Isabel.
„Als die Sonne aufging hatte der Graf gerade mal eine Handvoll Münzen gesammelt. Das reichte dem Piraten nicht. Er zwang Isabel mit auf sein Schiff zu gehen und segelte davon. Aber der Graf hatte schon in der Nacht heimlich Boten an die befreundeten Grafen der Nachbarinseln geschickt und um Hilfe gebeten. Und mit vollen Segeln verfolgten sie gemeinsam die fliehenden Piraten. Sie kreisten sie ein und der Sohn des Grafen der Nachbarinsel befreite Isabel aus ihrer Gefangenschaft. Dann versenkten sie das Piratenschiff mit Mann und Maus. Nur den Anführer ließen sie am Leben. Sie nahmen ihn mit nach Lanzarote und brachten ihn auf die Burg Castillo Santa Barbara. Er wurde zu lebenslanger Haft verurteilt und gefesselt in den Gefängnisturm geworfen. Isabel aber heiratete ihren Retter und sie lebten viele viele Jahre zusammen und bekamen viele Kinder.“
„Danke, Opa Alberto“, sagte Isabel. Dann lief sie mit Diego zu ihrem Versteck. Es war eine kleine Höhle unten am schwarzen Strand. Sie war gerade groß genug, dass die zwei Kinder nebeneinander darin sitzen konnten. Aber sie war schwer zu erreichen, denn sie lag hinter einem Felsvorsprung, der so weit ins Meer hinausragte, dass die Wellen den Zugang versperrten. Man musste warten, bis die großen Wellen eine Pause machten. Dann musste man innerhalb weniger Sekunden um die Felsen herumlaufen um den Eingang der Höhle zu erreichen.
Als sie in ihrem Versteck saßen fragte Diego: „Glaubst du eigentlich alles, was mein Opa erzählt?“
„Natürlich!“, antwortete Isabel sofort.
„Aber meine Mutter hat