Jeremy Iskandar

Zeit im Regen, Zeit im Wind


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       Jeremy Iskandar

      Zeit im Regen, Zeit im Wind

      Jeremy Iskandar

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      Impressum

      Texte: © Copyright by Jeremy Iskandar

       Umschlag: © Copyright by Sascha Jerusalem

      Verlag: Jeremy Iskandar

      c/o Autorenservices.de

      König-Konrad-Str. 22

      36039 Fulda

      1

      Das Meer glich von der Rooftop-Bar aus gesehen einem schwarzen Spiegel, auf den ein Künstler verschwommene Farbkleckse gezaubert hatte. Zur anderen Seite hin erhoben sich die Wolkenkratzer, stierten kühl und erhaben zum nächtlichen Himmel hinauf. Es war ein atemberaubender Anblick, doch Sophia bekam davon kaum etwas mit. Ihr Blick glitt in die Leere, verhaftete irgendwo in dem dicken Knäuel an unverstandenen Gedanken, das sich in ihrem Kopf angesammelt hatte. Sie hatte von Schlangen geträumt, mehr als einmal. Und von seltsamen Symbolen, die man ihr auf die Zunge geritzt hatte. An diesem Punkt wachte sie stets auf, aber der Traum wiederholte sich, ließ sie nicht mehr in Ruhe. Und das war nur eine von mehreren Begebenheiten, die sich in der letzten Zeit in ihrem Leben zugetragen hatten.

      „Brauchen Sie Feuer?“, hörte die junge Frau plötzlich eine Stimme neben sich. Männlich, Englisch, aber mit einem deutlichen Akzent gefärbt. Sophia wandte träge ihre Aufmerksamkeit in das Hier und Jetzt zurück. Neben ihr an der Bar, an der sie sich ein ruhiges Plätzchen ausgesucht hatte, stand ein stattlicher Asiate, den sie wegen der Verbeugung ihr gegenüber für einen Japaner hielt. In seiner halb ausgetreckten Hand befand sich bereits ein Feuerzeug. Dann erst fiel Sophia die Zigarette ein, die sie sich vor einer Weile zwischen die Lippen gesteckt und dann, ihren wirren Gedanken nachhängend, vergessen hatte. Sie neigte leicht den Kopf, nickte. Wortlos, sein Gesichtsausdruck für sie nicht zu deuten, gab der Mann ihr Feuer.

      Sie war alleine hier, und auch der Japaner schien ohne Begleitung. Als sie an ihm vorbeiblickte, konnte sie niemanden erkennen, der zu ihm zu gehören schien.

      „Darf ich fragen, was Sie lesen?“

      Sophia hatte das Buch noch vor sich auf dem Holztresen der kleinen Bar aufgeschlagen. Sie hatte lesen wollen, aber dann waren ihr beim Hinausblicken auf die Skyline Singapurs wieder die Träume eingefallen, die sie in letzter Zeit einfach nicht losließen.

      Innerlich musste sie seufzen. Heute würde sie weder mit dem einen noch dem anderen weiterkommen, also konnte sie wohl auch auf die Frage des Fremden eingehen. Sie überlegte, sich ihm erst einmal vorzustellen, aber da auch der Mann noch keine Anstalten gemacht hatte, seinen Namen zu nennen, behielt sie ihren gleichfalls für sich.

      „Das wird Sie sicherlich zu Tode langweilen“, gab sie zurück, noch nicht ganz sicher, ob sie überhaupt an einem längeren Gespräch interessiert war. Vielleicht sollte ich einfach aufs Zimmer gehen und schlafen. Morgen sieht bestimmt wieder alles ganz anders aus. Aber bei dem Gedanken an das Hotelbett, so gemütlich es auch war, musste sie direkt wieder daran denken, ob die Träume in dieser Nacht zu ihr zurückkommen würden oder nicht.

      „Ich lasse es auf einen Versuch ankommen“, war seine Antwort.

      „Also gut… es ist ein Buch über Kulturtheorie, genauer gesagt über etwas, das man das ‚kulturelle Gedächtnis‘ nennt. Es war mein Schwerpunkt an der Uni“, erklärte Sophia und hatte tatsächlich das Gefühl, dass der Japaner ernsthaft darüber nachdachte, auch wenn sie sich nach wie vor außer Stande sah, die Maske des Mannes zu durchdringen und damit aus seiner Reaktion zu deuten, was er davon hielt.

      „Was genau ist dieses kulturelle Gedächtnis denn?“, fragte er weiter. Er hatte sich noch immer nicht vorgestellt. Auch gesetzt hatte er sich nicht. Ein wenig starr stand er in gebührendem Abstand neben ihrem Barhocker am Tresen, blickte ihr dabei nicht direkt in die Augen, aber zumindest soweit in ihre Richtung, dass eine gewisse Nähe entstand. Nicht, dass das irgendwie von Bedeutung gewesen wäre, denn Sophia war bereits längst in ihre Gedankenwelt abgetaucht. Über manche Dinge, und die Erinnerungskultur gehörte ganz sicher dazu, konnte sie sich stundenlang auslassen, während sie alles um sich herum vergaß. Sie liebte nichts mehr, als darüber nachzudenken und sich mit anderen darüber auszutauschen. Mehr als einmal hatte man ihr vorgeworfen, sie würde in der Vergangenheit leben und nicht im Hier und Jetzt, aber für sie war das belanglos. Die Gegenwart war nur ein Konstrukt, das sich aus den fragmentierten Erinnerungen zusammensetzte, die sich in ihrem Kopf befanden.

      Sophia nahm einen Schluck von ihrem Cocktail und formte in ihrem Kopf die Gedanken, welche bald darauf zu Worten wurden, ihr Inneres verließen und damit eine Realität konstruierten, die nicht nur sie, sondern auch ihren Gegenüber miteinschloss.

      „Jeder Mensch verfügt mit seinem Gehirn über einen biologischen Gedächtnisspeicher. Darin werden unsere Erinnerungen abgespeichert, die maßgeblich zu unserer Identitätsbildung beitragen, uns zu dem machen, was wir sind. Sie sind allerdings nicht statisch, vielmehr bewegen sie sich wie die Wogen des Meeres, türmen sich zu Wellen auf, die uns hin und wieder mit aller Macht treffen, dann aber auch wieder absolut ruhig und unbemerkt von uns sein können.

      Das kulturelle Gedächtnis ist ebenfalls ein Gedächtnisspeicher für Erinnerungen, aber viel größer. Es ist der Speicher einer ganzen Gesellschaft. Durch Dinge, wie Wiederholung, Tradition, Symbolsysteme, entsteht dort eine Form kultureller Identität. Es manifestiert sich in Texten, Bildern, Dingen. Es überdauert die Lebensspanne eines Menschen. Aber es ist genauso wenig statisch wie unser biologisches Gedächtnis. Auch, wenn es viel formaler ist, viel geformter. Texte, Bilder, Dinge, sie mögen sich zwar nicht ändern, wenn die Zeit vergeht, aber sie werden von jeder neuen Generation neu bewertet, anders interpretiert. In diesem Sinne wogt das Meer der Erinnerung auch im kulturellen Gedächtnis mal mehr und mal weniger.“

      Sophia ließ ihre braune Haarlocke von ihrem Zeigefinger gleiten. Immer, wenn sie über solche Dinge sprach, trat die Angewohnheit auf, dass sie anfing, mit ihrem Haar zu spielen. Sie mochte das eigentlich nicht. Es wirkte zu verspielt in ihren Augen. Dabei drückte es nur die kindliche Freude über eine Sache aus, die sie für bedeutsam und ernst, und damit alles andere als verspielt, hielt. Es gab für sie kein bedeutenderes Thema als das der Erinnerung und wie sie den Menschen bestimmte und formte.

      Ihr Gesprächspartner nickte, aber ob diese Geste nun Zustimmung oder reine Empfangsbestätigung war, ließ sich für Sophia nicht erkennen.

      „Ich habe manchmal das Gefühl“, begann er, „dass das kulturelle Gedächtnis meiner Heimat gewisse Lücken aufweist. Oder, um es anders zu sagen, sind meine Leute wohl Meister der Verdrängung.“

      Sophia schnippte mit dem Zeigefinger, obwohl sie es sogleich bereute. Auch diese Angewohnheit hatte sich bisher hartnäckig einer Abschaltung wiedersetzt.

      „Genauso ist es… also, ich meine, die Verdrängung ist ein wichtiger Aspekt, wenn man sich mit dem Thema der Erinnerung auseinandersetzt. Das Bild, das sie sich von sich selbst machen, ist ein wesentlicher Teil ihrer Wirklichkeit, um mit den Worten von Lèvi-Strauss zu sprechen.“

      Sie lächelte. Seit dem Ende ihres Studiums hatte sie sich nicht mehr so über ein Gespräch gefreut. In den letzten Monaten hatte sie kaum noch mit anderen Menschen gesprochen. Mehr und mehr hatte sie das Gefühl gehabt, überhaupt nicht mehr richtig anwesend zu sein, in ihr Inneres gesogen zu werden, eingenommen von den Gedanken, die sich darin befanden. Die Träume waren sicher ein Teil davon, aber das war noch nicht alles. Da gab es noch etwas anderes. Sie war sich selbst ein wenig fremd geworden. Wenn sie morgens in den Spiegel schaute, dann hatte sie mitunter das Gefühl, es sei nicht sie, die dort in den Spiegel blicke, sondern jemand, der sich außerhalb ihrer selbst befand und dennoch mit ihr verbunden war.

      Sophia hatte schon während ihres Studiums der Kulturwissenschaften in London Phasen durchlebt, die dem gleichkamen, war aber immer zu sehr von ihren Studien eingenommen gewesen, um sich näher damit zu befassen. Dann, mit dem Abschluss in der Tasche, hatte sie sich