Jeremy Iskandar

Zeit im Regen, Zeit im Wind


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besitzt deshalb eine große Verantwortung für sein Handeln, nicht nur in Bezug auf sich selbst, sondern auf die Gruppe im Ganzen. Genauso, wie es der Javaner für seine Familie tut. Eine zu rasche Bewegung, eine Störung des Gefüges, führt zum Verlust der Harmonie, zum Gesichtsverlust. Harmonie ist nichts, das man erst erreichen muss, sie ist bereits allgegenwärtig, muss aber erhalten werden.“

      Willem lächelte breit, nahm seine Tasse und begann zu trinken.

      Die Regenzeit begleitete unsere Gespräche. Um meine Anreisezeit zu verkürzen, hatte Willems Familie mir ein Zimmer in Bogor zur Verfügung gestellt. Das Haus gehörte der Handelsgesellschaft und verfügte über mehrere Gästezimmer für neu angereiste Angestellte und deren Familien aus Europa. Hier traf ich zum ersten Mal auf eine größere Gruppe Europäer, zukünftige Gutsverwalter, Plantagenaufseher, die mit ihren Familien vor kurzem auf Java angekommen waren, um hier ihre Dienstzeit von einigen Jahren zu absolvieren.

      Die Geräusche spielender und lachender Kinder wärmten mir das Herz, während mein Blick durch das Fenster auf die Regenschleier fiel. Sturzbäche ergossen sich aus den Wolken und rissen, sobald sie auf der Erde angekommen waren, all jenes mit sich, das ihnen nicht widerstehen konnte. Doch nicht nur materielles Gut, so schien es mir, wurde davon hinfort gespült, auch meine Gedanken sanken auf diesem Strom dahin und trieben fort, unerreichbar für mich. Flüchtig ist das, was wir in unseren Händen halten.

      Regelmäßig sorgte Willems Diener, Pak Raman, für meine sichere Reise zum Familienanwesen. Pak Raman war bereits ein älterer Mann, doch seine Erscheinung zeugte immer noch von Stärke und Ausdauer. Es war das erste Mal, dass ich längere Gespräche mit einem Diener führte. Für Raman war es ein Glück, im Haushalt der Wiesen dienen zu dürfen, denn dort wiederfuhr ihm eine gute Behandlung. Anders als in seinem Leben zuvor, musste er sich nicht mehr darum sorgen, ob er auch am kommenden Tag genug zu essen haben würde.

      Raman stammte aus Bandung. Die Stadt der Blumen, wie sie genannt wurde, lag ungefähr 100 Kilometer von Bogor entfernt, weiter im Westen der Insel. Die Europäer hatten Bandung zum Zentrum ihrer Plantagenwirtschaft ausgebaut, und wegen ihrer Art-Déco-Architektur, den bunten Flaniermeilen und dem stark europäisch geprägten Ambiente wurde sie auch ‚Paris des Ostens‘ geheißen. Von Paris hatte ich bisher nur Bilder gesehen, die ein betagter Lehrer der Sprachschule mir in seinem Fotoalbum gezeigt hatte. Natürlich hatte Raman, wie die meisten seiner Landsleute, nicht vom glitzernden Prunk Bandungs profitiert, sondern fristete sein Dasein, gemeinsam mit seiner Familie, in einem der Dörfer, die nun von den Plantagen umschlossen waren. Das Leben auf den Feldern war hart. Die schwüle Hitze drückte auf die Lungen, die Sonne brannte tagtäglich stundenlang auf die halbnackten Körper der Plantagenarbeiter, deren Knochen durch das ständige Bücken und die krumme Haltung schnell verschlissen.

      „Mein Bein ist nicht mehr gut. Ich spüre es, vor allem in der Regenzeit. Immer, wenn es regnet, kommt das Pochen zurück, und eine Taubheit breitet sich in meinem Bein aus, tuan. Der dukun aus meinem kampung hat mir eine Salbe gegeben, tuan. Es hilft gegen die Taubheit, aber auf den Plantagen arbeiten kann ich nicht mehr. Ich wollte meiner Familie nicht zur Last fallen, sie kann sich selbst kaum ernähren. Ständig fehlt es an etwas. Deshalb bin ich an die Küste gekommen. In Batavia, dachte ich mir, werde ich schon irgendetwas finden. Zum Glück kann ich Autofahren. Ich habe es damals gelernt, als die Straßen gerade neu ausgebaut wurden. Sie suchten Fahrer für ihre Lastkraftwagen und Transporter und bildeten einige Männer aus den umliegenden Dörfern darin aus. Ich war unter ihnen und lernte es schnell. Als ich das erste Mal einen der großen Wagen sah, fing mein Herz an zu pochen. Niemals zuvor hatte ich einen motorisierten Wagen gesehen. Er schien mir wie ein Ungetüm. Bis heute ist es mir ein Rätsel, wie ein toter Gegenstand, ein kleiner Motor, einen so großen Wagen ziehen kann. Tuan van der Wiesen hat mich eingestellt, weil ich fahren konnte. So wurde ich Hausdiener und Fahrer. Ich versuche, immer etwas von meinem Lohn zu sparen und schicke ihn dann mit der Post nach Bandung, wo meine Familie ihn abholen kann. So trage ich meinen Teil dazu bei, tuan“, erzählte mir Raman bei unserer ersten Fahrt.

      Wie die Tage zuvor, regnete es auch an diesem Nachmittag in Strömen, und dicke Regentropfen prallten einem Crescendo gleich auf das Dach des Autos. Raman fuhr langsam und konzentriert. Ich war zuvor nur wenige Male in einem Auto mitgefahren und dass auch nicht während der Regenzeit. Trotzdem fühlte ich mich in Pak Ramans Anwesenheit sicher und geborgen. Raman war ein einfacher Mann, der sich niemals Gedanken über die Tiefe des Gamelan oder den Aufbau des Kosmos gemacht hatte, und doch kannte er seinen Platz, fügte sich seinem Schicksal und sprach von seinem Leben nicht in Worten der Scham oder Verzweiflung, sondern der Dankbarkeit. Während der Wagen über die verregnete Straße rumpelte, Sturzbäche zu unseren Seiten, lauschte ich im Polster zurückgelehnt Pak Ramans ruhiger Stimme und ließ meine Gedanken vom Regen davontragen.

      Mehrmals in der Woche war ich Gast in Willems Haus. Unsere Begegnungen liefen stets ähnlich ab. Willem saß zumeist am Klavier oder seltener auf der Veranda. Die Gewitter schienen ihn zu faszinieren. Wenn die gleißenden Blitze, einem unendlich komplizierten Muster gleich, über den düsteren Himmel zogen und die Macht der Berge herausforderten, saß er gedankenverloren auf der Veranda und starrte in Richtung des grauen Horizonts. Es waren jene Momente, in denen er mich bat, ihm etwas über die javanische Kosmologie zu erzählen, die Zyklen der Zeit, den Ort, den jeder Javaner zu erreichen suchte.

      „Dieser Ort ist ein Ort der Ambivalenz. Gleichzeitig ist er aber bereits an einem Punkt, der jenseits jeder Ambivalenz liegt, denn alle Widersprüche lösen sich in ihm auf. Er ist die absolute Konzentration aller kosmischen Kraft. Im wayang kulit ist es die Figur des semar, die an der höchst möglichen Nähe zu diesem Ort steht. Semar ist einerseits Lehrer der heldenhaften pandawa, andererseits ist er ihr Diener. König und Diener in ein und derselben Person. Die Konsubstantion von Gott und Mensch. In den alten Märchen ist es die Meditation, die geringste mögliche Bewegung, die absolute Verharrung in einem bewegungslosen Zustand, die letztendlich zu diesem Ort führt. Und wenn die pandawa, versunken in ihre Meditation, alle kosmische Energie auf sich konzentrieren und an den Punkt gelangen, der alle Widersprüche unseres Universums vereint, dann bebt die Erde und die Vulkane erwachen, spucken ihr gleißendes Feuer in die Welt. Jeder Javaner strebt nach rasa, dem Feingefühl für seinen Platz in der Welt. Es ist uns nicht gegeben, diesen Platz zu verlassen. Es ist wie absolute Finsternis, die uns umgibt, und wir können nur kleine Schritte machen, um unseren Weg zu gehen, aber am besten verharren wir dort, denn wir könnten die kunstvollen Schätze zerstören, die in der Dunkelheit um uns herum aufgebaut sind und damit die Ordnung durcheinander bringen. Es ist wie im Gamelan. Jeder Musiker muss das rasa in sich tragen, das Feingefühl, damit er seinen Platz im Gefüge kennt, weiß, in welchem Zyklus er sich befindet, wohin er seine Sinne zu richten hat.“

      Nachdem ich geendet hatte, erfüllte unser Schweigen die Dunkelheit, während das Grollen aus den Bergen und das Rauschen der Nacht Welten entfernt schien. Ich hörte, wie Willem seine Teetasse auf den hölzernen Beistelltisch abstellte und seufzte. Es war ein seltsamer Laut, der Sprache vorhergehend und doch stärker im Ausdruck als es tausend Worte hätten sein können. Ohne, dass Willem mich dazu aufgefordert hätte, sprach ich weiter, verlor mich in den Gedanken, die in mir schlummerten, seit ich ein Kind gewesen bin.

      „Die Zyklen sind Sinnbild der kosmischen Ordnung, an die wir glauben. Der Hof des Kraton bewahrt diese Erinnerungen. Der gong ageng, der große und ehrwürdigste Gong im Gamelan, webt den ausgedehntesten dieser Zyklen, dem sich alle anderen unterordnen, der alle anderen umschließt, mit ihnen koinzidiert. Die Musik hat keinen Anfang und kein Ende, denn sie ist ewig, zirkulär.“

      „Und doch wissen wir selbst nicht recht, wo wir stehen…“, war Willems Stimme in der Dunkelheit zu vernehmen. Seine Worte rissen mich in die bodenlose Tiefe, in den Abgrund meiner Selbstzweifel. Wie viele Male hatte ich über die Zyklen nachgedacht, über die kosmische Ordnung der javanischen Weltanschauung gegrübelt, und doch nicht herausfinden können, wo ich selbst, dieser unendlich kleine Teil des großen Ganzen, mich befand.

      2

      In dieser Nacht hatte sie wieder einen Traum. Ihr Körper wälzte sich hin und her, wirbelte die dünne Bettdecke auf, die ihn umhüllte.

      Sie kamen zu ihr, die schlangenhaften Gestalten. Sophia wusste, dass man sie Naga