Jeremy Iskandar

Zeit im Regen, Zeit im Wind


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hatte sie gewusst. Mit dem Tod ihrer Mutter war ihr das Tagebuch ihrer Großmutter vererbt worden. Es war das Einzige, das ihre Mutter ihr vermacht hatte. Ihre Beziehung war nie besonders gut gewesen. Spätestens seit ihrer Jugend war Sophia davon überzeugt gewesen, dass ihre Mutter sie hasste, dass ihre bloße Existenz in ihrer Mutter Leid verursachte. Doch weshalb, das hatte sie niemals erfahren. Niemals hatte sie begriffen, wie das möglich war, warum ihre eigene Mutter Distanz zu ihr wahrte, eine Aura der Kühle und Unnahbarkeit gegenüber ihrer eigenen Tochter errichtet hatte. Im Studium hatte sie dann schließlich kaum noch Kontakt zu ihrer Mutter gehabt, hatte alleine gelebt und sich, wo immer es möglich war, von ihr ferngehalten. Als sie plötzlich im letzten Jahr verstorben war, gerade zu jener Zeit, als Sophia ihrem Abschluss nahegewesen war, war auch die geringe Hoffnung, dass es jemals zu einem klärenden Gespräch zwischen Mutter und Tochter kommen könnte, dahingeschieden. Zur Beerdigung ihrer Mutter war sie nicht gegangen.

      Und nun saß sie hier. Alleine, und in einem fremden Land, das Tagebuch ihrer Großmutter in ihrem Gepäck.

      „Glauben Sie an die absolute Erinnerung?“, fragte er sie plötzlich, nachdem sie eine Zeitlang ihren eigenen Gedanken hinterhergehangen hatte.

      Mittlerweile hatte er auch ein Glas vor sich stehen. Im dämmrigen Licht der Bar schimmerte der eingeschenkte Whisky wie flüssiges Gold. Sophia drückte ihre Zigarette aus und nippte an ihrem Cocktail.

      „Die absolute Erinnerung?“ Sie schüttelte den Kopf.

      „Nein, daran glaube ich nicht. Selbst, wenn es sie gäbe, wie sollten wir jemals Zugang zu ihr erlangen? Alles, was wir erleben, erreicht uns nur durch unsere Sinne. Wir können die Welt gar nicht anders wahrnehmen, als durch unsere eigens für uns gefärbte Brille.“

      „Aber die Erinnerungen sind in uns selbst. Sie kommen nicht von außen“, warf der Mann ein. Er besaß tatsächlich einen scharfen Verstand, musste Sophia zugestehen, was das Gespräch für sie umso interessanter machte.

      „Da ist was dran“, pflichtete sie ihm bei.

      „Aber wir interpretieren unsere Erinnerungen immer wieder neu. Wie erinnern niemals absolut ein und dasselbe.“

      Der Mann hob sein Whiskyglas, trank daraus. Er trank in kleinen, gemäßigten Schlucken.

      „Und wie sieht es mit einem eidetischen Gedächtnis aus?“, fragte er weiter.

      „Das ist umstritten, aber meiner Ansicht nach ist das auch nicht der Punkt. Die Möglichkeit, sich etwas exakt so zu merken, wie es ist, obwohl ich auch darin schon eine Art von Widerspruch sehe, schaltet nicht den Fakt aus, dass wir selbst uns verändern. Wir verändern uns durch die Erfahrungen, die wir machen. Sobald Zeit vergeht, findet auch eine Neubewertung unserer Erinnerungen statt.“

      Sie nahm einen weiteren Schluck ihres Cocktails, behielt ihre Finger an der kühlen Oberfläche des Glases, um nicht wieder in Versuchung zu kommen, mit einer ihrer Haarsträhnen herumzuspielen.

      „Und deshalb meine ich, dass die Frage nicht lauten muss, ob es so etwas wie eine absolute Erinnerung gibt, sondern, ob wir überhaupt jemals Zugang zu ihr erlangen könnten. Wir befinden uns hier vor demselben Dilemma, ob es uns möglich ist, die objektive Wirklichkeit, sofern sie denn existiert, wahrzunehmen. Die Dinge also so zu erkennen, wie sie wahrhaftig sind. Wie aber, wenn alles durch den Filter unserer Sinne verläuft?“

      „Und die Zeit?“, fragte er.

      „Die Zeit?“

      „Wenn man den Faktor Zeit ausschalten würde? Zumindest die lineare Vorstellung von Zeit, die in unserer Zeit vorherrscht.“

      Sophia legte ihr Kinn in die aufgestützte, offene Handfläche. Ein interessanter Gedankengang.

      Sie lächelte verschmitzt, fast kindlich. „Ja… Ja, warum nicht? Das könnte vielleicht funktionieren“, gab sie nach einem kurzen Moment des Nachdenkens zurück.

      Sie griff nach der Schachtel Zigaretten, die sie neben ihr Buch gelegt hatte.

      „Brauchen Sie wieder Feuer?“

      „Diesmal habe ich selbst eins zur Hand“, lächelte sie, hielt das Feuerzeug hoch.

      „Es sei denn, Sie haben dieses Gentleman-Gen und sind unfähig, es abzustellen“, scherzte sie, aber der Japaner ging nicht darauf ein.

      Ein wenig steif, der Gute, dachte sie, während sie sich ihre Zigarette anzündete. Andererseits wusste sie auch noch immer nicht, worauf das Ganze hier eigentlich hinauslaufen sollte. Für eine interessante, wenn auch etwas langatmige Anmache, hielt sie es mittlerweile nicht mehr. Der Mann machte keine Anstalten, das Gespräch vom Thema der Erinnerung zu etwas Ungezwungenem zu bewegen. Auch seine Körpersprache, die in Sophias Augen einfach nichts auszudrücken schien, oder die Art und Weise, wie er sie anblickte, weder direkt ihren Blickkontakt suchend noch irgendwie verstohlen ihre weiblichen Attribute erforschend, ließen darauf schließen, dass er an mehr interessiert war, als an einem reinen Gedankenaustausch. Warum auch nicht. Sie war ohnehin zu müde dafür, obwohl sie nichts gegen einen spannenden Flirt einzuwenden hatte.

      „Sie sind hier auch fremd, oder?“, versuchte sie dann aber doch, das Gespräch etwas mehr auf die Person dieses mysteriösen Fremden zu lenken.

      Er hielt das Whiskyglas in seiner Hand, ließ seinen Inhalt kreisen. „Ja, ich bin nur auf der Durchreise.“

      „Sind Sie Gast im Hotel oder besuchen Sie nur die Bar?“

      „Ich bin Gast hier. Sie auch, nehme ich an.“

      Sie nickte. „Ja, aber bald reise ich ab.“

      „Ich auch.“

      Ok, das führt zu nichts, dachte Sophia und musste innerlich sogar etwas über sich lachen. Plötzlich überkam sie wieder das Gefühl der Müdigkeit, das durch das plötzliche Erscheinen des Fremden für eine Weile von ihr gewichen war. Wie eine schwere Decke glitt es über sie, hüllte sie ein. Sie hatte schon länger nicht mehr friedlich geschlafen. Hin und wieder, und in letzter Zeit immer häufiger, meldete sich deshalb ihr Körper mit erhobenem Zeigefinger zu Wort. Zeit, das hier zu beenden. Sie zog ein letztes Mal an ihrer Zigarette und drückte sie dann aus.

      „Wenn Sie mich bitte entschuldigen, aber ich werde jetzt auf mein Zimmer gehen. Ich bin müde. In letzter Zeit schlafe ich nicht so gut.“

      Der namenlose Japaner nickte, machte ihr Platz. „Ich hoffe, Sie können in dieser Nacht besser schlafen.“

      Ja, das hoffe ich auch, dachte sie, sagte es aber nicht. Sie lächelte nichtssagend, nickte dem Mann noch einmal zu, packte ihre Sachen in ihre Tasche und verließ die Bar.

      I

      Willem van der Wiesen war ein gutherziger und aufrechter Mann, der über einen stark ausgeprägten Gerechtigkeitssinn verfügte und den ich niemals in Rage erlebte. Er erhob niemals die Stimme, und ich kann mich auch nicht daran erinnern, dass er jemals die Fassung verloren hätte, die er stets in meiner und der Gegenwart anderer zu wahren wusste. In dieser Hinsicht kam er dem javanischen Ideal, das mir durch das Leben am Hofe vermittelt worden war, angenehm nahe.

      Als ich ihn kennenlernte stand die Regenzeit bereits kurz vor ihrem Einzug. Eine graue Wolkenwand bedeckte den Horizont, türmte sich am Himmelsgewölbe auf und ließ den Regen erahnen, der bald die Erde tränken würde. Es war das Jahr 1938, und das Hereinbrechen des Monsuns hatte mich wie so oft in eine nachdenkliche, melancholische Stimmung versetzt. Gefühle zu zeigen, Emotionen zuzulassen, widerspricht dem javanischen Ideal, doch kann ich nicht leugnen, dass dieser Wesenszug mich wohl auf ewig begleiten wird.

      Geboren wurde ich in Yogyakarta, der alten Sultansstadt im Herzen der Insel Java, im Jahre 1916. Als Sohn eines Hofmusikers wuchs ich am Kraton, dem kulturellen und politischen Mittelpunkt der Insel, auf und fügte mich in die jahrhundertealten Strukturen und ihr komplexes Netz aus Traditionen. Doch Java gehörte nicht mehr allein den Einheimischen, sondern war Teil einer gewaltigen Handelsmacht, die sich die Europäer in Südostasien errichtet hatten. Nusantara, der alte, erhabene Archipel, hatte sein Antlitz mit der Ankunft der Europäer