Jeremy Iskandar

Zeit im Regen, Zeit im Wind


Скачать книгу

Sachte schüttelte ich den Kopf.

      „Ich kenne es nur von Bildern, Fotografien, und aus Erzählungen.“

      „Und dennoch vermag er es, analytisch wie ein Europäer zu denken“, warf Willem in das Gespräch ein und brachte Sophia zum Lachen.

      „Die Welt ist doch ein verrückter Ort.“

      „Lasst uns etwas trinken, meine Freunde. Ich lade euch ein.“ Willems Angebot kam von Herzen. Es wäre nicht höflich gewesen, es abzulehnen, obwohl ich den Alkohol mied.

      Willem hob sein Glas zu einem Toast und leerte es dann in einem Zuge.

      „Willem, übertreib es nicht“, neckte Sophia und fuhr ihm mit den Fingern über die Wange.

      „Große Fragen erfordern einen großen Einsatz“, gab er zurück, lachte dann aber.

      „Immer zu Scherzen aufgelegt, der gute Willem.“

      „Wisst ihr, ich glaube, wir leben in einer gänzlich neuen Zeit, die bald ihr wahres Gesicht zeigen wird. Die Zukunft gehört nicht den Waffen und Kriegen, nicht den Soldaten und Kämpfern, sondern denen, die die neue Kultur heranwachsen lassen, sie verstehen, sie in sich aufnehmen.“

      „Willem, welche Kultur ist es, die du siehst?“, fragte ich, während ich an die allumfassende Form dachte, die mich seit langer Zeit beschäftigte. Willem gab dem chinesischen Kellner einen Wink und orderte einen weiteren Drink.

      „Mein Freund, es ist eine allumfassende Kultur, ohne Grenzen. Denn wir alle kommen uns immer näher, die einzelnen Völker vermischen sich, gehen ineinander auf.“

      „Und wenn die Völker, ihre Identität zu erhalten versuchen?“

      „Oh, das werden sie. Natürlich. Und es wird keinen direkten Übergang geben. Und doch werden sie sehen, dass Identität nicht verloren geht, sondern sich neu bildet, neu heranwächst. Eine größere, ungleich dichtere Identität, die alles umfasst, was die menschliche Seele zu bieten hat.“

      Willem verstand es geschickt, zwischen mir und Sophia zu vermitteln, das Gespräch langsam von den Barrieren unserer verschiedenen Verhaltensmuster zu befreien. Als sie ein Etui öffnete, das vor ihr auf dem Holz des Tresens lag, kam ich nicht umhin, ihre Finger zu betrachten. Sie waren von ästhetischer Feinheit, zerbrechlich wie die Lederpuppen des wayang. Sophia öffnete das Etui und entnahm dem kleinen Kästchen eine Zigarette, die sie sich von Willem mit einem kunstvoll verzierten Feuerzeug anzünden ließ. Als sie den Rauch zwischen ihren Lippen hervorstieß, musste ich wieder an das wayang kulit denken, die beiden Welten, die es verband. Unsere Blicke trafen sich durch den treibenden Rauch hinweg. Zwei Welten, getrennt durch einen Schirm. Im wayang versinnbildlichte der Schirm die Grenze zwischen der Ebene der Menschen, die eigentlich nur der Schatten der wahren Welt war, und dem alam gaib, dem Schattenreich, das als das wahre Dasein betrachtet wurde. Es war die Heimat der mächtigen Geister, Dämonen und edler Gestalten, wie die heldenhaften pandawa und ihre Diener. War es möglich, den Schirm zu durchqueren, auf die andere Seite zu gelangen? Und wenn es möglich war, wer wäre ich, wenn ich die andere Seite betreten hätte? Noch länger ich selbst, oder würde ich wie ein Fremder auf mich selbst herabblicken, auf mein Wesen, das auf der anderen Seite verblieben war? Und würde ich jemals zurückfinden? Zurück wollen?

      3

      Sophia hatte einen Platz in einer Kabine mit sechs Schlafplätzen. Sie legte ihre Sachen nieder, setzte sich, ließ die angespannten Schultern kreisen. Von überall her waren Geräusche zu hören. Sie hörte die fremden Stimmen einer fremden Sprache von draußen auf dem Gang, hörte die Geräusche der Schiffsmotoren mit ihrem gleichmäßigen Brummen und die knisternde Radiostimme verschiedener Ansagen durch das Lautsprechersystem des Schiffes. Sie fühlte sich einsam, fremd. Gleichzeitig war sie von einer innigen Abenteuerlust beseelt. Ambivalente Züge, die es schon immer in ihrem Wesen gegeben hatte.

      Ein wenig unsicher schaute sie zu den anderen Schlafplätzen, stellte Vermutungen darüber an, welche Menschen diese Plätze wohl gebucht hatten und ob es ihr möglich sein würde, mit ihnen in diesem Raum zu schlafen. Sophia war nicht unbedingt menschenscheu, und hatte man einmal ihr Vertrauen gewonnen, so bemühte sie sich stets, loyal und als guter Freund zu handeln, doch im Leben an sich war sie eher eine Einzelgängerin, rastlos, immer unterwegs, aber meist doch alleine.

      Sie nahm ihre Sonnenbrille ab, steckte sie sich ins Haar und nahm das Wörterbuch, das sie sich am Hafen gekauft hatte, aus ihrer Handtasche, um darin zu lesen. In Singapur war sie ganz gut mit ihrem Englisch zurechtgekommen, aber es konnte wohl nicht schaden, wenn sie zumindest die gebräuchlichen Redewendungen des Indonesischen kannte, um sich den Menschen verständlich zu machen. Weit kam sie in ihrer Lektüre allerdings nicht. Schon nach wenigen Seiten wurden ihre Augen schwer. Ihre Schultern sackten nach unten, das Buch glitt aus ihren Händen und der Schlaf legte sich über sie wie ein bleierner Käfig.

      Als sie erwachte, lag der Raum in Zwielicht getaucht. Sie schreckte hoch. Im dämmrigen Licht der Kabine hockte der Mann vor ihr. Es war der Japaner, ihr Gesprächspartner von gestern Nacht. Sie blinzelte, aber er blieb.

      „Was?“, begann sie, brach ab. Ihr Kopf fühlte sich schwer an. Sie hatte zu lange im Sitzen geschlafen. Ihr Nacken schmerzte und ihr Körper fühlte sich an, als habe man ihn achtlos in die Ecke geworfen.

      „Was machen Sie hier?“

      „Ich habe Sie beobachtet“, antwortete der Mann ohne erkennbare Mimik.

      „Wie… wie bitte?“ Sie versuchte, aufzustehen, aber ihre Beine gehorchten ihr nicht.

      „Was…. Was wollen Sie von mir? Warum haben Sie mich beobachtet?“

      Sie war total durcheinander, wusste nicht, ob sie sich freuen sollte, ihren Gesprächspartner wiederzusehen, oder vielmehr fürchten, weil er sie so anstarrte. Sie spürte, wie ihre Wangen heiß wurden und erröteten.

      „Bitte, schauen Sie doch nicht so. Ich mag das nicht“, stammelte sie.

      „Verzeihen Sie“, antwortete er und senkte den Blick, erhob sich.

      „Ich wollte Sie nicht erschrecken. Ich habe einen Schlafplatz in dieser Kabine gebucht, und da habe ich Sie hier gesehen. Sie waren eingeschlafen und es sah so aus, als könnten Sie den Schlaf gut gebrauchen. Ich wollte Sie nicht wecken, aber...“. An dieser Stelle brach er ab. Eine Erklärung, warum er sie beobachtete hatte, lieferte er nicht.

      Sie blickte sich um. Draußen war es bereits Nacht. Sie mussten schon seit Stunden unterwegs sein. Hatte sie geträumt? Nein, vermutlich nicht.

      Die anderen Schlafplätze waren leer. Auch kein Gepäck lag dort.

      „Wo sind die anderen?“, fragte sie.

      „Die anderen Schlafplätze sind frei.“

      „Aber vorhin war das Schiff voller Menschen.“

      Er nickte. „Das ist richtig. Aber ich habe alle Schlafplätze gemietet. Alle, bis auf Ihren.“

      Sophia spürte, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte. Hatte er sie verfolgt. War er so eine Art Stalker? Aber warum? Gestern an der Bar hatte er nicht im Mindestens versucht, sie anzumachen. Was war das für ein seltsames Spiel?

      „Warum? Ich meine, warum haben Sie das gemacht?“

      „Wir müssen reden, und es ist besser, wenn wir dabei alleine sind.“

      Ihr Blick musste ihm nicht entgangen sein. Sie hielt ihre Tasche, die noch immer auf ihrem Schoß lag, fest umgriffen.

      „Es tut mir Leid. Ich wollte Ihnen keinen Angst machen.“ Er kam näher, hielt ihr seine Hand hin, neigte seinen Körper dazu etwas.

      „Mein Name ist Hayato. Verzeihen Sie bitte, dass ich mich Ihnen bisher nicht vorgestellt habe.“

      Unsicher streckte sie ihre Hand aus, berührte die seine. Seine Hand fühlte sich stark an, aber es war eine Form unaufdringlicher Kraft, die nicht herrschen wollte, sondern im Verborgenen lag.

      „Sophia.“

      „Die