Paul Tobias Dahlmann

Der fahle Ritter


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falsch?“ Sejarl stellte diese Frage rein sachlich. Im Orden wurden alle Antworten als mögliche Hilfen verstanden.

      „Nein, das tue ich nicht“, beeilte sich Ihlsteg trotzdem, zu erklären, „Jedes Ziel hat seine Berechtigung. Du musst eben nur damit rechnen, dass du bei diesem speziellen vielleicht nie in deinem Leben eine Antwort finden wirst.“

      „Auf diese Gefahr muss ich mich einlassen.“ Sejarl nickte in sich hinein. „Und ich werde es auch tun. Ich denke, ich werde morgen aufbrechen, um in die Welt hinauszuziehen, und dort die Antworten zu suchen.“

      „So früh schon?“ Ihlsteg hob eine Augenbraue. „Erst lässt du mich drei Wochen lang warten und dann erzählst du mir, dass wir stehenden Fußes aufbrechen müssten.“ Diese Worte waren eine Stichelei, wie sie für ihn üblich war.

      „Fast jedenfalls. Zugegeben.“ Sejarl übernahm das schwache Lächeln seines Gesprächspartners. „Ich kann mich allerdings auch erinnern, dass du die ganze Zeit gedrängelt hattest.“

      „Ich? Ich hätte schließlich auch alleine aufbrechen können! Ich habe doch nur aus reiner Höflichkeit noch auf dich gewartet, und zwar mit der Geduld einer Katze vor einem Mauseloch. Du hingegen wurdest die ganze Zeit immer hektischer. Du hast die ganze Zeit immer angestrengter überlegt, weil du dein Ziel auf den Tod nicht herausfinden konntest.“

      Ihlsteg geriet über seine eigenen Worte in ein leises Kichern hinein, in das Sejarl schnell mit einfiel.

      „Was ist nun?“, fragte Sejarl, nach dem sie geendet hatten, „Gehen wir nun zum Abtkanzler und fragen ihn?“

      „Ja, natürlich. Komm!“

      Weiterhin plaudernd gingen sie los. Indem sie einigen Kämpfenden weiträumig auswichen, überquerten sie den Hof. Sie betraten eines der größeren Gebäude der Festung und liefen eine Zeit lang durch röhrenartige, graue Stahlkorridore. Sie hatten weit zu gehen, denn ihr Weg führte sie durch ein ganzes Gebäude des großen Burgkomplexes vollständig hindurch, ehe sie in jenem anderen ankamen, zu dem hin sie gewollt hatten.

      Sie erreichten eine kleine Halle, in der zwei Ehrenwachen ihren Dienst versahen. An ihrem Ende war ein schmales Portal. Sejarl nickte den Ehrenwachen zu, und diese nickten zurück. Mit einem leichten Quietschen öffnete sich ein messingbeschlagener Flügel der Tür in den Raum dahinter.

      Dieser war für sich genommen wieder ein länglicher Saal, der als Amtszimmer eingerichtet war. An seiner hinteren Seite blickten breite Burgfenster auf die Landschaft unter ihnen hinaus, auf Felder und Wälder. Die Läden standen offen. Armbreite Fenstersimse zeugten von den vielen Lagen von Eisenplatten, aus denen die Außenwände zusammengeschweißt war.

      Innen war der Raum wohnlich eingerichtet. Teppiche, verziert mit Szenen des ritterlichen Lebens, bedeckten den Boden und die Wände. Bücherständer und Zierwaffen teilten sich den Platz an den Seiten. Rechterhand war ein überladener Skriptorenplatz eingerichtet. Der dort sitzende Schreiber sah beim Eintreten von Sejarl und Ihlsteg stumm auf, und wandte seinen Blick dann fragend seinem Herren zu.

      Dieser wiederum saß an einem breiten, massiven Schreibtisch am Ende des Raumes, wo er Papierbögen studierte. Er war ein alter, kahlköpfiger Mann mit einer hellvioletten, silberdurchwirkten Robe. Er war der Abtkanzler.

      „Ihr habt euch also entschlossen, aufzubrechen“, stellte er nach einem kurzen Augenblick des Schweigens fest, in dem er die Neuankömmlinge ausdruckslos gemustert hatte. „Und du hast dein Ziel jetzt also auch gefunden?“, setzte er, an Sejarl gewandt, hinzu.

      „Ja, Vater.“

      „Nun, wenn ich mich recht erinnere, dann hattet ihr schon seit Längerem vorgehabt, eure Reisen gemeinsam anzutreten.“ Er zuckte mit den Schultern. „So sei es. Ihr werdet die Verpflegung und die Ausrüstung erhalten, die sie euch zusteht. Wisst ihr schon, wohin ihr euch wenden wollt?“

      „Nein, Vater“, erklärte Ihlsteg, „aber ich dachte mir, dass es für den Anfang vielleicht nicht schlecht für uns wäre, dichter bewohnte Gegenden aufzusuchen. Dort können wir dann Leute treffen, die uns Antworten geben und weiterhelfen können.“

      „Ist das auch deine Meinung, Sejarl?“

      „Nicht ganz, Vater. Ich glaube, die Meinung vieler Anderer ist für die Suche meines Bruders wichtiger als für meine. Andererseits sehe ich aber auch nicht, was sie schaden sollte. Daher werde ich mit ihm gehen, zumindest für eine Weile.“

      „Ach. Und was ist jetzt deine Suche?“, fragte er.

      Sejarl klärte den Abtkanzler über seine Ziele auf und erntete ein Kopfschütteln dafür.

      „Abenteuer liegen auf der Straße, Sejarl“, meinte der alte Ritter, um dann nach einer Pause hinzuzufügen: „Für die Sache mit dem Sinn des Seins kann ich dir nur viel Glück wünschen.“

      Die drei unterhielten sich eine Weile. Der alte Ritter hatte manchen guten Ratschlag für seine beiden jüngeren Ordensbrüder. Schließlich meinte er zu ihnen: „Ihr habt doch sicherlich schon vom diesem großen Land im Osten gehört. Das Königreich Kom, heißt es.“

      „Ja, natürlich“, erwiderte Ihlsteg, „Dort lebt ein kleinwüchsiges Menschenvolk, das man die Zwerge nennt.“

      „Eben das meine ich. Dort wohnen mehr Leute als an den allermeisten anderen Orten. Wenn ihr den Austausch sucht, seid ihr dort sicherlich richtig.“

      Die jungen Ritter dankten höflich für den Hinweis. Sie beschlossen, sich an ihn zu halten, und zunächst zu jenem Land zu reisen. Es erschien ihnen so gut wie manches andere.

      Das Gespräch dauerte noch ein wenig weiter an. Schließlich schloss es der Abtkanzler, der zwischendurch aufgestanden war, mit den Worten: „So muss ich euch denn in dieser Stunde entlassen und damit seid ihr von nun an keine Hudruger mehr. Ihr heißt nun Ihlsteg und Sejarl Weglenner. Kehrt mit Wissen heim, oder lasst zumindest das Wissen zu euren Freunden gelangen.“

      Aufmunternd klopfte er ihnen beiden auf die Schultern. Dies war das Zeichen dafür, dass eine neue Zeit in ihren Leben begonnen hatte, wie von ihrer Ordensregel vorgeschrieben. Sie waren aus den sicheren Wänden der Burg entlassen und begaben sich auf eine Reise ins Unbekannte, deren Ziel sie selbst gewählt hatten. Es war für sie lediglich noch nicht greifbar. Dass sie dabei Abenteuer finden würden, glaubten sie beide. Darum hatten sie ihren neuen Namen erhalten, wie es von Alters her Brauch war.

      Dankbar verneigten sich die beiden Ritter und verließen den Raum. Den Rest des Tages brachten sie damit zu, sich von Freunden zu verabschieden, und ihre Habseligkeiten zusammenzupacken.

      Die Reise stand an, und die letzten Vorbereitungen mussten getroffen werden. Es wurde Abend, und man begab sich zu Tisch. Unter fröhlichen Gesprächen nahmen Sejarl und Ihlsteg noch ein letztes, stark verlängertes Abendessen in der Heimat zu sich. Einige Bekannte berichteten ihnen von ihren eigenen Abenteuern und von fernen Ländern.

      In fröhlicher Runde wurde so viele Hinweise gegeben, sinnvolle ebenso wie scherzhafte. Dann gingen sie unter aufmunternden Wünschen zu Bett.

      Obwohl er damit gerechnet hatte, dass seine vorauseilenden Gedanken ihn gar nicht erst einschlafen lassen würden, erwachte Sejarl am nächsten Morgen erfrischt und gut ausgeruht. Er erhob sich von der Pritsche in seiner engen Klause, blinzelte, und blickte auf ein Stück blauen Himmels, welches sich hinter seiner kleinen Fensteröffnung abzeichnete.

      Er schüttelte den Kopf. War da nicht etwas gewesen? Ein Traum, den er kurz vor dem Aufwachen gehabt hatte?

      Ja. Er erinnerte sich. Er hatte geträumt, wie er ausgezogen war. Er war in ein fremdes Land gekommen, hatte dort ein Abenteuer erlebt, einen Feind besiegt und großen Lohn erhalten. Dann war er weitergezogen und hatte für ganz ähnliche Taten in einem anderen Land Schimpf und Schande auf sich geladen.

       Leider konnte er sich nicht mehr daran erinnern, was für Taten es gewesen waren. Als nächstes war da ein kleines Kind am Wegesrand gewesen, welches ihn ausgelacht hatte, und dann ein zweites, das weinte. Warum es das tat, wusste er nicht. Noch während er diese Szene beobachtet hatte,