Karl Michael Görlitz

Sandburgen & Luftschlösser - Band 1


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es aufschreiben, aber nur für dich, um dir deine Situation klar zu machen. Für eine Veröffentlichung taugt es nicht.«

      Diesen Spruch kenne ich. So was sagt man in der Psychiatrie gerne den einfach strukturierten Patienten. Ich bin enttäuscht. Ich bin kein Schriftsteller.

      Am frühen Nachmittag ist Schluss mit dem Umtrunk. Brigitte sieht völlig fertig aus, aber sie möchte noch einen Kaffee bei sich zu Hause für uns kochen. Ich latsche mit, muss ich doch noch bis zum Abend auf meinen preiswerteren Zug warten.

      Spätabends, ich bin wieder in Berlin, liege ich auf meinem alternativen Hochbett. Ein halbes Pfeifchen habe ich intus, nicht viel, ganz leichtes Gras. Ich überdenke die letzten Tage, ich bin todmüde, aber ich kann nicht schlafen. Plötzlich heule ich wieder. Aber diesmal tut es nicht weh. Als hätte man einen Stöpsel gezogen, läuft der ganze Kummer einfach ab und spült auch die Verbitterung fort.

      Nach tiefem, traumlosem Schlaf erwache ich gut gelaunt und zufrieden. Neben mir liegt noch die Pfeife von gestern, es sind noch ein oder zwei Züge drin. Man will ja nichts umkommen lassen. Und plötzlich!

      Mit einem lauten Geräusch, einem klickenden, fügt sich ein nächster Mosaikstein ein.

      Wir waren Rivalen bis in den Tod. So hatte ich das nie gesehen. Wir hatten uns, auch räumlich weit voneinander entfernt.

      Wir waren trotzdem aneinandergefesselt, bis einem von uns die Luft ausging. Darum habe ich so großmütig Hilfe angeboten, als er am Telefon aufgab. Darum hatte der nachfolgende Brief, dieses Pamphlet, mich so tief getroffen. Wir waren Rivalen. Und ich habe überlebt. Der Überlebende wird die ganze Geschichte aufschreiben.

      Ich sehe: Unser beider Leben war eine Fingerübung fürs Schreiben. Plötzlich hat alles seinen Sinn. Alles rückt an die richtige Stelle.

      Der kleine Junge, dem ich jeden Abend ein Märchen erzählen musste. Die Zeit, die wir Brüder uns damit vertrieben, Dramen für unser Kasperle-Theater zu verfassen. Die vielen Anekdoten, die zu kleinen Spielszenen aufgebläht, unsere Freunde entzückten.

      Die Psychiatrie, wo ich mir einen Teil meines Rüstzeugs holte, mit frei erfundenen Geschichten über mich selbst spielte, aber auch echte Antworten suchte. Plötzlich bekommt das alles einen Sinn.

      Ich bin ein Erzähler - ich wusste es nur nicht.

      Diese Geschichte muss niedergeschrieben werden. Überglücklich seufze ich auf. Aber schon setzt die Stimme der Vernunft ein.

      »Jetzt bist du total von der Rolle«, sagt sie.

      Egal.

      »Und warum kommen dir die Formulierungen so seltsam bekannt vor? Du hast geklaut, aus anderen Texten!«

      Egal! Sie passen zu meiner Geschichte. Ich bin kein Literat - ich will einen Bericht abliefern.

      Peter war der Schriftsteller - ich bin der Chronist.

      STATT EINES NACHWORTS

      Hier sitze ich nun, zwei Jahre nach der ersten Fassung, die staunenswerte 1.200 Seiten umfasst, um die lesenswerten Teile herauszulösen. Zwei Jahre dauerte die Niederschrift, zwei Jahre kursierten die zehn Exemplare, die auf dem Heimcomputer erstellt worden waren, im Bekanntenkreis. Das wird jetzt ein ganz anderes Buch, denn die Urteile der Leser waren alle ähnlich.

      Zu lang, zu überfrachtet mit guten Ratschlägen. Zu viel laienhafte Psychologie. Besonders im Mittelteil, nachdem ich tatsächlich meine Psychomacke herausbekommen hatte. Da hab ich mich wirklich schier endlos ausgebreitet. Als Eigentherapie mochte das wohl seinen Sinn gemacht haben, aber welchen Leser interessiert schon der ganze Quark.

      Dazwischen aber war man amüsiert. Besonders wenn ich mich nur auf den reinen Handlungsstrang konzentrierte.

      Und doch. Zum ersten Mal im Leben habe ich etwas zu Ende gebracht. Fünfzig Jahre war ich mir selbst ein Rätsel. Fünfzig Jahre verlief mein Leben nach zwei Grundmustern: Entweder ich preschte los und irgendein Baum fiel mir in den Weg. Oder ich überwand alle Schwierigkeiten und hörte doch kurz vor dem Ziel auf. Weil da noch etwas war.

      Etwas, das mich wie ein unlösbares Gummiband auf den Nestrand zurück katapultierte. Und je mehr ich mich abstrampelte, je näher ich bei meinen Flugversuchen dem ersehnten Ziel kam, desto heftiger zog es in die Gegenrichtung. Etwas wollte vorher gelöst werden.

      Als Schwuler bin ich eine Laune der Natur, eine verspielte Arabeske. Ich bin ein Ornament und meine Kunst ist das Ornament. Ich habe mich stets gewundert, warum ausgerechnet Ornamente solche Faszination auf mich ausüben. Besonders jene der klassizistischen Epoche. Warum ich Möbelbeschläge sammle und sich zu Hause die Vorlagen türmen. Jetzt weiß ich.

      Ich weiß, warum ich unverdrossen Empire-Kränze und Palmetten auf die Biedermeier-Möbel nagele. Warum auf den Wänden zu Hause, auf den grafischen Arbeiten im Beruf, immer wieder Ornamente auftauchten. Schon beim ersten Entwurf, den ich als Lehrling des grafischen Gewerbes vorlegte, räkelten sie sich im Hintergrund.

      Endlich weiß ich einigermaßen darüber Bescheid, und seltsamerweise wurde ein Ornament zum Schlüssel zu dem Verschütteten.

      Gelegentlich glich mein Leben Wagners Opern in der Fassung für Salonorchester und Blockflöte. Besonders dann, wenn die Simulation des Fortpflanzungsvorgangs und seine Folgen mein ganzes Denken beherrschte.

      Ich habe überlebt, weil ich stark und tapfer bin. Andere umschreiben das eher als zähes Luder, was zwar nicht ganz so charmant klingt, aber in etwa die gleiche Aussage beinhaltet.

      Haben Sie es sich gemütlich gemacht? Die Beine hochgelegt? Beachten Sie bitte den Flüssigkeitsverlust bei längerer Lektüre. Jetzt fangen wir gleiiich an.

      MADE IN COSWIG

      Coswig hieß das Nest. An der Elbe gelegen zwischen Dessau und Wittenberg. Eine Fähre führte auf die andere Elbseite in das Gartenreich von Wörlitz. Herr Görlitz aus Wörlitz, witzelten Freunde später, auch wenn das nur bedingt stimmte.

      Vor dem Fenster war noch oft das stolpernde kalloppa di kalloppa eines müden Pferdes auf dem Kopfsteinpflaster zu hören, kaum gedämpft durch das Laub der Linden beidseitig der Straße.

      Schon seltener war das Geräusch eines Autos zu vernehmen und gelegentlich schnaufte ein Lastwagen mit Holzvergaser asthmatisch über die Luisenstraße.

      Wir wohnten in der Nähe des Bahnhofs und ein Stückchen hinter den Bahnschranken stand noch ein anderes Haus, das in meinem frühkindlichen Leben eine wichtige Rolle spielte. Mein Geburtshaus.

      Eine Turmvilla, in der die Restfamilie des Nazi-Offiziers, dessen Lenden ich entsprossen war, in zwei Zimmerchen hauste. Nach dem Krieg war Wohnraum knapp geworden und Großmutter Görlitz hatte mit ihrer Schwester Hedwig ohnehin nicht mehr den Platzbedarf, den sie für ihre fünf Söhne beansprucht hatte.

      Es gab keine Söhne mehr.

      Mein Vater fiel 1943, meinem Geburtsjahr, an der Ostfront. Er starb in Russland, irgendwo in der Nähe seines eigenen Geburtsortes.

      Die Familie war nach der Oktober-Revolution aus dem

      Land komplementiert worden, da sie zur besitzenden Klasse gehörten. Ohnehin waren sie Deutsche, die zum Bau der russischen Eisenbahn mit ihrer Ingenieurskunst beigetragen hatten - und die Eisenbahn war fertig.

      So hatte es Großvater Görlitz wieder in die Heimat gezogen, wo er es ebenfalls zu gewissem Wohlstand brachte. Seinen Söhnen muss Adolfs Idee mit dem neuen Lebensraum im Osten außerordentlich gut gefallen haben, denn sie waren begeisterte Anhänger des Führers geworden.

      Mutter erzählte oft, wie mein Vater von einem Rittergut im Osten faselte, wo er des Morgens nach erfrischendem Ritt durch die Felder die Herrschaft über seine zweihundert Seelen ausübte. Oh - wie gut kann ich das verstehen!

      Vater und einer seiner Brüder betrieben in Leipzig einen Verlag, in welchem sie hauptsächlich Schulbücher produzierten.

      Vater war überwiegend mit der künstlerischen Seite der Produktion betraut und fertigte die nötigen Schulbuch-Illustrationen gleich selbst.