Wolf Stein

Ich seh den Wald vor Bäumen nicht


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machen. Doch Vorsicht, nicht gegen den Wind sprühen! Aus welchem Grund? Genau aus demselben Grund, aus dem man nicht gegen den Wind pinkelt. Ansonsten schnell auf den Bauch fallen lassen, tot stellen, mit den Händen den Nacken schützen und mit den Armen die Eingeweide. Somit hat man immer noch die Chance, als Appetithäppchen nicht attraktiv genug zu sein und nur kurz beschnuppert zu werden. Ist der Mörderinstinkt des Bären jedoch ausgeprägter als seine Vernunft und er beginnt damit, sein Opfer anzuknabbern, gibt es nur noch eins: Beten und sich mit allem, was man hat und finden kann, verteidigen! Gehört man zu den Glückspilzen, überlebt man, gehört man zu den Pechvögeln, ist der Arm ab. Schnell folgt das Bein, danach der Kopf und immer so weiter. Das geht einem Bären im Blutrausch leicht von der Hand oder, besser gesagt, von der Tatze. Dann hat das Bärenvideo letzten Endes auch nichts gebracht, aber man scheidet wenigstens mit der Gewissheit dahin, sich richtig verhalten zu haben.

      Ich war überrascht. Viele meiner Baumpflanzkollegen aus Quebec hatten weniger Bärenerfahrung als ich. Dank einer früheren sechsmonatigen Reise durch Westkanada und Alaska, konnte ich auf viele großartige Bärensichtungen zurückblicken. Im Osten Kanadas hingegen schienen sich die pelzigen Vierbeiner regelrecht zu verstecken. Doch wie auch immer, über eine tödliche Attacke von Meister Petz machte ich mir keine Sorgen. Was hingegen ein leicht besorgtes Runzeln auf meine Stirn trieb, war die Tatsache, dass auch Pumas die weiten Wälder um Clearwater ihr Zuhause nennen. Während du dich mit einem Bären wenigstens noch unterhalten kannst, bevor er auf dich losgeht, schleicht sich die Großkatze lautlos von hinten an und packt zu. Ein Biss direkt ins Genick und das war es. Bei einem Tree Planter hat sie damit leichtes Spiel. Dieser guckt die meiste Zeit nur nach unten und achtet nicht auf seine Umgebung.

      Ich dachte: »Sollte ich wirklich auf dem Speiseplan eines Pumas stehen, merke ich das erst, wenn es bereits zu spät ist. Na Prost-Mahlzeit!«

      Aber einem Puma über den Weg zu laufen, war noch viel unwahrscheinlicher als ein Bärenangriff. Die Tiere sind zu scheu. Allerdings gilt auch hier: Ausnahmen bestätigen die Regel.

      Wird ein Bär gesichtet, pflanzen ab Sichtungszeitpunkt mehrere Leute dicht beieinander. Niemand treibt sich für den Rest der Schicht allein auf seinem Pflanzstück rum. Das ist ausreichender Schutz. Kein Bär ist so dumm und legt sich mit vier oder fünf Baumpflanzern gleichzeitig an. Bei einer Pumasichtung sieht die Sache schon anders aus. Findet diese statt, werden schnellstmöglich die Sachen gepackt und das Gebiet von allen verlassen. Da wird kein Risiko eingegangen. In den kanadischen Zeitungen war berichtet worden, dass ganz in der Nähe ein Kind von einem Puma angefallen wurde. Es hatte mit seiner Mutter Beeren im Wald gesammelt. Doch die Geschichte ging glimpflich aus, denn die Mutter warf sich wagemutig zwischen ihr Kind und die Großkatze. Mit leichten Verletzungen kamen beide davon. Ob der Puma allerdings den Angriff der Mutter überlebt hat, ist fraglich. An diesem Beispiel sieht man es wieder. Egal ob Mensch oder Tier, wer es auf das Kind einer schützenden Mutter abgesehen hat, sollte zweimal überlegen, was er da vorhat. Die Chance ist groß, dass man vom Jäger zum Gejagten wird. Audreys Freund Matt wusste ebenfalls von einer brenzligen Situation zu berichten. Vor Jahren passiert. Nichtsahnend pflanzte er damals in der brütenden Hitze vor sich hin. Dabei bewegte er sich auf einen langen umliegenden Baum zu. Zum Glück war Matt nicht allein auf seinem Stück, sondern pflanzte zusammen mit einem Freund.

      Der schrie plötzlich aus der Ferne: »Vorsicht Matt! Vor dir!«

      Matt hob den Kopf und sah die schlängelnde Bewegung eines Pumaschwanzes hinter dem Baumstamm hervorblitzen. Das Raubtier lag also bereits in Lauerstellung und hatte ihn ins Visier genommen. Nur ein paar Meter trennten die beiden noch voneinander. Während Matt zu Stein erstarrte, trillerte sein Freund kräftig mit der Pfeife und rannte auf ihn zu, um zu helfen. Vom Pfiff aufgeschreckt verschwand der Puma im dunklen Dickicht.

      Die Trillerpfeife ist für jeden Tree Planter überlebenswichtig. Bei Gefahren jeglicher Art und schwerwiegenden Problemen wird losgepfiffen - egal ob man gestürzt ist und sich verletzt hat oder eine Bärensichtung zu Grunde liegt. Da die zu bepflanzenden Stücke sehr groß sind und manchmal so weit auseinanderliegen, dass selbst laute Hilferufe nicht bis zum Nachbarn durchdringen würden, muss jeder eine Pfeife am Mann tragen. Dies lernt man selbstverständlich auch während der Sicherheitseinweisung. Gibt jemand einen Pfiff ab, heißt das für alle anderen: Sofort alles stehen und liegen lassen und in Richtung des Pfiffes rennen! Einer für alle, alle für einen!

      Mit der Sicherheitseinweisung im Gedächtnis, dem Inhalt des Bärenvideos vor Augen und der Trillerpfeife um den Hals ging es Morgen für Morgen mit dem Truppentransporter in den Wald. Doch wie schon vermutet, hielten sich die Begegnungen mit Bären in Grenzen, von Pumas ganz zu schweigen. Einzig während der Fahrten im Morgengrauen konnten wir hin und wieder Schwarzbären am Wegesrand bewundern. Die nahmen allerdings immer Reißaus, sobald sie Wind von uns bekamen. Genau wie die Elche und das Rotwild. Alles, was uns auf den riesigen, neu zu bepflanzenden Waldblöcken auf die Präsenz der Bären hinwies, waren ihre ebenfalls riesigen Haufen, die überall herumlagen. Bis auf zwei Ausnahmen. Denn zwei Zusammenstöße mit Bären gab es tatsächlich. Caissy lief während der Ausübung seiner Tätigkeit als Baumkontrolleur eine Bärenfamilie vor die Nase.

      »Oh, oh! Eine Mutter mit zwei Jungen. Das werde ich nicht überleben!« dachte er.

      Doch er überlebte es. Die Bärin nahm keinerlei Notiz von ihm, da er noch weit genug entfernt war und sich leise von dannen schlich. Die zweite Begegnung gestaltete sich dagegen schon intensiver. Gegen Mittag drückte Jenns Blase. Sie signalisierte ihr, dass eine baldige Entleerung dringend nötig wäre. Jenn machte gerade Pause, hatte also alle Taschen, die Schaufel und sogar ihre Pfeife abgelegt und war auf dem Weg zum nächstbesten Busch. Genau dort geschah es. Plötzlich stand ein stattlicher Bär vor ihr und sah sie verdutzt an. Jenn stierte mit weit geöffneten Augen zurück. Was sollte sie nun tun? Wie sie es gelernt hatte, redete sie auf das Tier ein, um ihm damit zu signalisieren, dass sie ein Mensch ist und nicht ins Beuteschema passt. Das interessierte den schweren Jungen überhaupt nicht. Er bewegte sich langsam auf sie zu. Der Bär sah jedoch nicht aggressiv aus. Jenn bekam verständlicherweise trotzdem leichtes Herzflattern und überlegte, was nun das Beste sei. Die Schaufel lag weit entfernt, die Pfeife ebenso. Also stieg sie auf einen abgeholzten Baumstamm und fing an, laut mit den Füßen zu stampfen. Linker Fuß! Rechter Fuß! Linker Fuß! Rechter Fuß! Ihr stampfender Tanz brachte den Bären so aus der Fassung, dass er verschwand.

      Wahrscheinlich dachte er sich: »Was für eine Verrückte, tanzt vor mir auf einem Baumstamm rum. Ich haue lieber ab.«

      Die Geschichte machte schnell die Runde auf dem Block. Den Rest des Tages pflanzten drei weitere Crewmitglieder an Jenns Seite. Vom Bären war fortan nichts mehr zu sehen. Zum Feierabend wollten alle genau wissen, was passiert war. Jenn erzählte erleichtert, aber immer noch tief beeindruckt, vom Geschehenen. Dass sich alle über ihren Bärentanz lustig machten und diesen ständig nachäfften, nahm sie nicht krumm.

      »Mir ist eben nichts Besseres eingefallen. Ich wollte mich irgendwie laut bemerkbar machen«, sagte sie lachend.

      Na ja, immerhin hatte es funktioniert. Sie hatte den Bären in die Flucht geschlagen.

      Ich grinste und sagte: »Wer weiß? Vielleicht schafft es dein Tanz ins nächste Bärenvideo.«

      Das Bäumepflanzen

      Eine ebene Fläche, glatt und gut gepflegt wie ein Fußballfeld, mit butterweicher, fast sandiger Muttererde, in die man sanft seinen Spaten sticht, von leichter Hand ein kleines Loch freischaufelt, in das der niedliche Baumnachwuchs dann nahezu von selbst und ohne Widerstand hineingleitet ...

      Wer denkt, Tree Planting in British Columbia sehe so aus, sollte ganz schnell zurück zu Mama. Dieser Job ist kein Zuckerschlecken. Im Gegenteil, es ist einer der härtesten der Welt. Man kann sehr gutes Geld damit verdienen, doch dieses Geld hat seinen Preis: körperliches und mentales Durchhaltevermögen. Kanada ist der größte Holzexporteur der Welt. Um den globalen Bedarf an Papier und Baumaterial zu stillen, werden dort pro Jahr fast 1 Million Hektar Wald dem Erdboden gleich gemacht. Seit 1996 besteht für die kanadische Holzindustrie die Verpflichtung, für jeden gefällten Baum einen neuen zu pflanzen. Das macht allein für British Columbia jährlich zirka 200