Hans Günter Hess

Das Tor der sieben Sünden


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ehrlich und gottesfürchtig aufwuchs, widersprach nicht, denn so stand es ja auch in den zehn Geboten, die in aller Strenge von seiner Familie eingehalten wurden. Und doch spürte er eine leichte Auflehnung. Warum sollte er in seinem Alter kein Mädchen lieben? Und wo stand, dass ein junger Holzfäller keins von der Nordseite lieben durfte? Manchmal las er in der Bibel, das einzige Buch im Hause Flaubert, aber nirgends fand er eine Geschichte, die ihm das verbot. Menschen, die eine solche Liebe als Sünde bezeichneten, kamen dort nicht vor, jedenfalls nicht in den Geschichten, die er kannte. Überhaupt spürte er seit geraumer Zeit ein Verlangen, das sich immer dann einstellte, wenn er an das Mädchen dachte. Aber niemand, weder sein Vater noch seine Mutter, hatten ihm auf seine Fragen eine Antwort gegeben. Sie ließen ihn mit seinem Problem allein. Selbst wenn er eine bekommen hätte, seine Nöte wären geblieben. Über einen Beischlaf wusste er so gut wie nichts, den übten seine Eltern nur zum Zwecke der Fortpflanzung aus, was an der Zahl der Kinder gemessen, nicht allzu oft vorkam. Also blieb Fabien nichts anderes übrig, als in seiner misslichen Lage nach einer anderen Lösung zu suchen.

      Das Mädchen, das er verehrte, hieß Vivien Richelieu und war die Tochter des Oberbezirksrichters Bernard Richelieu und seiner Gattin Rosalie. Letztere stammte aus einflussreichem Hause und hatte ihren Mann mit Hilfe ihrer Familie in dieses Amt lanciert. Vom Wesen herrisch und selbstsüchtig, duldete sie in ihrem Hause keinen Widerspruch. Als Absolventin einer höheren Mädchenschule beherrschte sie auch das Klavierspiel und den Gesang, aber meist nur unvollkommen. Sie sah das anders. Diejenigen, die sie mit ihren angeblich künstlerischen Gaben beglückte, ertrugen es mehr aus Anstand als mit Genuss, denn so schlecht, wie sie Klavier spielte, so schlecht sang sie auch oft genug Sie aber merkte nichts davon. Hochmut und Einbildung vernebelten ihre Realitätswahrnehmung. Stets erwartete sie widerspruchsloses Ertragen und Beifall.

      Ihre neunjährige Tochter Dorette litt darunter am schlimmsten. Sie wurde von ihr täglich mindestens zwei Stunden lang mit Klavierübungen und Vorsingen malträtiert. Schon mehrfach ergriff sie deswegen heulend die Flucht. In solchen Fällen kam ihr Gatte, der Obergerichtsrat Richelieu, zum Einsatz. Er musste der Tochter klar machen, welche Folgen der Ungehorsam nach sich ziehen konnte. Dazu las er ihr Paragraphen des Gesetzbuches vor, die sie trotzig mit verschlossenem Gesicht anhörte. Sie verstand zwar kein Wort von dem juristischen Kauderwelsch, ließ aber danach stets wieder fügsam und mit Geduld die Tortur der Mutter über sich ergehen.

      Irgendwann begegneten Dorette und das gleichaltrige Mädchen des Holzfällers einander und freundeten sich an. Das lief natürlich gegen alle Regeln des Standesdünkels, dem ihre Eltern mit Fleiß huldigten. Der Verstoß der eigenen Tochter glich schon fast dem Sündenfall im Paradies, und musste von Madame Richelieu mit allen Mittel verhindert werden. Über geeignete Mittel glaubte sie zu verfügen.

      Sie selbst ließ sich von jedermann mit Madame Obergerichtsrat anreden. Jene, die es wagten, den angemaßten Titel wegzulassen, rückte sie gnadenlos in die Ecke ihrer Missgunst. Dazu gehörte auch Sarly, der sie nur ein einziges Mal mit Rosalie angesprochen hatte. Sie hätte ihn gesetzlich belangt, doch leider fand ihr Gatte keinen Paragraphen, der das erlaubte. Aber sie hasste ihn deswegen aus tiefstem Herzen und sann nach Möglichkeiten, ihn aus ihrer Umgebung zu verbannen. Der lachte natürlich über die Borniertheit der Dame, ging ihr aber aus dem Weg, was ihm leicht fiel, denn er hielt sich zumeist auf der Südseite der Mauer auf.

      Maître Richelieu verkörperte ein Mannsbild mit einem gefestigten Weltbild. Er teilte die Menschheit ein nach denen, die dienen und denen, die bedient werden mussten ein. Die Wenigen dazwischen überließ er seinen Amtskollegen, der sollte sich damit herum ärgern. Seine Urteile als Richter am Königlichen Bezirksgericht waren folgerichtig von diesem Weltbild geprägt. Handelte es sich um einen armen Schlucker, der sich durch seine Dienste mühselig den Lebensunterhalt verdiente, warf er ihm vor, dies nachlässig und ohne Freude getan zu haben. Er verdonnerte ihn meist zu noch mehr Pflichten für denselben kargen Lohn oder ließ ihn durch Kürzen seiner ohnehin schmalen Einkünfte bestrafen.

      Die Hochgestellten, die Geld, Macht oder politischen Einfluss besaßen, die sich bedienen ließen, kamen seinen in Urteilen weit besser weg. Ihre menschlichen Fehlleistungen und ihre kriminellen Machenschaften redete er stets klein, so dass sie mit milden oder ganz ohne Strafen davon kamen.

      Nur in einer Sache ging er hart gegen alle Seiten vor. Nämlich dann, wenn es sich um Majestätsbeleidigung oder Angriffe auf die königliche Familie handelte. Seine Gattin, eine entfernte Verwandte des Königshauses, hatte schließlich dafür gesorgt, dass er den Posten am Bezirksgericht begleiten durfte, auf den er sich sehr viel einbildete. Um seine Amtswürde zu präsentieren, ließ er sich nicht nur von allen grüßen, auch sein Äußeres unterwarf er diesem Anspruch. Zu den extravaganten Auffälligkeiten zählten auch sein steifer Zylinderhut und ein Stock mit silbernem Knauf. Den trug er wie eine drohende Stichwaffe, immer unter den Arm geklemmt und mit der Spitze nach vorn, mit sich herum. Den Hut zog er nur vor vornehmen Damen, bei seinen Vorgesetzten und Mitgliedern des Königshauses. Menschen, die dienten oder sonst dem gemeinen Volk zugeordnet waren, übersah er hochmütig, selbst wenn sie auf das Freundlichste grüßten.

      Zu Hause dagegen mutierte er zum Pantoffelhelden. Die Bediensteten des Hauses verschwiegen aus reiner Angst das, was sie erlebten, und doch gab es Gerüchte. So wurde von verschiedenen Schlafzimmern gemunkelt, die das Ehepaar benutze. Auch ihr Liebesleben wurde hinter vorgehaltener Hand ausgetratscht. Es hieß, Richelieu dürfte die Gattin nur einmal im Monat in ihrem Schlafgemach besuchen, um sie zu besteigen. Da es keine Beweise gab, wurden die Gerüchte zunehmend ausgeschmückt, es entstanden die wildesten Geschichten. Was wirklich passierte, blieb allein das Geheimnis von Madame und Maître Richelieu. Aber auch die teilten sie nicht alle, es gab welche, die jeder für sich behielt. Davon wird noch später zu reden sein.

      Vivien, die achtzehnjährige Tochter, besuchte bislang ein Lyzeum in der Bezirkshauptstadt. Zwei Jahre musste sie dort verbringen, um einen standesgemäßen Abschluss zu erwerben. Sie wohnte bis auf wenige Wochenenden und Feiertage in einem Internat. Dort teilte sie ihr Zimmer mit zwei weiteren Mädchen aus vornehmen Familien. Trotz der strengen Internatsregeln und einer noch strengeren Gouvernante wurde sie beizeiten von ihren Mitbewohnerinnen an die Laster des Lebens herangeführt. Sie lernte Tabakrauch, Likör und andere berauschende Dinge kennen, die zwar verboten, aber immer wohlfeil waren. Oft zogen sich die Mädchen gegenseitig aus, um zu erkunden, welche Freuden von ihren Körpern wahrgenommen wurden. Sie sparten dabei nicht mit Worten, die eigentlich nur Sarly, der Verachtete, benutzte. Jedes Mal, wenn sie ein neues und besonders ordinäres aufgegabelten, lachten sie in unanständigster Weise und begleiteten es mit eindeutigen obszönen Gesten. Eines der Mädchen brüstete sich mit einem reichen und älteren Freund. Unter dem Vorwand, er sei ein Verwandter des Hauses und Taufpate der Mademoiselle durfte sie mit ihm das Internat verlassen. Er ging mit ihr zur Heiligen Messe, hieß es offiziell. In Wirklichkeit fuhr er mit ihr in ein abgelegenes Sommerhaus. Sie erzählte danach, welche Freuden sie mit ihm erleben durfte. Neugierig lockten Vivien und das andere Mädchen jede Einzelheit aus ihr heraus, selbst die geringste intime Handlung musste sie ausmalend schildern. Obendrein stattete er sie ständig mit Unmengen an Geld aus. So verwunderte es nicht, dass die Beiden neidisch und auch gleichzeitig lüstern wurden. Erst als sich bei ihr eine Schwangerschaft ankündigte, kam eine gewisse Ernüchterung. Der reiche Freund schickte sie zu einer Engelsmacherin. Was danach kam, blieb im Dunkeln, das Mädchen kehrte nie wieder ins Internat zurück.

      Die Gouvernante wurde nach diesem Vorfall noch strenger und unerträglicher, aber die Sehnsucht nach einem süßen Leben konnte sie nicht verbieten, die blieb den Mädchen. Vivien brachte sie nach ihrer Ausbildung mit nach Hause. Bereits die wenigen Wochen nach ihrer Heimkehr nutzte ihre vom Ehrgeiz geplagte Mutter dazu, um aus ihr eine Sängerin zu machen. Von den geheimen Wünschen der Tochter ahnte sie nichts. Solcherlei Gedanken hielt sie für absurd. Deshalb gewährte sie ihr auch mehr Luft zum Atmen, vielmehr als der jüngeren Schwester Dorette.

      Durch absichtliches Falschsingen konnte Vivien ihre gestrenge Mama und Lehrerin schon recht bald überzeugen, dass sie kein Talent zur Sängerin besaß. Selbige beschränkte deshalb die Übungen auf ein Mindestmaß und gab ihr die Möglichkeit, mittels einer Staffelei draußen in der freien Natur die Kunst des Malens zu probieren. Vivien täuschte durch die bescheidene Gabe, mit Pinsel und Farbe irgendwas auf die Leinwand zu tupfen, das einer Blume ähnelte. Zudem benötigte