Hans Günter Hess

Das Tor der sieben Sünden


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arm oder reich, gebildet oder von niederem Stande. In ihren Gedanken existierte nur ein junger Bursche, der all das mit ihr anstellte, was sie bereits theoretisch in Erfahrung gebracht hatte. Diesen jungen Mann hatte sie vor einiger Zeit in der Kirche kurz mit den Augen gestreift. Der saß artig in der Nähe seiner Familie oben auf der Empore und hieß Fabien. Dieser momentartige aber sehr intensive Blickkontakt reichte ihr, um ihn zum Objekt all ihrer Sehnsüchte und Wünsche zu machen. Sie begann ihn zu suchen.

      Fabien war außer sonntags nur im Wald anzutreffen. Das Holz, das er mit seinem Vater schlug, musste nach Nutzen sortiert werden. Ihm oblag die Zuständigkeit für das Brennholz, das er nicht nur in handliche Stücke zu sägen, sondern auch an die Kundschaft auszuliefern hatte.

      Viviens Suche draußen in der freien Natur brachte kein Ergebnis. Wie so oft, spielte der Zufall eine viel bessere und vor allem erfolgreiche Lösung.

      Fabien musste eine Fuhre Brennholz in das Haus ihrer Eltern liefern. Schweißtriefend kam er mit dem voll beladenen Handkarren im Hinterhof an.

      Vivien stand mit ihrer Staffelei im Garten und mimte eine Apfel malende Künstlerin. In Wirklichkeit suchte sie die Nähe Fabiens, den sie schon in der Ferne entdeckt hatte. Sie ließ ihn keine Sekunde während des Holzabladens aus den Augen. Vor allem sein nackter Oberkörper erregte ihre Aufmerksamkeit. Fabien erwies sich nicht nur als muskulös gebaut, er besaß auch ein hübsches Gesicht und bestach durch einfache, aber gute Manieren. Das reizte sie. Als er seinen Lohn von der Köchin entgegen nahm, wagte sie einen Vorstoß. Forsch und anmaßend trat sie ihm in den Weg und zischte:

      „Ich will mich mit dir treffen.“

      Ihren Wunsch trug sie so fordernd vor, dass er nur artig „Ja.“ stammelte. Zu einer anderen Erwiderung fehlten ihm die Worte. Vivien, die ins Haus eilte und ihn von dort weiter beobachtete, bemerkte jetzt, dass er weder nach Ort und Zeit fragte. Sie, die von Kindheit an das Regime ihrer Mutter ertragen musste, hatte sich folgerichtig auch deren Manieren und Umgangsformen angewöhnt. Bestimmte Vokabeln gab es deshalb in ihrer Alltagssprache nicht, dazu gehörten ‚bitte’, ‚danke’, ‚möchte’. Diese Worte mussten gegenüber dem Personal und den Leuten auf der anderen Seite der Mauer vermieden werden, so hatte es ihr die Frau Mama eingebläut. Umso besser beherrschte sie dagegen die Redewendungen ‚ich will’, ‚du musst’ oder ‚du sollst’. Jetzt, wo sie über Fabiens Antwort nachdachte, fiel ihr das erste Mal auf, warum er nur so reagieren konnte. Auch ihm war eingeschärft worden, alle Anweisungen der Herrschaften dienstbeflissen und ohne Neugier zu befolgen. So kam es, dass die Beiden auseinander gingen, ohne zu wissen, wo und wann das Treffen stattfinden sollte.

      Fabiens kurze Lähmung seiner Gedanken löste sich mit dem Verlassen des Hofes. Lächelnd folgte er seinem Weg. Dass Vivien ihn ansprach, galt schon als ein Ereignis für sich, aber dass sie ihn treffen wollte, verstand er überhaupt nicht. Wenn man sie zusammen sehen würde, konnte das unabsehbare Folgen haben, sowohl für sie als auch für ihn. Also musste die Begegnung heimlich und an einem versteckten Ort stattfinden. Ihm drängte sich eine Idee auf.

      Als Zwölfjähriger schlüpfte er öfter durch das Tor in der Mauer. Ihn interessierte damals die andere Seite mit ihren ganzen Veränderungen. Die Villa des Großhändlers Dubois wurde gerade gebaut. Man duldete dort niemanden von der Südseite und schon gar keine Kinder. Er hatte sich deshalb im Gestrüpp nahe der Pforte ein Versteck aus Zweigen und Moos eingerichtet. Von dort konnte er alles sehen, ohne entdeckt zu werden. Daran erinnerte er sich jetzt. Hier würde er Vivien treffen, da vermutete sie keiner und er konnte endlich mit ihr reden, ihr seine Zuneigung gestehen. Doch diese bevorstehende Begegnung erzeugte nicht nur ein euphorisches Kribbeln, es flößte ihm auch Angst ein. Was wollte sie eigentlich von ihm? Sollte er ihr einen Dienst erweisen, von dem ihre Eltern nichts wissen durften? Würde sie überhaupt seine Gefühle erwidern oder ihn auslachen?

      Sein Innenleben schlug Purzelbäume. Von überschwänglicher Freude bis hin zur Furcht, dass sie ihn verachten würde, mischte sich alles, worauf er keine Antwort wusste. Schließlich ermutigte er sich selbst, ein Treffen zu arrangieren. Wenn es daneben ging, hatte er nichts verloren außer einer Illusion. Klappte es aber, dann würde er reich beschenkt. Es erhielt dann etwas, dass seltener war als ein Goldklumpen im Bachbett und fast einem Wunder Gottes glich. Seine Frömmigkeit versöhnte ihn eher mit Letzteren. Bei nächster Gelegenheit wollte er ihr den Ort und die Zeit für ein Treffen mitteilen.

      Die nächste Fuhre Holz lieferte er im Pfarrhaus ab. Wie immer empfing ihn dort Berbe, die Haushälterin. Sie besorgte nicht nur Haus, Hof und Garten des Patre, sondern spielte auch die altersschwache Orgel der Kirche, die sie meist mit krächzender Stimme gesanglich begleitete. Fabien trug das Holz in einen Verschlag. Die Wärme und die Arbeit machten Durst. Berbe war gutmütig und hatte ihm schon manchen Bissen zugesteckt, deshalb bat er um einen Schluck Wasser. Sie half vielen Menschen, besonders aber den Armen, obwohl sie auf der nördlichen Seite im Pfarrhaus wohnte.

      Als Fabien die letzten Scheite eingestapelt hatte, rief sie ihn in die Küche, goss sie ihm aus einem Steinkrug gesüßtes Essigwasser in ein Glas und schob ihm auch ein Stück Kuchen zu. Er schenkte ihr dafür einen dankbaren Blick. So etwas erlebte er höchst selten und schon gar nicht bei denen, die im Überfluss schwelgten. Berbe ließ ihn über seine Familie berichten. So erfuhr sie auch, dass er ein neues Geschwisterchen erwartete. Sie seufzte:

      „Der liebe Gott wollte nicht, dass mir solche Freuden beschieden worden sind. Er hat mich zu den Patres geschickt, die für das Kindermachen untauglich sind.“

      Letzteres verbreitete sie wohl wissend als eine Unwahrheit, die sie stets auch mit Fleiß verteidigte. Der Vorgänger von Patre Hector Sorel gehörte keinesfalls zu den Kostverächtern. Berbe hatte ihm nicht nur im Haushalt und in der Kirche, sie hatte ihm auch im Bett gedient. So lautete die Wahrheit. Und so blieb es nicht aus, dass sie irgendwann schwanger wurde. Der alte Gottesmann wollte sie zu einer Engelsmacherin schicken, doch sie hatte vorher einen Sud aus treibenden Kräutern in sich hinein gewürgt und dabei den keimenden Fötus verloren. Nicht nur der Patre lud damals schwere Sünde auf sich, auch sie fühlte große Schuld. Danach ließ sie ihn nicht mehr an sich ran. Das lag nun schon zwanzig Jahre zurück. Jetzt war sie in den Fünfzigern und noch immer gut beieinander aber unfruchtbar. Das hob ihre Lust auf ein Mannsbild. Padtre Hector, wie sie ihn nannte, verkörperte einen Mann von guter Statur und in den besten Jahren. Sie hätte ihm widerspruchslos im Bett gedient und legte zu diesem Zweck öfters geheime Zeichen und Schlingen aus. In der warmen Jahreszeit trug sie beispielsweise nie was unter ihrem langen Rock. Auch ihr Blusenausschnitt ließ in seiner Weite einen tiefen Einblick auf ihre üppigen Brüste zu. Wenn sie des Patres Wäsche wusch, trocknete oder bügelte, dann galt ihre ganze Hingabe seinen Unterhosen, die sie nicht nur mit verklärten Blicken anschaute, sondern auch zärtlich streichelte. Aber all das half nichts. Patre Hector blieb unantastbar. Er lobte zwar ihre Reinlichkeit und ihr gutes Essen, rügte sie aber für das falsche Orgelspiel oder den gruseligen Klang ihrer Stimme.

      Zusammen mit Madame Richelieu, die noch lauter ihre eingebildete Sangeskunst darbot, ergab sich im Zusammenspiel mit der Orgel ein grauseliges Gemisch aus falschen Tönen und Disharmonien, das jeden Musikkenner aus der Kirche getrieben hätte. Nur dem ehrenwerten Kirchenvorstand, gebildet von Maître Richelieu, dem Großhändler Dubois und dem Königlichen Oberforstmeister Bresson, war es zu verdanken, dass solches nicht geschah. Man ertrug die schmerzende Beleidigung der Ohren geduldig im Namen Gottes. Niemand wagte es, den krächzenden Singsang zu tadeln. Diesmal hielt sich zudem der Patre zurück, denn aus den Töpfen der Reichen flossen nicht nur Spenden für seinen Kirche, sondern auch die Spezialitäten für seinen luxuriösen Lebenswandel. Selbst das gemeine Volk von der Südseite schwieg, war es doch oft auf die Gunst derer von der Nordseite angewiesen, und die stellten bekanntlich den Kirchenvorstand. Der Einzige, der wohl seinen Unmut geäußert hätte, wäre der Oberforstmeister gewesen, aber alt und schwerhörig verstand er sowieso nur etwas, wenn man laut schrie. Ihn störten weder Gesänge noch Orgel. Wenn er einen Psalm kannte, sang er ihn lauthals und genau so falsch mit. In solchen Fällen mündete erst recht alles in einer quälenden Tortur. Die Meisten waren dann froh, wenn sie die Kirche verlassen durften.

      Fabien wusste nur von den misslichen Gesängen, die anderen Geheimnisse der Mamsell Berbe blieben ihm verborgen. Die Choräle, so kläglich sie sich auch anhörten,