kaum noch etwas zu sehen war. Sie wollte sich wieder ins Auto setzen, da fragte Felix: „Ist das nicht Fahrerflucht?“
„Mach mich nicht wahnsinnig! Ist doch überhaupt nix zu sehen.“
„Da sind noch Schleifspuren.“
„Ich seh nix, setz dich rein!“
„Hier schau, ein bißchen.“
Sie startete den Motor: „Steig ein oder fahr Bahn.“
Felix stieg ein.
„Außerdem: Wenn da ein Kratzer war, war der bestimmt schon vorher da“, sagte Patrizia. Im Gegensatz zur Hinfahrt fuhr sie diesmal Formel-1, sodass Felix öfters die Augen zusammenpresste. Er dachte an die Unfallstatistik: Auf den Straßen sterben zehn Menschen auf eine Milliarde Passagierkilometer, beim Fliegen nur drei. Er wäre also besser mit seinen Eltern geflogen. Noch besser wäre er mit der S-Bahn nach Hause gefahren; bei der Bahn gibt es nur einen Toten. Allerdings, was hätte er davon gehabt, wenn seine Eltern und seine Schwester gleichzeitig gestorben wären, wo ihr Tod doch viel wahrscheinlicher ist?
Plötzlich gab es eine kleinere Detonation in Patrizias Handtäschchen, worauf einige Häuser in sich zusammen stürzten. „Gib mir mal das Handy!“ befahl sie ihm.
„Es ist verboten, während dem Fahren zu telefonieren“, erwiderte er.
„Klugscheißer. Jetzt gib schon!“ Wieder explodierte das Handy.
„Du hast ja einen tollen Klingelton. Kann ich den auch haben?“
„Gibst du`s mir jetzt endlich?!“ Sie wurde wütend. Seine Schwester muss jederzeit mit der Welt verbunden sein, sonst bekommt sie Minderwertigkeitskomplexe– er suchte also in ihrer Tasche zwischen Lippenstift und Tampons nach dem Gerät. Sie machte eine Vollbremsung, fast hätte sie eine alte Frau auf dem Zebrastreifen überfahren. Patrizias Gesicht sah mit einem Mal so käsig aus wie die stoppeligen Beine des Passagiers mit dem Schrankkoffer. Das Handy war kein Thema mehr, es hatte sowieso aufgehört zu explodieren. Ohne weitere Zwischenfälle kamen sie zu Hause an.
Dort mischte sich Patrizia gleich einen Drink aus der elterlichen Bar und platzierte den Ventilator auf dem Wohnzimmertisch. Sie ließ sich in den Sessel fallen, in dem sonst Herr Armbruster sitzt, wenn er von der Arbeit nach Hause kommt, und legte ihre Beine auf den Tisch.
„Darfst du das?“ fragte Felix.
„Halt die Klappe!“ Eine Weile telefonierte sie, während Felix in seinen Comics las. Nicht, dass er keine Freunde hat– aber er muss sie nicht ständig um sich haben wie seine Schwester. Mit halbem Ohr hörte er zu; es war auch kaum möglich wegzuhören, weil sie laut und aufgeregt redete. Soweit er mitbekam, versuchte sie vergeblich, sich für den Abend zu verabreden. Nachdem sie die Konferenz beendet hatte, löffelte sie einen Diätjoghurt und blätterte durch ein Lifestyle-Magazin, das dick war wie ein Telefonbuch. Später erinnerte sie sich an ihren Bruder: „Komm, ich schneid dir die Haare, Felix.“
„Wieso?“ Felix schaute nicht auf von seinem Heft.
„Weil sie viel zu lang sind. Du siehst ja aus wie ein Mädchen.“
„Na und?“ Felix las weiter.
„Letztens fragte mich einer meiner Freunde: Wie heißt denn deine Schwester. Die sieht ja niedlich aus.“
„Na und?“ Er las nicht mehr wirklich, obwohl er seinen Blick noch auf das Heft gerichtet hielt– was ist denn schlimm daran, wie ein Mädchen auszusehen?
„Demnächst macht dir wahrscheinlich ein Junge bei euch einen Heiratsantrag.“
„Immer noch besser als mit so Speckröllchen um den Bauch herumzulaufen wie du.“ Felix flüchtete rechtzeitig, er spürte noch den Luftzug des Lifestyle-Magazins, das knapp an seinem Kopf vorbeiflog und eine Vase vom Regal riss, die am Boden zerschellte. „Na, dann leg mal dein Taschengeld zusammen“, rief er ihr zu, bevor er das Wohnzimmer verließ.
Am Nachmittag wurde es immer heißer, selbst ein sporadischer Windstoß brachte keine Abkühlung. Im Fernsehen sprachen sie mittlerweile von einem Jahrtausendsommer– ein Vorgeschmack auf das Ende der Welt, wenn die Sonne sich aufbläht zu einem Roten Riesen, dessen Umfang bis zur Erdbahn reicht und sie verbrennt. Es soll zwar noch ein paar Milliarden Jahre dauern, doch vielleicht fängt es in diesem Jahr schon an. Das Flussbett hatte sich so mit Hitze aufgeladen, dass das andere Ufer in der Luft schwamm.
Mit einem Mal plagte Felix das schlechte Gewissen, dass er so gemein zu Patrizia gewesen war. Er wollte es wieder gut machen– nicht für seine Schwester, sondern damit seine Eltern nicht abstürzen– jetzt sind sie wahrscheinlich über Spanien. Manchmal hat er das dringende Bedürfnis, jemandem etwas Gutes zu tun, weil sonst etwas Schreckliches passiert. Ihm fiel ein, wie sehr seine Schwester Eis liebt, und dass sie wahrscheinlich schon länger keins gegessen hatte. In der Tiefkühltruhe fand er nichts, also musste er welches besorgen. Vor der Haustür packte ihn die Hitze– wenn man sich nur langsam genug bewegt, wie es das Faultier macht, kann einem nichts passieren. Felix stieg also ganz langsam aufs Rad, trat nur langsam in die Pedale und wechselte häufig die Straßenseite, um möglichst im Schatten zu fahren.
Im Eiscafé lief ein Fernseher, aber es war niemand da, der zusah. Es war überhaupt niemand dort, selbst auf den Verkäufer musste Felix lange warten; die meisten Leute liegen bei solchen Temperaturen ja im Wasser. Als der Verkäufer endlich kam, hatte er tatsächlich feuchte Haare. Felix überlegte, welche Portion für Patrizia angemessen wäre, und entschied, dass zwei Kugeln ausreichen. Er verstaute das Eis in dem Kühlbeutel, den er vorsorglich mitgenommen hatte, und machte sich auf den Rückweg.
Die Straßen lagen verlassen in der Sonne. Genauso wird es an jenem Tag aussehen, an dem der letzte Überlebende feststellt, dass er allein auf der Welt zurück geblieben ist. Felix fröstelte bei dem Gedanken. Freilich hätte eine leere Welt auch Vorteile: Er könnte durch fremde Häuser gehen und die verwaisten Leben besichtigen, sich in fremden Kühlschränken bedienen und DVDs sehen, die ihm seine Eltern verboten haben. Nur würde es am letzten Tag der Welt vermutlich keinen Strom mehr geben.
Felix war froh, als er einen Menschen entdeckte: Ein Junge versuchte sein Rad aufzupumpen, was ihm nicht gelang. Er hockte in der Sonne und seine roten Haare glänzten vom Schweiß. Als er Felix bemerkte, richtete er sich auf und schaute ihn böse an. Felix fühlte sich verpflichtet, etwas zu sagen: „Da brauchst du Flickzeug.“
„Ach, da wär ich von allein nicht drauf gekommen“, entgegnete der Junge.
Felix ärgerte sich über seine eigene Bemerkung. Er verstand das nicht– bei seiner Schwester findet er meist die richtige Antwort, nur bei Fremden wird er so tolpatschig. Er bemerkte sehr wohl, dass der Junge, Hände in den Hüften, ihn von oben bis unten musterte. Felix schaute in die Sonne.
„Hast du denn welches?“ fragte der Junge.
„Zu Hause. Wenn du willst, kannst du mitkommen, es ist nur zwei Straßen weiter. Meine Eltern sind nicht da, weißt du“, und er begann zu erzählen, dass sie sie zum Flughafen gebracht hatten, dass seine Schwester fast einen Unfall gebaut hatte, undsoweiter.
„Dann lass uns gehen“, sagte der Junge mitten in Felix Rede.
„Ich heiße Felix, und du?“ So schnell konnte er mit dem Reden gar nicht aufhören.
„Uli“, antwortete der. Uli ging seltsam, breitbeinig wie ein Cowboy ohne Hut und Pferd. Sein Arm schlenkerte bei jeder Bewegung auffällig entfernt vom Körper, ein Muskelmann auf Freigang. In Wirklichkeit war er nicht größer als Felix, möglicherweise auch nicht kräftiger. Ab und zu spuckte er beim Gehen auf die Straße. Sein Alter? Felix wagte nicht nachzufragen, und auch der Junge sagte nichts, während er sein Fahrrad schob. Es war so still in der Straße, dass das Flapp-Flapp des platten Reifens von den Häuserwänden zurückklang.
Er führte Uli in die Garage. Ihre Garage ist sehr groß, ganz so wie man es in amerikanischen Vorstadtserien sieht. Wenn Felix Vater genug vom Gerede seiner Frau hat, zieht er sich hierhin zurück und schraubt an seinem Motorrad. Die Werkzeugwand nimmt eine ganze Seite der