Andreas Nolte

Im Sommer, wenn niemand bleibt


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wie die Welt zur Wüste wird. Er wurde so traurig darüber, dass er nicht einschlafen konnte. Zudem ließ sich kaum vermeiden, auf die Geräusche im Nachbarzimmer zu achten: Die Matratze quietschte, leise Worte wurden gewechselt, die er nicht verstand. Natürlich war Felix aufgeklärt worden: In der Schule, vom Internet, von seiner Schwester– Puzzle-Stücke, die er sich zu einem Bild zurechtlegte. Dieses Bild erschien nicht sonderlich verlockend; außerdem ließ es zu viele Fragen offen.

      Felix schrak hoch. Seine Schwester schrie: „Nein, nein, ja!“ Es verwirrte ihn– Muss ich helfen? Er lauschte. Noch einmal hörte er ihre Stimme: „...Oooh...Lass...“ Es klang, als hätte sie Schmerzen.

      Felix sprang aus dem Bett; nicht länger durfte er zögern, sie zu retten! Ohne anzuklopfen rannte er in ihr Zimmer. Die schwache Beleuchtung reichte aus, um alles zu erkennen: Sie waren nackt, Carlos lag ausgestreckt auf dem Bett, sie hockte auf ihm. Beide starrten erschrocken zu Felix.

      „Verpiss dich!“ schrie Patrizia.

      „Wer?“ fragte Felix, der langsam ahnte, dass er etwas falsch verstanden hatte.

      „Du natürlich, du Hornochse!“

      Er fing an zu stottern: „Ich dachte– Hat er dir nicht wehgetan?– Ich wollte doch nur–“

      „HAU AB, DU PISSER!“ rief Carlos ihm zu. Dabei betonte er jedes Wort einzeln, sodass Felix Angst und Bange wurde.

      „Sprich nicht so mit meinem Bruder, hörst du!“ fuhr sie Carlos an. Daraufhin stieß er sie von sich herunter. „Ach, die Familie!“ rief er und schnappte sich seine Kleidung. Er lief an Felix vorbei aus dem Zimmer. Patrizia unternahm nichts, ihn zurückzuhalten.

      Felix konnte sich vor Scham nicht rühren. Als unten die Haustür ins Schloss fiel, wandte sich Patrizia endlich ihm zu: „Tu mir einen Gefallen, ja?!“

      Donnerstag, 21. Juli

      „Doktor Watson!“ rief Herr Bramsche. Dr.Watson ist Herr Bramsches Katze, ein einäugiger Kater von schlechtem Charakter. Wenn man ihm zu nahe kommt, faucht er und sein Fell sträubt sich. Ursprünglich war das Fell weich gewesen, gelbbraun mit schwarzen Streifen wie bei seinen großen Verwandten im Dschungel. Nach vielen Kämpfen haben die Narben hässliche Flecken hinterlassen, auf denen nichts mehr wächst. Felix wundert sich jedes Mal, dass Herr Bramsche diese Katze so liebt. Wenn das Tier mal wieder von einem Kampf zurück kommt, klagt der Nachbar laut über dessen Zustand. Für diesen Liebesbeweis lässt Dr.Watson nur Herrn Bramsche an sich heran.

      Felix beobachtete vom Fenster aus, wie Herr Bramsche seinen Kater begrüßte. „Ja, mein Lieber, da bist du ja. Komm zu Papa!“ rief er. Er kraulte Dr.Watson unterm Maul, sodass das Tier zufrieden schnurrte, als sei es ein harmloses Kätzchen.

      Wieder war der Morgen heiß. Die Sonne schien milchig hinter der dünnen Wolkenschicht, am Horizont war ein Hauch von Rosa, das vom Sonnenaufgang geblieben war. Felix legte sich wieder hin. Er versuchte, nicht an den peinlichen Moment im Zimmer seiner Schwester zu denken. Vor allem bedrückte ihn der Gedanke, dass er in einigen Jahren selbst Mädchen nackt auf sich würde sitzen lassen müssen. Er überlegte, wie es wäre, für immer liegen zu bleiben– im Bett bin ich sicher, hier gibt es weder Wüsten noch Mädchen. Felix döste vor sich hin, während die Hitze zunahm. Er hörte, wie seine Schwester ihr Zimmer verließ; hörte Herrn Bramsche hämmern, weil es am Haus immer etwas zu tun gibt; hörte ab und zu ein Auto auf der Straße.

      „Hier ist jemand für dich!“ schrie Patrizia zu ihm hoch. Er sprang aus dem Bett und zog sich rasch eine Hose an. Unten im Wohnzimmer stand Uli. Seine Haare leuchteten nicht so intensiv wie in Felix Erinnerung. Er trug eine alte Jeans mit Rissen am Knie und ein ausgeleiertes T-Shirt. Felix gefiel das, er selber darf so etwas nie tragen. Seine Mutter schmeißt Hosen gleich weg, wenn sie Löcher bekommen: WAS SOLLEN DENN DIE NACHBARN DENKEN, WENN UNSER SOHN IN SOLCHEN LUMPEN HERUMLÄUFT?!

      „Ich bring dir den Schlauch.“ Ulis Stimme klang rau.

      „Das ist nett“, sagte Felix, als er die Packung entgegennahm. Der Junge musterte ihn, während Felix passende Worte suchte. „Es ist heiß heute“, sagte er endlich.

      „Na, ist ja nichts Neues“, erwiderte Uli. Kurz schaute er spöttisch zu Felix, danach ließ er seinen Blick durch den Raum schweifen. Felix war froh, dass Patrizia gestern das Porzellan und die kitschigen Bilder weggestellt hatte.

      „Sollen wir was zusammen machen?“ fragte Uli.

      „Ja, ich weiß nicht, gern, ja was– ich muss noch überlegen– wann, heute?“

      „Heute oder morgen, wie du willst.“

      „Ja morgen, oder heute vielleicht–.“ Für einen Augenblick kam es Felix so vor, als wäre die Zeit eingefroren– alles ist möglich: Dass er einen Freund gefunden hat, dass die Langeweile zu Ende ist, dass er keine Gedanken mehr an düstere Prognosen verschwenden muss.

      „Du kannst es dir ja noch überlegen“, sagte Uli und gab ihm die Hand. Bevor Felix eine Antwort einfiel, verließ der Junge schon das Haus. Felix schaute ihm hinterher. „Wann sehe ich dich denn wieder?“ rief er ihm nach. Uli drehte sich auf dem Fahrrad um und erwiderte etwas; Felix konnte es nicht verstehen. Vielleicht hieß es: Ich komme morgen vorbei.

      „Wer war denn das?“ fragte Patrizia, als er die Haustür hinter sich schloss. Obwohl es desinteressiert klang, wusste Felix, dass sie darauf brannte, in Erfahrung zu bringen, mit wem sich ihr Bruder umgibt– sie muss die Personen, mit denen ihre Familie Umgang hat, unbedingt einordnen. Bei den Eltern macht sie es genauso.

      „Das war Uli.“ Er wollte sich schon abwenden.

      „Ja, ist er dein Freund?“ fragte sie ungeduldig.

      „Ja“, antwortete er.

      „Ich glaub ja nicht, dass Mama so schlampige Hosen gut findet.“

      „Lass das mal meine Sorge sein“, erwiderte er. Patrizia sagte nichts darauf. Um ihr keine Gelegenheit zu geben, ihn auf das Ereignis in der Nacht anzusprechen, verließ er das Haus. Herr Bramsche zupfte wieder Unkraut auf seiner Einfahrt, er tat es mit großer Sorgfalt. Nachdem ihm Felix eine Weile dabei zugeschaut hatte, fragte er, weshalb er das macht: „Es ist doch schön, wenn noch etwas wächst.“

      „Ja, weißt du, Felix, ich möchte ein ordentliches Haus hinterlassen, wenn ich einmal sterbe. Für meine Kinder.“ Felix wusste nur, dass die Kinder von ihm, die schon lange keine Kinder mehr sind, weit weg wohnen und nur selten zu Besuch kommen. Meist streiten sie dann laut mit ihrem Vater und Herr Bramsche wirft ihnen Undankbarkeit vor.

      „Aber weshalb für ihre Kinder? Sie ärgern sich doch nur über die.“ Felix war nicht sicher, ob solche Fragen wirklich zum Smalltalk gehören. Herr Bramsche sah ihn erstaunt an und bekam denselben fernen Blick wie der Eisverkäufer: „Was soll ich denn machen“, entgegnete er, „aus dem Fenster schauen?“ Das Jäten hält ihn von der Langeweile ab, dachte Felix. Er schaute ihm weiter zu, wie er Reihe für Reihe die Fugen freilegte. Herr Bramsche würde noch einige Zeit keine Langeweile bekommen; die Steine waren klein, fast ein Mosaik.

      Als er wieder ins Haus kam, schrieb Patrizia gerade eine SMS. Kurz warf sie Felix einen misstrauischen Blick zu. Sie war geübt darin, Botschaften zu schreiben, nur fragte sich Felix jedes Mal, ob sie wirklich so viel Mitteilenswertes zu berichten weiß. Er konnte sich gar nicht auf seinen Comic konzentrieren; die ganze Zeit rechnete er damit, dass sie auf die Episode in der Nacht zu sprechen kam. Doch selbst als sie das Handy beiseite legte, schwieg sie: Keine Anschuldigung, nicht einmal eine giftige Bemerkung– als wäre nichts geschehen. Er spürte, dass sie ihn niemals darauf ansprechen würde; dass es ihr genauso unangenehm war wie ihm.

      Im Wohnzimmer, auf dem Tisch und auf dem Boden, lagen immer noch die Überreste der Party– sie wartet wohl darauf, dass ich das wegräume. Es stimmt, Unordnung kann er nicht leiden, weil man dann gar nicht mehr weiß, wohin man noch schauen soll. Seine Schwester hat damit keine Probleme. Das ruft auch Frau Armbruster immer: JA, DU HAST DAMIT KEINE PROBLEME! und dann wirft sie alles, was im Wohnzimmer herumliegt, in einen Korb, den sie vor der