Andreas Nolte

Im Sommer, wenn niemand bleibt


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      „Nix“, entgegnete sie.

      Nach einiger Zeit spürte er ihren Blick auf sich, obwohl er nicht von seinem Heft aufschaute. Er fragte sich, wie das sein kann: Lesen und gleichzeitig ihren Blick spüren? Kann man etwa mit der Haut sehen? Ihm war unbehaglich, schließlich schaute er auf: Mitnichten blickte ihn seine Schwester an, ihre Aufmerksamkeit galt ganz dem Lifestyle-Magazin. Später sagte sie in den Raum hinein: „Wie fändest du`s, wenn du ein paar Tage das Haus für dich hättest?“

      Felix begriff nicht sofort die Tragweite ihrer Äußerung. Zuerst dachte er, sie stellt ihm nur eine hypothetische Frage. Als er aufschaute, bemerkte er, dass sie auf eine Antwort wartete. „Meinst du mich?“ fragte er.

      „Ist hier sonst noch jemand?!“

      „Willst du etwa verreisen?“

      „Meine Freunde hatten die Idee, ein paar Tage nach Frankreich ans Meer zu fahren.“

      „Ah so“, sagte er.

      „Wie: Ah so?“

      „Und du willst da mitfahren.“

      „Ja natürlich!“ Sie tat verwundert.

      „Und jetzt bittest du mich um Erlaubnis.“

      „Wie: Erlaubnis? Du hast mir gar nix zu verbieten!“

      „Solltest du nicht auf mich aufpassen?“ Felix war klar, dass diese Frage verfänglich war: Er wollte natürlich nicht, dass sie auf ihn aufpasst; andererseits– Ganz allein hier im Haus?– Und womöglich hat seine Schwester einen Aufpasser nötiger.

      „Na, bist du denn noch ein Baby?“ fragte sie zurück.

      „Fährt dieser Carlos mit?“

      „Ich kann schon allein auf mich aufpassen, wenn du das meinst“, erwiderte sie.

      „Ist er dein Freund?“ Er merkte, dass seine Frage sie verlegen machte. „Ja, kann man so sagen“, antwortete sie.

      „Also, er kommt auch mit?“

      „Ja.“ Noch einmal lächelte sie, und Felix freute sich über das Vertrauen seiner Schwester.

      „Fahrt ihr auf seinem Motorrad?“

      „Er hat kein Motorrad. Außerdem kommen noch zwei andere Freunde mit. Du weißt: Die beiden, die mit Carlos zusammen gekommen sind.“

      „Ach, die siamesischen Zwillinge.“

      Patrizia lachte. Auch noch, als er fragte, wie sie denn nach Frankreich kommen wollten. Sie fing an, die Überreste der Party wegzuräumen. Als sie fast in der Küche war, rief sie ihm zu: „Wir werden unseren Wagen nehmen.“

      „Etwa Papas Auto?!“

      „Ja welchen sonst? Mamas ist zu klein.“

      Am Ende würden seine Eltern ihn fragen, wieso er das nicht verhindert hatte. „Das darfst du aber bestimmt nicht!“ rief er ihr hinterher.

      Sie klapperte in der Küche mit dem Geschirr. Sie versorgte es sehr ausführlich, zumindest dauerte es eine Weile, bis sie zurückkam. Beim Tischabwischen sagte sie: „Wir wollten heute Abend so um sieben losfahren.“

      „Was, so schnell?“

      „Aber du bist ja kein Baby mehr.“

      Felix fand die Bemerkung hinterhältig. „Ich muss es mir noch überlegen“, entgegnete er.

      „Überlegen, überlegen! Was gibt`s denn da noch zu überlegen?!“ Sie ging wieder in die Küche. Nachdem sie fertig aufgeräumt hatte, ließ sie sich in Herrn Armbrusters Sessel fallen und blätterte durch ihr Magazin.

      „Musst du nicht packen?“ fragte er. Felix begann, sich mit dem Gedanken anzufreunden, seine launische Schwester für ein paar Tage loszusein.

      „Muss nicht viel“, entgegnete sie ohne aufzuschauen. Sie war wieder so missmutig wie am ersten Nachmittag, als sie sich alleine betrunken hatte.

      „Willst du überhaupt weg?“ fragte er, und auf einmal giftete sie: „Was meinst du wohl, wie froh ich bin, dich und dieses spießige Haus und alles hier nicht mehr sehen zu müssen!“

      Felix kannte diese plötzlichen Aufwallungen Patrizias. DAS IST DIE PUBERTÄT, sagt seine Mutter immer. Felix bezweifelte das mittlerweile, sie würde immer so sein.

      „Du wirst denen ja nichts davon erzählen“, sagte sie.

      „Aber wenn sie anrufen, was soll ich ihnen dann sagen?“

      „Die Wahrheit: Dass ich gerade mal mit Freunden aus dem Haus bin, und du nicht weißt, wann ich zurück komme.“

      „Und was sagst du ihnen, wenn sie es doch herauskriegen?“

      „Wie sollen sie es denn herauskriegen? Es sei denn du petzt.“

      „Am Tacho zum Beispiel.“

      Patrizia erschrak, daran hatte sie nicht gedacht– Herr Armbruster kann sehr penibel sein; ihm ist zuzutrauen, dass er sich vor dem Flug den Tachostand notiert hat. Auch Frau Armbruster ist nicht so leicht zu hintergehen: Sie kennt ihre Kinder in- und auswendig, zumindest behauptet sie das. „Du weißt ja“, sagte Felix, „es reicht schon, wenn du etwas sagst– sie merkt es dann am Klang deiner Stimme.“

      „Ha! Da hört sie nur ihr eigenes Echo. In mir ist nix. Ganz leer.“ Sie starrte durch Felix hindurch in den Garten, schließlich ging sie hoch zum Packen.

      Gegen sechs klingelte es. „Kannst du mal aufmachen“, rief sie herunter. Carlos stand in der Tür. Er hatte eine Sonnenbrille auf, die er auch im Haus nicht abnahm. Er gab einige Laute von sich, mit Mühe verstand Felix GUTEN TAG; es könnte auch etwas anderes geheißen haben. Über der Schulter hing eine Tasche, die er an den Riemen festhielt. Er ließ sie im Flur auf den Boden fallen.

      „Wer ist da?“ rief Patrizia herunter.

      „Dein–.“ Felix stockte.

      „Ich bin`s, kann ich hochkommen?“ Carlos wartete ihre Antwort nicht ab. Oben fiel die Tür zu, diesmal schloss Patrizia ab. Felix wäre am liebsten weggegangen, doch er wollte nicht, dass sie ohne Abschied fährt. Im Prinzip hatte er ihrer Reise nicht zugestimmt; nur ließ sich jetzt nichts mehr verhindern, nicht einmal durch Erpressung– in seinem Alter macht man so etwas nicht mehr.

      Weil er nichts Besseres zu tun wusste, goss er die Blumen im Garten. Sie hatten unter der Trockenheit ziemlich gelitten, umso reichlicher flutete er jetzt den Garten. Alle Rohre geöffnet, ließ sich das Terrain binnen kurzem in einen Teich verwandeln; das Wasser versickerte auf dem harten Boden nur langsam. Er beobachtete, wie der Strahl aus dem Schlauch vor der Sonne einen Regenbogen bildete.

      Als seine Schwester herunterkam, war es halb acht. Sie drehte ihm den Hahn ab: „Du sollst keine Überschwemmung verursachen, bist du jeck?!“ Hektisch suchte sie im Wohnzimmer noch ein paar Sachen zusammen.

      „Wie lang bleibt ihr?“

      „Nur ein paar Tage.“ Sie vergaß auch nicht, ihr Magazin einzupacken. Schließlich hatte sie alles beisammen und blieb vor Felix stehen. „Also, du denkst ja dran“– und sie begann, Frau Armbrusters Checkliste abzuspulen. Felix stöhnte: Jaa, Jaaa, JAAA. „...und nicht so viel Schokolade essen“, beendete sie die Ermahnungen. Sie lächelte ihm zu und schlang die Arme um ihn. Bevor sie ihm einen Kuss geben konnte, wand er sich aus der Umarmung. „Ich mach das schon richtig“, sagte er.

      Sie gingen zusammen hinaus, Carlos saß schon im Auto und wartete darauf, dass sie einstieg. „Ich bring dir auch was Schönes mit.“ Patrizia winkte ihm zu und –lächelte noch einmal, sodass Felix dachte, sie kann auch nett sein.

      „Pass auf dich auf!“ rief er hinterher, da fuhren sie schon vom Grundstück auf die Straße.

      Der Abend war lang, das Haus zu still, bis das Telefon klingelte. Seine Mutter war am Apparat. Ihre Stimme klang so klar, als würde sie aus dem Nebenraum