Andreas Nolte

Im Sommer, wenn niemand bleibt


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längeres T-Shirt an, das bis über die Hüfte reichte. Sie redete nicht mehr mit Felix. Er saß auf dem Sofa und las seine Comics, während sie das Wohnzimmer mit Gläsern und Knabbereien für die Party vorbereitete. Manchmal spürte er ihren Blick– es war klar, dass sie ihn lossein wollte, wenn die ersten Freunde kämen, und genauso klar würde er dann noch hier sitzen!

      Sie wurde immer unruhiger, ab sechs begann sie, die Porzellanfiguren der Mutter in den Schrank zu räumen; auch hängte sie einige Bilder von der Wand. Felix fragte: „Willst du nicht noch die Möbel wegräumen?“

      „Sieht das denn nicht alles scheußlich aus hier?! So bieder, das ist ja peinlich!“

      Felix zuckte mit der Schulter: „Es ist ja nicht deine Schuld.“

      „Was sollen meine Freunde denn für einen Eindruck bekommen?!“ Es war das erste Mal, dass sie zu Hause eine Party gab.

      „Wieviel Leute kommen denn?“

      „Ich hab so zehn Bescheid gesagt.“ Sie schloss ihren Laptop an die Stereoanlage und verstaute die Platten von Herrn Armbruster in einem Bananenkarton. „Hilf mir mal“, forderte sie Felix auf. Sie wartete an dem Karton auf ihn.

      „Ich glaub nicht, dass Papa das mag.“ Die Vinylsammlung ist Herr Armbrusters Schatz; immer wenn er eine Platte auflegt, zelebriert er es mit einem Tuch, das er behutsam über die Rillen wischt.

      „Er weiß ja nix davon.“

      „Ah ja?“ erwiderte Felix, worauf ihn seine Schwester argwöhnisch ansah. „Okay“, sagte sie schließlich, „du darfst eine Weile hier unten bleiben. Vorausgesetzt du belästigst meine Freunde nicht mit deinen Ideen.“

      „Was für Ideen?“

      „Na, du weißt schon: Diese komischen Ideen vom Weltuntergang und wie man uns davor bewahren könnte. Komm, jetzt hilf mir tragen.“ Die Platten waren schwer, sie trugen sie in den Keller. Patrizia nahm einen ganzen Korb voller Weinflaschen mit hoch. „Willst du dich heute wieder betrinken?“ fragte Felix.

      „Das ist nur für meine Freunde. Und außerdem geht dich das gar nichts an.“

      „Wann wollten die denn kommen?“

      „Na, so gegen sieben.“

      Es war viertel vor acht, als es das erste Mal klingelte. Ein junger Mann mit gescheiteltem Haar stand in der Tür. Er brachte Blumen mit und war ordentlich gekleidet. Es war aber nicht der Gast, den Patrizia erwartete. „Ah, du bist es, Torsten“, sagte sie mit eisigem Lächeln und wandte sich sofort um. „Nimm doch im Wohnzimmer Platz!“

      Torsten setzte sich aufs Sofa; nur auf eine Ecke, als wolle er gleich wieder aufspringen und davon rennen. Er lächelte Felix unsicher zu. Der nahm seinen Comic, um weiter zu lesen.

      „Willst du was zu trinken?“ rief Patrizia von der Küche aus.

      „Wenn du ein Wasser hättest!“ rief Torsten zurück. Da es in dem Moment erneut klingelte, würde er wohl verdursten müssen; deshalb holte Felix ihm das Wasser.

      Die nächsten Gäste waren viel lauter: Ein Pärchen, das aneinander gewachsen schien und jemand in Lederjacke und Stiefeln, der viel männliche Luft verströmte. Er hatte einen Ring an der Augenbraue, und ein weiterer hing in seiner Lippe. Patrizia begrüßte ihn aufgeregt– auf ihn hat sie also gewartet, die anderen Gäste dienen nur als Vorwand. Dieser Mann sieht nicht so aus, als würde er noch zur Schule gehen; vermutlich hat er draußen vor der Tür ein Motorrad stehen oder so etwas ähnliches.

      Von nun an musste Felix die Tür öffnen, wenn es klingelte, weil Patrizia nicht mehr von der Seite des Mannes wich. Der hieß Carlos, auf dem Sofa nahm er Platz für zwei ein. Seine Hand legte er auf ihren Oberschenkel, als gehöre der ihm. Er nahm die Hand auch nicht weg, als er die ganze Gesellschaft mit seinen Anekdoten unterhielt. Alle lachten, Patrizia am lautesten. Dazu tranken sie viel Wein, seine Schwester natürlich auch. Torsten saß die ganze Zeit still in einer Ecke, nicht weit von Felix. Er wandte den Blick nicht von den anderen Gästen und Felix schien es, als mache sich der junge Mann im Geist Notizen. Er fragte ihn: „Weißt du, weshalb die alle lachen?“

      „Keine Ahnung“, antwortete Torsten, „ich verstehe so groben Humor nicht.“ Eventuell gebe es da auch gar nichts zu verstehen, fuhr er fort, wahrscheinlich läge es am Wein, dass niemandem das auffalle. Torsten trank die ganze Zeit nur sein Wasser. Er fragte, was Felix außer seinen Comics am liebsten liest. Felix musste nicht lange überlegen: „Am liebsten lese ich Zeitschriften über die neuesten technischen Entwicklungen, beziehungsweise die negativen Folgen, die sie haben können.“

      „Du meinst Katastrophen?“

      „Ist dir etwa noch nicht aufgefallen, dass immer weniger Menschen hier in der Stadt leben?“

      „Das liegt an den Ferien“, vermutete Torsten.

      „Das liegt nicht an den Ferien. Ich glaube, dass sie unsere Stadt für immer verlassen haben.“

      „Weshalb sollten sie das tun?“

      „Vielleicht ist es ja wie bei einem Erdbeben“, versuchte Felix zu erklären. „Die Tiere flüchten aus der Gegend lange bevor das Beben kommt. Sie haben einen siebten Sinn dafür. Deshalb spüren sie die Katastrophe, bevor sie eingetreten ist.“

      „Ja, aber weswegen sollten die Menschen dann fliehen? Menschen haben keinen Warnsinn für Erdbeben.“

      „Ich meine ja auch nicht Erdbeben.“ Auf Torstens Frage wusste er nicht sofort eine Antwort. Nach einiger Überlegung sprach er seine Befürchtung aus: „Unser Land wird zur Wüste, und manche Menschen merken das früher. Am Ende muss ich ganz alleine hier bleiben.“ Felix kam das selber versponnen vor. Er war froh, dass Torsten nicht lachte. Der fragte: „Kennst du Kassandra?“ Felix schüttelte den Kopf. Darauf erzählte er ihm von der sagenhaften Seherin, die die Trojer vergeblich davor warnte, das hölzerne Pferd in die belagerte Stadt zu holen. „Kassandra selber wurde versklavt und später ermordet.“ Das sind ja keine guten Aussichten– Felix überlegte sich, dass es wohl klüger wäre zu schweigen.

      Insgesamt waren acht Gäste an diesem Abend gekommen. Bis auf Torsten ähnelten sie sich alle in ihrer Aufmachung. Vermutlich würde es niemandem auffallen, wenn der Erdboden einen der Gäste plötzlich verschluckte, denn ihre Gespräche hätten ebenso gut vom Band laufen können. Für Felix war es offensichtlich, dass sich alle anödeten. Sie bemerkten das nur nicht, weil der Computer dafür sorgte, dass die Musik nicht aufhörte zu spielen. Seine Schwester war damit beschäftigt, Carlos einzuspinnen, während sie ein Glas nach dem anderen trank. „Kannst du mal `ne neue Flasche holen“, forderte sie Felix auf und hielt ihm eine leere hin. Sie hatte schon wieder Schwierigkeiten mit dem Sprechen. Mit Carlos musste sie sowieso nicht mehr viel sprechen, sie waren schon beim Knutschen angelangt. Manchmal knabberte sie an einem seiner Ringe herum. Für Felix war es an der Zeit einzugreifen, damit Patrizia nichts Unüberlegtes machte.

      Er nahm die leeren Flaschen mit in die Küche, wo er eine neue öffnete. Ihren Inhalt verteilte er auf drei Flaschen, füllte sie mit Wasser auf, und als die Farbe blasser wurde, nahm er noch etwas Traubensaft. Er hoffte, dass sie alle schon ausreichend getrunken hatten, dass es ihnen nicht auffiel. Tatsächlich stutzte Patrizia nur kurz, als sie an ihrem Glas nippte. „Der ist aber besonders gut“, sagte sie.

      Auch die anderen tranken klaglos den neuen Wein; auf diese Weise sorgte Felix dafür, dass Patrizias Freunde die Warnungen der Lehrer nicht völlig missachteten. Als am Ende der Computer abstürzte, fiel den Gästen schlagartig die Ödnis dieser Party auf. Der erste stand mühsam auf, um sich zu verabschieden, und als hätten die anderen darauf gewartet, folgten sie ihm. Lediglich die siamesischen Zwillinge waren so mit sich beschäftigt, dass sie den Aufbruch nicht gleich bemerkten und sich beeilen mussten.

      Patrizia störte sich nicht sonderlich an dem plötzlichen Ende– im Gegenteil schien sie ganz froh, nun ungestört mit Carlos zu sein. Der war erstaunlich nüchtern geblieben. Er hatte inzwischen nur noch eine Hand, die andere war irgendwo unter dem T-Shirt seiner Schwester verschwunden. Als er Felix bemerkte, wie der ihm bei der Arbeit zusah, sagte